Im Fischerhus unterwegs

Rosemarie Tramèr-Sallmann, Hans Brunner, Christoph Meister

Neue Aufgaben mit Straffälligen und Strafentlassenen

 

Als die späteren Gründer der «Offenen Tür», Dr. Richard und Rahel Sallmann, in den Jahren 1936 bis 1939 in der Oxfordbewegung vom Glauben ergriffen wurden und in der gleichen Bewegung drei mehrfach vorbestrafte junge Männer kennenlernten, die ihre Freunde wurden, da nahm die Arbeit ihren Anfang! Es eröffnete sich dem Ehepaar Sallmann die bis dahin unbekannte Welt und Not der Gefängnisse, der Gefangenen und Strafentlassenen. In dieser Zeit verfestigte sich in ihnen der innere Ruf, ihr gutsituiertes Leben aufzugeben, um sich, vertrauend auf Gottes Wort, in ein ihnen fremdes Gebiet vorzuwagen. Sie zogen mit ihrer Familie auf den Sonnenhof bei Gelterkinden und lebten von 1941 bis 1953 mit insgesamt über hundert Strafentlassenen zusammen in dieser ersten lebensgemeinschaftlichen Heimstätte. Diese zwölf Jahre wurden für die Gründer zu einem praktischen übungsfeld von unschätzbarem Erfahrungswert in der weitgehend unbekannten Arbeit mit Strafentlassenen. Gab es doch damals weder Sozialarbeiter in den Gefängnissen noch gar eine nachgehende Fürsorge. Uber Strafanstalten wurde nicht gesprochen, Gefangene und Strafentlassene waren weitgehend tabu. Dass da mit einemmal ein Ort war, ein Haus mit einer Gemeinschaft, wo auch das Wort Gottes weitergegeben wurde, und wo in schützender Geborgenheit eine grosse Zahl Strafentlassener Männer einen Weg ins Leben zurückfand, liess manche aufhorchen. Es gingen Impulse aus an Behörden und leitende Personen im Strafwesen, aber auch in die christliche Gemeinde. Im Jahr 1954, als die Familie Sallmann den Sonnenhof aufgab und mit einem erweiterten Freundeskreis in Basel den Verein «Offene Tür» gründete, fand die Arbeit mit Straffälligen schon breiteres Interesse und Unterstützung. 1956 wurde von den engeren Mitarbeitern dieses Vereins ein Haus als übergangsheim für Strafentlassene gemietet und eingerichtet, und schon 1961 konnte, infolge einer regen öffentlichkeitsarbeit und Sammeltätigkeit, das heutige Sonnenheim erworben werden. Das Sonnenheim ist für viele zu einer echten Hilfe geworden. Im Zusammenleben mit andern haben Strafentlassene Freundschaft und Anerkennung finden können, dadurch die eigene Selbstachtung wiedererlangt und so auch wieder die Achtung der Mitwelt.

Die Arbeit der «Offenen Tür» hat sich im Verlauf der Jahre ausgedehnt, neue Dienstzweige sind dazugekommen: ein weitreichender Besuchsdienst in die Gefängnisse, regelmässige Kontakte mit den Angehörigen, die Lohnhofseelsorge. Gleichgeblieben ist die Grundlage des Glaubens, dass für uns alle die Gewissheit gilt, wirkliche Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nur zu erlangen durch Gott in Jesus Christus. Gleichgeblieben ist auch die Not unserer straffälligen Mitmenschen, ja vielleicht hat sie noch zugenommen. Gewachsen ist die allgemeine Hilflosigkeit angesichts der beängstigenden Zunahme der Suchtabhängigen. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich in der «Offenen Tür» die Absicht gefestigt, ein Haus aufzubauen, in dem junge Straffäl lige, vor allem Drogenabhängige, mit Mitarbeitern verbindlich zusammenleben und sich in eine Arbeits-, Glaubens- und Lebensschulung hineinnehmen lassen.

So kam es, dass der Gedanke an ein zweites Haus mit verbindlichen Lebensformen bereits im Vordergrund stand, als der Verein im Frühling 1980 mit Herrn Pfarrer Christoph Meister, der damals auf dem Arxhof tätig war, Gespräche über eine Mitarbeit in der «Offenen Tür» führte. Pfarrer Meister benützte die Einarbeitungszeit im Ubergangshaus «Sonnenheim» in Basel zusammen mit dem Vorstand zur Entwicklung eines Konzeptes und zur Suche nach geeigneten Objekten. So entstand Kontakt zu verschiedenen Hausbesitzern im Umkreis von rund 60 Kilo metern von Basel. Die Angebote waren meist verbunden mit grösseren Umbau- oder Ausbauplänen. Im Dezember 1982 erfuhren wir, dass das Lehrlingsheim im «Fischerhus» in Riehen, welches vom Verein «Freunde des Jungen Mannes» geführt wurde, nicht mehr genügend belegt werden konnte. Bald ergaben sich erste Gespräche mit dem Trägerverein und dem Hausbesitzer. Es zeigte sich rasch, dass das Gebäude zusammen mit den Wohnmöglichkeiten für Mitarbeiter im anliegenden Haus unseren Vorstellungen sehr nahekam. Als das Lehrlingsheim am 30. Juni 1984 schloss, stand ein weitgehend eingerichtetes Heim für die neue Aufgabe zur Verfügung. Mit einem prächtigen Fest halfen verschiedene Gruppierungen aus Riehen und Umgebung mit, das Fischerhus der öffentlichkeit vorzustellen und auf die neue Zweckbestimmung hinzuweisen.

Als Hauptverantwortliche konnten zwei ausgewiesene Fachleute gewonnen werden. Pfarrer Christoph Meister zog nach seinem Theologiestudium im Jahr 1972 in die Arbeitserziehungsanstalt Arxhof, wo er zuerst als Anstaltspfarrer und Hausvater, später als Seelsorger und lebenskundlich-therapeutischer Freizeitgestalter tätig war. Für den Bereich der handwerklichen Tätigkeiten trat Ernst Kipfer im Herbst 1984 in den Dienst des Vereins ein. Er leitete die Schreinerei in den Lehrwerkstätten des Basler Jugendheims als ausgebildeter Schreinermeister und Berufsschullehrer.

Sollte man einem alten Haus, das eine neue Aufgabe erhält, nicht auch einen neuen Namen geben? Diese Frage stellte sich gar nicht, da der alte Name die neue Aufgabe wundervoll erfasst: «Fischerhus»: das Haus der Fischer. Jesus hat Fischersleute berufen als seine ersten Jünger, ganz gewöhnliche Männer, die mit dem Fischfang ihr Leben verdienten. Er nahm sie auf seinen aussergewöhnlichen Weg mit, zog sie in Gottes Pläne hinein, gestaltete sie um, machte aus ihrem Beruf eine Berufung: «Ich will euch zu Menschenfischern machen» (Matth. 4, 19). Solche Jesus-Leute wollen wir Fischerhus-Mitarbeiter sein. Den Weg der Umgestaltung durch Jesus Christus wollen wir gehen. Nur so sind wir brauchbar für unsere Arbeit.

Und das ist die neue Aufgabe des «Fischerhus»: es soll ein Ort sein, wo Menschen herausgefischt werden aus Schuld, Not, Verwundungen und Leere, die sich in ihrem Leben zu Süchten und Kriminalität ausgewachsen haben. Straffällige Menschen sind aus der normalen Gesellschaft Weggeschwemmte oder auch Davongeschwommene. Süchtige Menschen sind Ertrinkende oder auch mutwilligabenteuerliche Schiffbrüchige. Solche Menschen herausfischen, heisst zupacken, liebevoll, aber bestimmt. Wer am Therapieprogramm im «Fischerhus» teilnehmen will, muss sich entscheiden, ob er wirklich leben will, voll und ganz, so wie Gott uns das Leben anbietet. Diese Entscheidung für das Leben hat ihren Preis: die Abkehr vom alten Lebensstil. Das ist nach der Entscheidung harte Arbeit. Mit Jesus Christus ist diese Arbeit in einem tiefen Sinne aussichtsvoll, da der Weg nicht in eine angepasste, gesell schaftliche Randexistenz führt, sondern in christliche Gemeinschaft und Gemeinde, die auf das kommende Reich hinlebt.

Das Konzept christlicher Therapiearbeit, dem das «Fischerhus» sich verpflichtet weiss, ist andernorts in ähnlicher Art schon seit Jahren erprobt worden: z.B. in den «Best-Hope»-Häusern im Kanton Appenzell oder von der Stiftung Santa Catarina in Zürich und in der Toscana. In der übrigen Schweiz wie in Deutschland gibt es eine stattliche Reihe derartiger Werke, die sich in der ACL (Arbeitsgemeinschaft christliche Lebenshilfe) zusammengeschlossen haben. Das «Fischerhus» hat konzeptionell den besonderen Schwerpunkt im Straf- und Massnahmevollzug. Die Not in den Gefängnissen ist gross. Ohne das Evangelium kann diese Not nur äusserlich aufgefangen und behandelt werden. Der Auftrag der «Offenen Tür» war seit jeher mehr: umfassende Leib- und Seelsorge in der Kraft des Geistes Jesu.

Riehen ist ein guter Ort für unsere Arbeit. Viel christliches Erbe ist da, auf dem neues Leben wächst und wachsen kann. Ehemalige Fixer und Straffällige werden für Riehen wie für jede christliche Gemeinde aber auch eine Herausforderung sein. Sie brauchen christliche Nächstenliebe und echte Mitmenschlichkeit. Darüber hinaus sind sie aber auch jene Herausforderung zu neuer Gotteserfahrung, die im Gleichnis vom verlorenen Sohn an den Daheimgebliebenen erging, als sein jüngerer Bruder unerwartet zum gemeinsamen Vater heimkehrte (Lukas 15).

Noch ein kurzes Wort zum Alltag im «Fischerhus», der vom biblischen Heilungsauftrag an Geist, Seele und Leib geprägt ist. Der Tag beginnt und schliesst mit biblischer Besinnung, Gesang und Gebet. Sechs bis sieben Stunden am Tag wird gearbeitet in Schreinerei und Gartenbau. Gemeinschaftsfähigkeit lernen wir im Zusammenarbeiten und Zusammenleben, auch im Spiel, Sport und Gruppengespräch. Nahrung für Leib und Seele gibt es auch im gemeinsamen Essen und in der Seelsorge. Nahrung braucht Zeit zur Verdauung, um Kraft und Wachstum zu geben, das gilt in geistlichen, seelischen und leiblichen Dingen.

Wir danken der Riehener Bevölkerung sehr für die bisherige gute Aufnahme des «neuen Fischerhus» und hoffen, dass Gott diese Beziehung immer mehr zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen vertieft.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1985

zum Jahrbuch 1985