Hilfe zur Selbsthilfe

Madeleine von Wolff

Mutten

Eine Patenschaft verbindet seit 1959 die Gemeinde Riehen mit Mutten, einer Walser Siedlung auf einer Höhe von 1400 Meter oberhalb Thusis gelegen1). Eine steile, enge und kurvenreiche Strasse führt von Mutten ins Hinterrheintal. Postautokurse, die vom früheren Gemeindepräsidenten gefahren werden, sind das einzige öffentliche Verkehrsmittel. Die neue Strasse von Mutten nach Tiefencastel wird in einem weitgespannten Bogen die Schinschlucht überbrücken und eine bessere Verbindung zwischen Berg und Tal gewährleisten.

Mutten zählte vor 30 Jahren 120 Einwohner, heute sind es nur noch knapp 100. Die Bevölkerung ist überaltert. Junge, initiative Einheimische ziehen weg, da sie in Mutten kein Auskommen und keine Wohnung finden. Es gibt auch wenig Kinder. Die unheilvolle Spirale, die zur Entvölkerung vieler Dörfer führte, beginnt.

Die Muttener sehen dieser Entwicklung nicht tatenlos zu, sondern kämpfen mit Hilfe ihrer Patengemeinde um ihr überleben. Wohin der Einsatz der Muttener zur Erhaltung ihrer Primarschule führte, und welche Schneeballwirkung eine sachgerechte, im richtigen Augenblick getätigte Hilfe auslöste, darf ich am Beispiel der Muttener Primarschule ausführen.

Im Kanton Graubünden dauert die Primarschule sechs Jahre. Gemäss dem bis zum Jahre 1987 geltenden Bündner Schulgesetz wurden nur Primarschulen mit mindestens sieben Schülern geführt. Falls diese Anzahl nicht erreicht wurde, legte man die Primarschulen mehrerer Dörfer zusammen. Dies bedeutete für die sieben- bis zwölfjährigen Schüler, dass sie am Morgen mit einem öffentlichen oder privaten Verkehrsmittel in die Schule fahren, mittags dort bleiben und erst am Abend wieder nach Hause zurückkehren mussten.

 

Die Schliessung der Schule ist nicht nur für die Kinder, sondern auch für die ganze Dorfgemeinschaft ein grosser Verlust. Denn neben dem Wissen und Können, das auch auswärts erworben werden kann, vermittelt jede Schule zahlreiche soziale, gesellschaftliche und kulturelle Kontakte. Sie ist Zentrum des Dorflebens. Am besten zeigt sich bei den jährlichen Schulschlussfeiern, wie die Schule zum Kristallisationspunkt für die Identität eines Dorfes wird.

Im Jahre 1984 gab es in Mutten noch fünf Primarschüler. In Anwendung des damals geltenden Bündner Schulgesetzes teilte deshalb der Bündner Regierungsrat der Gemeinde Mutten mit, er werde ihre Schule schliessen und sämtliche Zahlungen einstellen. In dieser Notsituation wandte sich die Muttener Gemeindebehörde an ihre Patengemeinde mit der Bitte, die entsprechenden Kosten zu übernehmen.

Der Riehener Einwohnerrat stimmte nach gründlicher Abwägung aller Vor- und Nachteile dem Kreditbegehren zu, und damit war die Muttener Schule gerettet. Am gleichen Tag kamen in Mutten auch Zwillinge zur Welt, und ein Blick auf die Schülerstatistik zeigte, dass die Schülerzahl anfangs der neunziger Jahre wieder ansteigen werde.

Der Kampf der Muttener um ihre Primarschule fand im ganzen Kanton Beachtung und gab anderen Berggemein den in derselben Lage Mut, sich für die Erhaltung der eigenen Schule einzusetzen. Nach einigen Jahren änderte der Kanton Graubünden deshalb sein Schulgesetz, so dass jetzt auch Schulen mit kleineren Schülerzahlen weitergeführt werden können.

Die Renovation eines verfallenen Walserhauses im Zentrum von Mutten, das die Gemeinde Riehen mit der «Sophie und Karl Binding Stiftung» instand stellte, war ein weiterer Schritt zur überlebenshilfe. Das renovierte Haus, ein Schmuckstück im Dorfbild, wird von einer von auswärts zugezogenen Familie mit zwei Kindern bewohnt. Dadurch stieg die Einwohnerzahl des Dorfes, und die beiden schulpflichtigen Kinder erhöhen die Schülerzahl.

Neben dieser ausserordentlichen Aktion zur Rettung der Muttener Primarschule unterstützt unsere Gemeinde auch den auswärtigen Schulbesuch der Sekundarschüler mit jährlichen Beiträgen. Riehen bestreitet die Kosten für die Fahrt und die auswärtige Verpflegung.

Regelmässige Zahlungen an den Unterhalt und Ausbau der Strassen und Alpwege sind ein Beitrag zur Verbesserung der Infrastruktur unserer Patengemeinde.

Die Sanierung der Strasse war eine Vorbedingung zum Ausbau des Muttener Alpgebäudes. Die Wohnung für den Senn wurde instand gestellt, die Käserei mit elektrischen Apparaten ausgerüstet und der Stall renoviert und mit einer automatischen Anlage zum Abführen des Mistes versehen. An die Kosten dieser wohlgelungenen Alpsanierung leistete Riehen einen Beitrag von 200 000 Franken. Im Einwohnerrat veranlasste diese Vorlage mehrere Redner zu poetischen Voten, deren eines ich hier anführe:

 

« Auf sanierter Muttner Alp im grünen Gras

Geben die Cbueli mehr Milch und mehr Kas.

S ischt klar, dass dran der Riechemer Götti

eineti kräftigen Bey trag zahlen sötti.»

Die intensive Beziehung zum Patendorf Mutten hinderte den Gemeinderat nicht daran, auch andere Berggemeinden zu unterstützen. So leistete Riehen im Jahre 1984 einen Beitrag an die neue Trinkwasserleitung in Cavaione im Puschlav.

Die Unterstützung einer Berggemeinde kommt nicht allein dem Empfänger zugute, sondern wie jedes Geschenk bereichert sie auch den Geber, erweitert seinen Horizont und ermuntert ihn, einen Blick über die Grenzen des eigenen Dorfes zu werfen.

Einen Ausblick weit über unsere Landesgrenzen hinaus ermöglicht die Patenschaft mit einer rumänischen Stadt.

Miercurea Cine - Csikszereda - Szeklerburg

Wie kommt Riehen zu einer rumänischen Patenstadt? - Im Herbst 1989 wollte Nicolaie Ceausescu, der damalige rumänische Diktator, einen Teil der alten Dörfer des Landes zerstören. Die Bevölkerung wäre umgesiedelt und damit die in Jahrhunderten gewachsenen sozialen Strukturen zerstört worden. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch ganz Europa und löste eine Welle der Sympathie mit den Betroffenen aus. Zur Rettung der vom Untergang bedrohten Dörfer wurden in vielen Ländern Patenschaften errichtet. Auch Riehen bemühte sich um eine solche und erhielt durch Vermittlung des Rates der Gemeinden Europas in Brüssel eine Liste mit verschiedenen rumänischen Gemeinden. Zufällig entschied sich der Gemeindeverwalter für Csikszereda, da diese Gemeinde auf der vorliegenden Liste gleich viel Einwohner aufwies wie Riehen. Dem war aber nicht so.

Und damit möchte ich auf die Problematik einer solchen Patenschaft hinweisen. In Rumänien ist alles anders als man denkt. Es ist ein Vielvölkerstaat mit grossen Minderheitsproblemen, dessen zentrale Strukturen teils zerstört sind, teils im Halbuntergrund weiter existieren (Securitate). Siebenbürgen, wo unsere Patenstadt liegt, gehörte bis nach dem Ersten Weltkrieg zu österreich-Ungarn. 80 Prozent der Bewohner von Csikszereda sprechen ungarisch. Die Stadt zählt 48 000 Einwohner.

Die deutschsprachige Minderheit (Szeklerburg) ist fast ganz verschwunden. Eine kleine armenische Minderheit hat sich in einem kleinen Dorf ausserhalb Csikszereda erhalten. Ein grosses Problem sind die Zigeuner, da sie sich nur schwer anpassen können.

Dem Völkergemisch entsprechend gibt es auch eine Vielzahl von Religionsgemeinschaften: Katholiken, Orthodoxe, Reformierte, Juden und Armenier.

Csikszereda liegt in einem breiten Tal, umschlossen von den Ostkarpaten im Osten und vom Harghita-Gebirge im Westen2). Es ist eine moderne Stadt mit vielen Wohnblöcken und einem grossen, zentralen, quadratischen Platz, an dem als Repräsentationsbau das Kulturhaus prangt. Ein Blick hinter diese Fassade zeigt eine sehr mangelhafte Infrastruktur. Die Strassen weisen Schlaglöcher auf, die Versorgung mit elektrischem Strom ist ungenügend, Trinkwasser fliesst nur stundenweise, die Kanalisation genügt nicht. Dass eine Gelbsuchtepidemie herrschte, erstaunt nicht.

Die Leute auf der Strasse sehen blass und mager aus, ihr Gang ist lustlos, ihre Haltung leicht gebeugt. Vierzig Jahre Zwangsherrschaft haben ihre Spuren in den Menschen hinterlassen, und es ist für sie nicht einfach, sich von diesem Druck zu lösen.

Um so bewundernswerter ist der Elan, mit dem diese ungarisch sprechenden Leute aus Csikszereda ihr kulturelles Erbe hochhalten und bewahren. Die Volksmusik wird in tensiv gepflegt, abends wird zu alten und neuen ungarischen Weisen getanzt. Das Heimatmuseum ist nach modernen Gesichtspunkten aufgebaut und gibt einen guten Uberblick über die bäuerliche Kleinkunst und das Handwerk zu Beginn unseres Jahrhunderts.

In der Primarschule unterrichten die Lehrer in drei Schichten, nämlich von 7 bis 11, 11 bis 15, 15 bis 19 Uhr. Die Schulzimmer sind so einfach eingerichtet wie bei uns vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Schüler arbeiten sehr konzentriert. Wenn Schulbesuch kommt, stehen sie sofort auf. Im Marton Aron Gymnasium, im 17. Jahrhundert von Franziskanern gegründet mit dem Auftrag, den Kindern aus den umliegenden Dörfern eine höhere Bildung zu ermöglichen, werden heute mehr Mädchen als Knaben unterrichtet.

Das Spital von 1200 Betten, auf einer Anhöhe oberhalb Csikszereda gelegen, weist eine Abteilung für Chirurgie, Innere Medizin, Geburtshilfe/Gynäkologie und Kinderheilkunde auf. Seine Infrastruktur ist ganz ungenügend. Es gibt nur eine Stunde täglich warmes Wasser, die Fenster schliessen schlecht, so dass im Winter immer Durchzug besteht und die Patienten mangels genügender Decken frieren. Es fehlt an allem: keine Spritzen, keine Nadeln, wenig Verbandsmaterial, keine Medikamente. Die Apparate für Röntgenaufnahmen und Narkosen sind veraltet. Die Betten einfache Eisengestelle.

Aus politischen Gründen, nämlich um die Bevölkerungszahl zu erhöhen, war jede Frau verpflichtet, fünf Kinder zu gebären. Jegliche Geburtenregelung war strikte verboten. Eine Schwangerschaft durfte auch nicht abgebrochen werden. Die Frauen müssen aus finanziellen Gründen alle arbeiten und ihr Gesundheitszustand ist schlecht. Sie können ihre Kinder deshalb nur selten stillen und die Neugeborenensterblichkeit ist sehr hoch, erscheint aber in keiner Statistik, da in Rumänien ein Neugeborenes erst im Alter von vier Wochen angemeldet wird. Es gibt sehr viele Frühgeburten, die in den Spitälern mit Bluttransfusionen behandelt werden, die zum Teil mit Aids-Viren verunreinigt waren. Dies erklärt die grosse Zahl von aidskranken Kindern, die unter unmenschlichen Bedingungen dahinvegetieren.

Auf der Geburtshilfe-Abteilung gibt es auch viele Infektionen, da die Instrumente schlecht sterilisiert werden können. Mütter, die mit ihren Kindern zusammen im Spital sind, essen mit Patienten im gemeinsamen grossen Speisesaal und werden dort angesteckt.

Auf der Kinderabteilung sieht man Krankheitsbilder, die hierzulande seit Jahrzehnten verschwunden sind, zum Beispiel akuten Gelenkrheumatismus nach unbehandeltem Scharlach. Besonders beeindruckend war die Säuglingsabteilung. Die Säuglinge liegen zum grossen Teil apathisch in ihren Gitterbetten, bewegen sich kaum und blicken mit grossen, erstaunten Augen ins Leere. Sie weisen schwere Spitalschäden auf und sind wegen ungenügender Betreuung in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Dass viele schwere, chronische Ernährungsstörungen und Komplikationen von Mittelohrentzündungen die Regel sind, erstaunt nicht.

Ein Besuch im Altersheim in einem armenischen Dorf ausserhalb Csikszereda versetzte die Riehener Delegation unversehens in die Gründungszeit des Landpfrundhauses zurück. Die Alten, 120 an der Zahl, wohnen nach Geschlechtern getrennt in kleinen, einfachen Häusern ohne Wasser und sanitäre Einrichtungen. In den sauber aufgeräumten Zimmern stehen acht bis zehn Eisenbetten mit kleinen Nachttischen. Eine Mulde am Boden des zentralen Badehauses dient als Badewanne. Das heisse Wasser wird in Bottichen bereitgestellt. Beim Eintritt müssen die Neuankommenden sich einer gründlichen Reinigung unterziehen und ihre gesamte Wäsche zur Desinfektion abgeben. Diese hygienische Massnahme verhindert das Auftreten von Seuchen, erklärt uns die zierliche ärztin, die das Haus führt und selber ebenso ärmlich gekleidet ist wie ihre Schützlinge. Die Stimmung war trotz des sonnigen Herbstwetters gedrückt.

Angesichts des allgemeinen Elendes entschloss sich der Gemeinderat, für seine Hilfe Schwerpunkte zu setzen und dies im Bereich des Gesundheitswesens. Wegen der drückenden materiellen Not sind direkte Hilfeleistungen zunächst angebracht, es soll aber möglichst rasch das Prinzip der «Hilfe zur Selbsthilfe» verwirklicht werden. Im Spitalbereich ist ein Aufenthalt von ärzten aus Csikszereda zur Weiterbildung im Gemeindespital vorgesehen. Dies entspricht auch dem Wunsch der Rumänen nach persönlichem Kontakt und kulturellem Austausch.

Ganz umwerfend ist die Gastfreundschaft der mit materiellen Gütern schlecht versorgten Leute. Die Riehener Delegation, die drei Tage in Csikszereda weilte, war jeden Mittag und Abend zum Essen eingeladen. In einem kleinen Raum war jeweils ein Tisch für zehn bis vierzehn Personen gedeckt, selbstverständlich immer mit einem blütenweissen Tischtuch. Es gab meistens Krautwickel, die herrlich schmeckten und eine stundenlange Zubereitung erfordern. Die Frauen mussten einen freien Tag nehmen, um den Einkauf zu besorgen, da die Regale der Lebensmittelgeschäfte meist leer sind und zeitraubendes Anstehen die Regel ist.

Der dreitägige Aufenthalt der Riehener Delegation in Csikszereda stimmte uns verwöhnte Schweizer sehr nachdenklich. Ein Reiseteilnehmer fasste seine Eindrücke kurz und bündig wie folgt zusammen: «Wir haben ihnen das Material gebracht, und sie haben uns die Seele gegeben.»

Anmerkungen

1 ) Zur Riehener Patenschaft für Mutten siehe auch Rudolf Schmid: «Riehen hilft einer Berggemeinde», R] 1966, S. 87-90, und Heidy Hunger: «Muttener Schüler auf Reisen», RJ 1973, S. 31 f.

2) Die Eindrücke aus Rumänien wurden während der Begleitung eines Transports von 35 Tonnen Hilfsgütern der Gemeinde Riehen im Herbst 1990 gewonnen.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1991

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