Ich weiss, wem ich diene

Dominik Heitz

Die Sterne blinkten durch den wolkenverhangenen Himmel und ein leichter Wind strich über den Kirchturmgüggel; Riehen durfte sich getrost im Schlaf wiegen, denn der 22. Januar 1993 war in wohlgeordnetem Rahmen verlaufen, und der Gefreite Markus Schenker hätte auf dem Riehener Polizeiposten eigentlich auf eine ruhige Nachtschicht hoffen dürfen, wenn sich die Schicksale der Zeit nach solchen Hoffnungen lenken liessen.

Es war kurz vor halb zwei Uhr nachts: Mit äusserster Genauigkeit schob sich das elektronisch gesteuerte Minuten- und Stundenzeigerpaar über das blaue Zifferblatt am Turm der St. Martinskirche. Im November 1992 war die Mechanik von der Turmuhrenfabrik Jakob Muri erneuert worden, die vor Jahren ihre Anlagen in einem Inserat als «sehr geräuscharm funktionierend, mit grösster Betriebssicherheit, einwandfrei radio- und fernsehentstört» bezeichnete. Seither tat die Turmuhr ihr ewig gleich präzises Werk - auch an diesem Abend.

Doch da geschah das Ungeahnte: Als der Minutenzeiger exakt auf der Sechs und der Stundenzeiger präzise zwischen der Eins und der Zwei zu stehen kam, entfesselte sich ein um diese Zeit noch nie dagewesenes Glockengedröhn, das halb Riehen aus den Betten läutete.

War Feuer ausgebrochen oder die Wiese weit über ihre Ufer getreten? Sofort griff der Gefreite Schenker zum Telefon und wählte die eine Nummer: jene von Werner Junck. Der hatte die Ursache des «Fehlalarms» bald erkannt: Kurzschluss - damals in der Annonce der Firma Muri wohlweislich ausgeklammert.

Doch wie kommt es, dass sich der Gefreite Schenker ausgerechnet an Werner Junck wandte? Gehört dieser zum Notfalldienst, ist er Feuerwehrmann oder Glokkenspezialist?

Nichts von alledem und vielleicht bisweilen doch nicht gar so weit davon entfernt: Werner Junck ist Sigrist zu St. Martin. Seit dem 1. Januar 1991 versieht er diesen vollamtlichen Posten als Nachfolger von Georg Nikiaus. Es war Pfarrer Paul Jungi, der ihn zur Dorfkirche holte, nachdem er schon Jahre zuvor ab und zu seinen Vater Fritz Jungck am selben Ort in dieser Funktion vertreten hatte. Es scheint sich damit in seinem Leben eine ähnliche Wende vollzogen zu haben, wie sie seinem Vater Fritz widerfahren war. Dieser hatte jahrzehntelang an der Baselstrasse 1 selbständig auf dem Beruf des Sattlers und Tapezierers gearbeit, bevor er halbamtlich - und später vollamtlich von 1956 bis 1969 - das Sigristenamt in der Dorfkirche versah. Nur ging bei Fritz Jungck das eigene Geschäft wegen des Sigristenberufs letztlich «kaputt», wie Werner Junck es nennt. Bei ihm war dies nicht der Fall; sein Tapezier- und Dekorateurgeschäft hat sein Sohn Thomas übernommen.

Bis dahin jedoch hatte sich sein Leben zeitweise sehr wechselhaft abgespielt. Geboren am 11. Juli 1932 in Riehen, wuchs Werner Junck an der Baselstrasse 1 auf, besuchte die Riehener Schulen am Erlensträsschen und an der Burgstrasse und betätigte sich nach dem Schulabschluss für ein Jahr als Ausläufer bei der Bäckerei Hess, um daraufhin seine Ausbildung als Tapezierer sowie Dekorateur zu beginnen und erfolgreich abzuschliessen. Doch nach wenigen Jahren als Tapezierer in verschiedenen Betrieben - mit häufigen Unterbrüchen durch Arbeitslosigkeit - hatte ihm der Beruf eines Tages «ausgehängt». Und so suchte er sein Einkommen zuerst als Milchmann beim ACV und bei der Milchgenossenschaft Riehen, später als Taxifahrer zu verdienen. Erst nach diesen Lehr- und Wanderjahren fand Werner Junck 1959 mit einem eigenen Tapezier- und Dekorateurgeschäft für 32 Jahre zu einer gefestigten Selbständigkeit - nicht zuletzt begründet in einer Familie mit seiner Frau Rita Plüss, die er 1954 geheiratet hatte, sowie den Kindern Thomas, Hanspeter und Franziska.

Alle zehn Sekunden eine Glocke einschalten

Wohl hatte Werner Junck bis Ende 1990 aushilfsweise den Sigristen ersetzt, als er aber Pfarrer Jungi die Zusage zum Sigristenberuf gab, wusste er nicht, was ihn eigentlich alles erwarten sollte: Dass sämtliche Anlässe in der Kirche, wie Hochzeiten, Abdankungen, Gottesdienste, Taufen, Konzerte oder Konfirmationen zu betreuen sind, dass die Kirche geputzt, das Abendmahlsgeschirr gepflegt zu sein hat, dass die Orgel funktionsfähig und der Kirchplatz in Ordnung sein muss, dass die kirchlichen Informationsblätter in Riehen und Bettingen ausgehängt werden müssen, dass einmal in der Woche die Kollekte in allen reformierten Kirchen der beiden baselstädtischen Landgemeinden eingesammelt und auf die Verwaltung an der Rittergasse gebracht werden muss - und dass auch die Funktion des Leichenbegleiters samt Sargversenken bei Erdbestattungen zu versehen ist.

Neben der Kirche fällt auch die Abwarttätigkeit beim Meierhof mit seinen verschiedenen und oft genutzten Räumen ins Gewicht: Apéros, Kinderhütedienst, Altersnachmittage, Vorträge, Bibelabende, Kinderhort, Mütterclub oder vielleicht einmal eine Jahrbuchpräsentation.

Damit wird deutlich, wie sehr sich die Sigristenarbeit verzetteln und zeitlich erstaunliche Ausmasse annehmen kann. Bei einer Hochzeit zum Beispiel ist nicht einfach nur die Kirchentür zu öffnen und zu schliessen; dem zukünftigen Paar sind zuvor die Kirchenräumlichkeiten eingehend zu zeigen, damit es sich auf eine entsprechende Dekoration einstellen kann, wobei der Sigrist - selbstverständlich - behilflich ist. Bei der Trauung selbst ist es Aufgabe des Sigristen, den Abendmahlstisch bereitzustellen, der Braut beim Eintreten den Blumenstrauss abzunehmen sowie - nur bei Hochzeiten und Abdankungen - die Gesangbücher zu verteilen.

Und nicht zu vergessen die vier Glocken der St. Martinskirche; der Sigrist lässt sie zur Hochzeit gestaffelt fünf Minuten lang läuten (bei Gottesdiensten, Konfirmationen und Taufen ertönen sie länger). Zu Fritz Jungcks Zeiten wurden sie noch von Hand mit Seilen in Schwingung gebracht, heute funktioniert das Glockenspiel elektronisch, muss aber von Hand eingeschaltet werden. Nur beim sogenannten «Weltlichen Geläute» - also die Frühglocke, die Mittagsglocke, das Abendläuten und das Einläuten des Sonntags - werden die Glocken automatisch ein- und ausgeschaltet. Dabei hat sich für Werner Junck herausge stellt, dass ein zu schneller Glockenintervall weniger vorteilhaft ist: «Ein Kirchgänger hat mir eines Sonntags gesagt, das Glockenspiel klinge harmonischer, wenn man statt alle acht, alle zehn Sekunden eine Glocke einschalte. Er hat recht gehabt, es klingt wirklich schöner.»

Auch wenn die Dorfkirche keine typische Hochzeitskirche ist, so finden sich hier im Jahr doch durchschnittlich 25 heiratswillige Paare ein, davon stammt etwa die Hälfte aus Riehen. In letzter Zeit haben dank der kürzlich vorgenommenen Renovation die Anmeldungen zugenommen.

Auch unliebsame Kirchgänger

Das alles tönt trotz intensiver Arbeit irgendwie so harmonisch, dass der Eindruck aufkommen kann, die mit der Kirche zusammenhängende Arbeit stehe unter einem ewig friedlichen Stern. Dass aber auch Peinliches oder gar ärgerliches innerhalb der Kirchenmauern seinen unvorhergesehenen Lauf nehmen kann, davon weiss der Sigrist ein paar Müsterchen zu erzählen. Aufgebrochene Opfer Stöcke kamen zu seines Vaters Amtszeiten noch vor; heute bleibt es meist beim Versuch. «Doch es ist schon passiert», so schmunzelt Werner Junck, «dass die falschen Lieder oder die falschen Verse aufgesteckt worden sind. Sollte es einmal vorkommen, dass der Pfarrer nicht rechtzeitig zum Gottesdienst erscheinen würde, so liegt immer eine Notliturgie mit festgelegten Bibelauszügen, Liedern und Gebeten bereit, die ich oder jemand aus dem Publikum vortragen müsste.»

Da kommen Werner Junck, der verpflichtet ist, jeweils während der Gottesdienste in der Kirche anwesend zu sein, aber auch unliebsame Kirchgänger bei Hochzeiten in den Sinn. Es gibt Leute, die vergessen, dass sie in einer Kirche sind, die während der Predigt schamlos plaudern, mit Fotoapparaten und Videogeräten in der ganzen Kirche umherlaufen und so den Gottesdienst beinahe zu einem Stammtischhock degradieren.

«Stellen Sie sich vor», so Junck, «da habe ich auch einmal einen Herrn erwischt, der während einer Hochzeit einen brennenden Stumpen im Mund hatte; den habe ich mit der Zigarre gleich hinausgeschickt.»

Ein anderes, denkwürdiges Erlebnis kommt seiner ihn hilfreich unterstützenden Frau in den Sinn: «Einmal wurden einem Brautpaar beim Kirchenausgang Teigwaren als glückbringendes Zeichen zugeworfen. Als es kurz darauf zu schneien anfing, gingen nun all die Mäschli und Hörnli in der Nässe auf und verklebten den Boden. Das war eine schöne Bescherung - bis wir das wieder weg hatten!»

Mehr als nur ein Job

Unlängst hat der kantonale Kirchenrat unter dem Druck von Sparmassnahmen beschlossen, Stellen abzubauen auch im Sigristenbereich. So reduzierte man in der Kornfeldkirche die Sigristenstelle von 100 auf 50 Prozent, und in Bettingen wurde die Teilzeitstelle gleich ganz aufgehoben. Das heisst für Werner Junck seit neustem, dass er neben St. Martin auch das Bettinger Kirchlein zu betreuen hat. All das liesse sich einigermassen unter einen Hut bringen. Doch in diesem Jahr ging es gar Strub zu und her. Der Grund: die Renovation der Dorfkirche; sie nahm den Sigristen sehr in Anspruch. Nicht zu sprechen davon, dass er zum Abschluss der Renovation zusammen mit dem Kirchlichen Arbeitskreis Riehen Dorf ein umfangreiches Kirchenfest auf die Beine gestellt hat und dafür sorgte, dass auch die Riehener Vereine daran mitwirkten.

Unter seiner Entschlusskraft ist es übrigens auch zur Selbstverständlichkeit geworden, dass die Dorfkirche St. Martin wieder täglich von acht bis 18 Uhr geöffnet ist. Zudem hat er es sich zur Aufgabe gemacht, bei den Gottesdiensten vor der Türe zu stehen und die Kirchgänger zu begrüssen.

Die Freizeit, die dem Dorfkirchen-Sigristen bleibt, nutzt er zusammen mit seiner Frau für Spaziergänge ins Baselbiet. Und auch in den Ferien ist der Wanderschuh ihr häufigster Begleiter. Daneben spielt Werner Junck - wie zuvor schon sein Vater - im Posaunenchor des CVJM die Posaune, wenn er dazu kommt. Denn da er normalerweise über das Wochenende arbeitet, bleibt ihm nur der Dienstag als zugestandener freier Tag; wenn da nicht die unzähligen Ausnahmen wären. «Die sechs Wochen Ferien klappen besser als der Einzug des freien Tages.»

Eigentlich gilt für den Sigristen die 42-Stunden-Woche, tatsächlich kommt Werner Junck aber im Durchschnitt auf zwischen 50 und 55 Stunden. Doch er denkt nicht nur an die Arbeit: «Ich habe den Job nicht wegen des Jobs übernommen, sonst würde ich nicht soviel arbeiten. Ich fühle mich nicht nur angestellt; ich weiss, wem ich diene.»

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1993

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