In der Welt zu Hause


Barbara Imobersteg


 

Der Herkunftsort: ein Vermächtnis, eine Herzensangelegenheit – oder keines von beidem? Heimat fühlt sich immer wieder anders an. Zwei Frauen und zwei Männer aus Riehen mit verschiedenen Wurzeln erzählen aus ihrem Leben.


 

Gertrud Lehmann (*1922)


Heimat: das ist der Ort, wo ich geboren bin, wo ich mit meiner Familie gelebt habe und gross geworden bin. Das war in der Oberlausitz, am äussersten Zipfel Deutschlands, an der Grenze zu Tschechien. Dort habe ich gelebt, bis ich einen Menschen kennengelernt habe, der eine andere Heimat hatte …


 

Ich war 17 Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Wir blieben in unserer Ecke lange verschont. Mein Vater und mein Bruder mussten nicht einrücken, weil sie krank waren, aber unsere Freunde mussten an die Front und immer wieder erreichten uns Nachrichten über die Gefallenen. Im Januar 1945 kamen die ersten Vertriebenen aus Schlesien. Wir hatten Angst vor den Russen. Als wir am 5. Mai den Räumungsbefehl erhielten, waren wir vorbereitet. Wie alle anderen machten wir uns mit einem Handwagen auf den Weg, versteckten uns im Wald und wussten nicht, wohin. Am 9. Mai war der Krieg zu Ende und alles war zerstört. Wir kehrten trotzdem zurück. Unser Haus war geplündert und verwüstet – wir räumten auf, wir brachten alles wieder in Ordnung.


 

Dann lernte ich meinen Mann kennen. Er war Schweizer, arbeitete bei uns in der Landwirtschaft und hatte einen guten Riecher für den Tauschhandel. Das war in dieser Zeit überlebenswichtig. Ich dachte überhaupt nicht daran, dass dieser Mann mit seinem Schweizer Pass ein Glücksfall war. Ich war verliebt und bald auch schwanger. Wir heirateten und damit bekam ich einen neuen Heimatort in Nennigkofen, Solothurn.


 

Es war schwer für uns unter den neuen Bedingungen der DDR. Da wir nicht in die Partei eintreten wollten, blieb uns vieles verwehrt. Die Schweizer Botschaft setzte uns in Kenntnis, dass wir den Schweizer Pass verlieren würden, sollten wir uns in irgendeiner Art und Weise politisch engagieren. Wie hätten unsere Kinder aufwachsen sollen in einer solchen Zwickmühle? Wir wanderten aus.


 

Ich verliess meine Heimat. Ich verabschiedete mich mit vielen Tränen, aber ich war mir sicher mit meiner Entscheidung. Am 20. Februar 1951 kamen wir in Basel am Badischen Bahnhof an. Die Bahnhofsmission nahm uns in Empfang. Ein Taxi fuhr mit uns los: «Das isch dr Rhy», sagte der Chauffeur. Wir hatten überhaupt keine Ahnung. Auch mein Mann war in Deutschland aufgewachsen, kannte die Schweiz nicht und sprach sein Leben lang kein Wort ‹Schwyzerdütsch›.


 

Später brachten sie uns zum Schweizer Bahnhof und hies-sen uns auszusteigen bei einem Schlösschen. Das war in Rheinfelden. Im nahe gelegenen Wald war das Flüchtlingslager. Wir bezogen unsere Strohsäcke und eine Decke, die uns nicht genug zu wärmen vermochte, und kamen uns sehr verloren vor.


 

Nennigkofen unterstützte uns mit 50 Franken im Monat. Ich konnte mit den beiden Kindern vorerst bei einer Schwägerin im Tessin leben – etwas eng zu viert in der Zweizimmerwohnung. Aber die Kinder wurden verwöhnt, liebten ihre neuen Zoccoli und sangen Tessiner-Lieder, als hätten sie die schon immer gekannt. Ich selber hatte keine Zeit für Heimweh. Ich war so sehr damit beschäftigt, mich nützlich und bloss nichts falsch zu machen.


 

Nach neun Monaten konnten wir uns in Riehen niederlassen. Es folgte eine Zeit der Provisorien: befristet wohnen und befristet arbeiten. Wir nahmen jede Arbeit an: putzen, Sporttoto-Scheine auszählen, Kegel aufstellen im Landgasthof, sogar Staubsauger verkaufen – wir machten einfach alles. Dank einer Nachbarin, die von uns Eier bezog – wir versuchten uns auch in der Hühnerhaltung –, erhielt mein Mann nach vielen erfolglosen Bewerbungen schliesslich eine feste Stelle bei der Sandoz.


 

Es waren immer Beziehungen, die uns weiterhalfen. Aber man war uns nicht nur freundlich gesinnt, wir mussten uns manchmal auch den «Sauschwob» anhören. Bei allen Schwierigkeiten – nein, ich hatte nie den ‹Verleider›. Im Gegenteil: Als ich nach zehn Jahren erstmals eine Klassenzusammenkunft in meiner Heimatstadt besuchte, schwärmte ich denen was vor von der Schweiz.


 

Ganz zugehörig fühlte ich mich aber erst, nachdem ich unsere eigene Firma aufgebaut hatte. Mein Mann, der Ideenreiche, konnte die Sandoz überzeugen, dass der Auftrag für die Büro- und Betriebsreinigung nicht an ein fremdes Putzinstitut, sondern an mich gehen sollte. Ich begann mit zehn Angestellten und das Geschäft lief gut, sodass wir es bald vergrössern konnten. Ich habe erst 1999 aufgehört – und bin noch jetzt mit meinen ehemaligen Vorarbeiterinnen befreundet. Die Firma, das war der sichtbare Beweis unserer Leistung: Erst als wir das erreicht hatten, fühlten wir uns richtig zugehörig und zu Hause.


 

Meine alte Heimat bleibt meine Heimat, doch ich weiss: Die Bilder, die ich im Kopf habe, sind die Bilder von damals. Sie hat sich sehr verändert, meine Heimat. Als ich vor fünf Jahren letztmals dort war, fühlte ich mich fremd, ich musste fragen, wo es lang geht. Ich werde nicht mehr hinfahren – denn es ist jetzt auch so, dass ich abends gern daheim bin.


 

Alessandro Akarsel (*1992)


Ich weiss nicht, ob ich die richtige Person für so ein Porträt bin. Ich bin Schweizer, ich bin ja hier geboren und spreche Deutsch. Meine Mutter hat nie Italienisch und mein Vater hat nie Kurdisch mit mir gesprochen. Ich nehme an, meine Eltern befürchteten, dass ich sonst Probleme mit dem Deutsch bekommen könnte. Das ist schade, es wäre natürlich schön, mehrere Sprachen zu sprechen.


 

Andererseits war Deutsch immer mein bestes Fach. Schon mein italienischer Grossvater, der mit 17 Jahren von Napoli in die Schweiz kam, legte grossen Wert auf die Sprache. Meine Grosseltern sprechen beide gut Deutsch und sind super integriert. Allerdings hatten sie – wie alle diese Einwanderer – jahrelang damit gerechnet, in ihre Heimat zurückzukehren.


 

Bei meinem Vater ist das anders. Auch er kam als junger Mann hierher. Aber in dem kleinen Bauerndorf, wo er herkommt, gab es keine Zukunft. Und seine Familie wurde in der Türkei politisch verfolgt. Ich weiss nicht so viel darüber. Mein Vater wollte uns da immer raushalten. Von seinen sieben Geschwistern lebt nur noch eine Schwester in der alten Heimat, die anderen sind in Schweden, Dänemark, Deutschland und in der Schweiz. Sie sind zum Teil ganz anders als mein Vater.


 

Ich habe von Anfang an mitbekommen, dass das individuell ist, wie man sich in einem neuen Land einlebt und wie man mit den alten Traditionen und Werten umgeht. Mein Vater war jedenfalls immer ganz locker. Wir sind zum Beispiel katholisch aufgewachsen. Mein Vater sagte zu meiner Mutter: «Es gibt doch nur den einen Gott, wir können auch katholisch heiraten.» Ich glaube, meine Grosseltern waren zu Beginn nicht eben begeistert, beide Familien nicht. Aber nur, bis sie den kurdischen Schwiegersohn respektive die italienische Schwiegertochter kennengelernt hatten. So ist es doch: Erst wenn man jemanden wirklich kennenlernt, kann man sich eine Meinung machen. Jedenfalls haben sich alle gern bekommen.


 

Als ich sechs Jahre alt war, nahm mich mein Vater erstmals in sein Heimatdorf mit, in eine völlig andere Welt: richtig abgelegen auf dem Land, Plumpsklo, Elektrizität nur stundenweise … Die Leute fragten mich, weshalb ich einen Ohrring trage, dieser Schmuck sei doch für Frauen. Als Kind fand ich es lustig im Dorf. Erst später begriff ich, wie schwierig das Leben dort war. Mein Vater wollte mir genau das zeigen – damit ich das andere schätzen lernte. 


 

Meine Mutter ist eine emanzipierte Frau. Ich finde, manchmal übertreibt sie es ein wenig. Die Sache mit dem Rollenverhalten ist allerdings auch schwierig. Da fühle ich mich manchmal in der Zwickmühle. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass sich meine Schwester in gewissen Clubs aufhält ohne Begleitung, und ich möchte keine Freundin, die schon mit jedem gegangen ist. Aber ich würde meiner Freundin bestimmt nicht verbieten auszugehen. Das sehen manche von uns anders.


 

Ich denke viel darüber nach. In der Schweiz ist es ja auch nicht so weit her mit der Gleichberechtigung. Oder seit wann gibt es hier das Frauenstimmrecht?


 

Mein Bruder ist Kleinkinderzieher. Es gibt Mütter, die bringen schon die Babys ins Tagesheim. Das möchte ich keinesfalls. Meine kleinen Kinder sollen einmal zu Hause sein können. Auch ich könnte bei ihnen bleiben, das ist nicht ausgeschlossen.


 

Ich selber hatte eine sehr schöne Kindheit. Ich bin im ‹Glögglihof› aufgewachsen, unter Kindern aus allen Ländern und Kulturen. Wir sind noch jetzt befreundet – so etwas wünsche ich jedem Kind. Ich habe von allen etwas mitgenommen und kann nun etwas Eigenes daraus machen.


 

Und dann habe ich ja das Kurdische und das Italienische in mir – das finde ich selber interessant. Die beiden Kulturen sind sich nicht unähnlich. Bei meinen Grosseltern geht es zum Beispiel genau gleich zu: Die Grossmütter stehen in der Küche und kochen, und wenn der Grossvater etwas sagt, gibt es keine Widerrede. Die sind einfach so, die ändern sich nicht mehr. Das Italienische, das ist vielleicht mehr das Romantische, die Liebe. Das Kurdische ist etwas härter, da gehört auch der Stolz dazu. Aber ich möchte nicht in eine Schublade gezwängt werden. So etwas regt mich auf! 


 

Ich finde, man muss sich anpassen – anpassen, aber nicht verstellen. An ein kurdisches Hochzeitsfest gehören keine Miniröcke, das ist für mich selbstverständlich. Wir sind eine sehr grosse Familie, da gibt es viele Hochzeiten, manchmal fast jedes Wochenende. Es ist immer dasselbe, aber es hat mir immer gefallen. Wenn mein Bruder und ich heiraten, machen wir wahrscheinlich beides: katholisch in der Kirche und dann ein kurdisches Fest.


 

Aber zuerst kommt mein Studium. Ich bin – ehrlich gesagt – ganz locker durch die Schule spaziert. Jetzt wird es ernst. Ich möchte Psychologie oder Wirtschaftsingenieur studieren. Ich habe hier viele Möglichkeiten und ich möchte sie nutzen.


 

Takako Nagamine (*1950)

Ich beginne mit ‹Kamishibai›. Denn ‹Kamishibai› ist eine Verbindung – eine Verbindung zwischen meiner Heimat in Japan und meiner Heimat in der Schweiz. Ich bin in der Grossstadt Nagoya aufgewachsen. In unserem Viertel gab es einen Tempel mit einem schönen Garten. Dort spielten wir Kinder gern. Wir sind die Babyboom-Generation, wir waren viele Kinder und es war sehr lebendig. Am Nachmittag, gegen vier Uhr, kam der Mann mit dem Fahrrad. Auf dem Gepäckträger hatte er einen Holzkoffer und um den Hals zwei Schlaghölzer. Wer ihn noch nicht gesehen hatte, der hörte ihn sogleich, denn mit den beiden Hölzern erzeugte er einen lauten Klangwirbel, der alles übertönte und bedeutete: Gleich beginnt die Vorstellung. Der Mann klappte den Koffer auf, stellte sich hinter den Deckel und begann zu erzählen. Der Deckel war ein Holzrahmen und bildete die Theaterkulisse. Passend zu seiner Erzählung schob der ‹Kamishibai›-Spieler ein Bild nach dem anderen in den Rahmen. Ich war begeistert. Allerdings konnte ich das Geschehen nur aus meinem Versteck hinter dem Baum mitverfolgen, denn eigentlich verkaufte der Mann Süssigkeiten und mit dem Guckkasten lockte er die Kundschaft an. Ich durfte nichts kaufen – meine Mutter hielt diese Zuckerware für ungesund und sie war so stark gefärbt, dass ich einen allfälligen heimlichen Genuss nicht hätte verbergen können.


 

Mehr als 50 Jahre später kam ‹Kamishibai› in meine Schweizer Heimat, ins Riehener Kellertheater, und weckte bei mir Kindheitserinnerungen. Jetzt verwende ich ‹Kamishibai› im Unterricht – wir zeichnen und erzählen Geschichten. Ich bin Japanischlehrerin an den Gymnasien Liestal, Münchenstein und Bäumlihof.


 

Ich habe meine japanische Heimat im Alter von 28 Jahren verlassen und bin mit meinem Mann nach Paris gezogen. Meine Lust auf dieses Abenteuer war eindeutig grösser als die Angst davor. Ich hatte in Tokio Internationale Beziehungen, Englische Literatur und Pädagogik studiert und wollte die Welt kennenlernen.


 

Aber in Paris erlitt ich dann doch einen Kulturschock. Noch war ich gewohnt, mich nach japanischer Tradition still im Hintergrund zu halten, und nun sollte ich bei allen möglichen Anlässen plötzlich Konversation machen. Das war eine Herausforderung. Ich studierte die Kino-vorschauen und übte Texte ein, um mich auf mögliche Themen vorzubereiten und etwas sagen zu können. Noch viel schwerer fiel es mir aber, unsere beiden kleinen Kinder immer zurückzulassen. Ich konnte sie – anders als in Japan üblich – nicht zu den Einladungen mitnehmen.


 

Aber nach zwei Jahren ging es weiter nach New York. Da war alles viel einfacher: Die Sprache, die sozialen Kontakte und die Kinderbetreuung. Schnell lernte ich viele Leute kennen. Im Laufe der Jahre, drei wurden es schliesslich, merkte ich aber, dass die schnell gewonnenen Freunde einen oft auch schnell wieder vergessen.


 

1983 kamen wir mit unseren drei kleinen Söhnen nach Riehen. Wir wussten nicht, für wie lange. Bei uns war immer alles offen: ob wir bleiben, weiterziehen oder nach Japan zurückkehren. Es war einfach so – mein Mann hatte diese Arbeit und ich hatte diese Offenheit.


 

Ich war auch offen für die Schweiz. Aber ich musste mich natürlich wieder umstellen. So schnell und unkompliziert ich in New York Bekanntschaften geschlossen hatte, so langsam und umständlich ging das hier in der Schweiz vonstatten. Es dauerte seine Zeit, bis mich meine Nachbarin fragte, ob ich bei ihr Deutsch lernen möchte. Sie sagte, dass sie «vielleicht könnte, falls ich wollen würde…» – ein Satz mit vielen Konjunktiven, eine vorsichtige Annäherung, aber zum Schluss ein handfestes und zuverlässiges Angebot. Ich lernte fünf Jahre lang Deutsch bei ihr, machte dann meinen Abschluss an der NSH und studierte in Basel Philosophie und Englische Philologie. 


 

Jetzt habe ich schon mehr Zeit ausserhalb meiner ursprünglichen Heimat verbracht, als ich dort gelebt habe. Wenn ich nach Japan reise, verhalte ich mich japanisch. Ich trete in den Hintergrund, ich gehe hinter meinem Mann und lache nicht öffentlich. Ich kann diese Rolle nach wie vor sehr gut spielen – vor allem im Wissen, dass die Zeit meines Aufenthalts begrenzt ist.


 

Hier, in meiner zweiten Heimat, verhalte ich mich schweizerisch. Ich habe mich mit der hiesigen Direktheit angefreundet, die sehr unjapanisch ist. Ich kann jetzt beides– ich kann es bloss nicht vermischen. Man kann ja nicht gleichzeitig intro- und extrovertiert sein.


 

Deshalb ist es schön, das traditionelle japanische Papiertheater hier zu spielen. ‹Kamishibai› verknüpft die beiden Kulturen, verknüpft auch die Philosophie mit dem Alltag, das Kind, das ich war, mit der Grossmutter, die ich inzwischen bin, und vor allem die eine mit der anderen Heimat – meine beiden Heimaten, die ich halb und halb in meinem Herzen trage.


 

Toprak Yerguz (*1974)


Was ist Heimat? Ich bin noch nicht dahintergekommen. Jedenfalls hat es für mich nichts mit dem Pass zu tun. Ich möchte mich doch nicht auf das Land beschränken, das mir eine Identitätskarte ausgestellt hat. Ich mag überhaupt keine Nationalstaaten, denn sie trennen und entfremden die Menschen, anstatt sie zu vereinen.


 

Ich bin in Ankara geboren, habe drei Jahre in Istanbul gelebt und bin dann in die Schweiz gekommen – nach Genf. Deshalb bin ich aber jetzt nicht halb Türke und halb Schweizer – nein, ich bin beides ganz. Ich bin ein ganzer Türke und ein ganzer Schweizer. Und ich bin glücklich, dass ich beides bin, denn das ist ein Gewinn!


 

An den Wechsel von der Türkei in die Schweiz kann ich mich nicht erinnern, da war ich noch ganz klein. Aber mit sieben Jahren gab es einen grossen Einschnitt in meinem Leben. Mein Vater starb und meine Schweizer Mutter zog mit meinem jüngeren Bruder und mir nach Basel. Sie war selber in Kleinbasel aufgewachsen und hatte meinen türkischen Vater in Paris kennengelernt. Die beiden hatten in Frankreich, in Kanada, in der Türkei und in der Schweiz gelebt. Unsere Familiensprache war französisch. Nach dem Tod meines Vaters boten uns Mutters Geschwister ihre Hilfe an. Meine Tante konnte uns eine Genossenschaftswohnung in Riehen vermitteln und hütete uns Kinder, wenn meine Mutter arbeiten musste.


 

Sie war Kindergärtnerin, meine Mutter. Eigentlich hatte sie eine vielversprechende Stelle in einem anderen Arbeitsgebiet, aber als alleinerziehende Mutter war sie auf möglichst familienkompatible Arbeitszeiten angewiesen. Ich glaube, sie musste damals auf ihre Berufskarriere verzichten. Sie beklagte sich nicht, sie ist der Typ, der sich gut auf eine neue Situation einstellen kann. So sind wir wohl: pragmatisch und eher zuversichtlich.


 

Als ich in der deutschen Schweiz zur Schule gehen musste, verstand ich zuerst nichts. Vermutlich hatte ich einen Schock, ich weiss es nicht mehr. Aber ich erinnere mich an meine Primarlehrerin, Frau Spring, die sich immer Zeit genommen hat für mich, und für diese Spezialbehandlung bin ich noch heute dankbar. Ich glaube, ich war damals der einzige ‹Ausländer› in der Klasse. 


 

Ich liebe Riehen. Ich hatte eine glückliche Kindheit – abgesehen davon, dass ich meinen Vater verlor. Meine Mutter pflegte den Kontakt zu ihrer Schwiegerfamilie weiter. Wir fuhren jeden Sommer in die Türkei, nach Fethiye, wo die halbe Verwandtschaft wohnt.


 

Ich liebe Fethiye. Immer wenn ich hier bin, vermisse ich Fethiye. Allerdings kenne ich nur die Sonnenseite – Ferien, Freunde und in den Tag hinein leben – ich habe noch nie gearbeitet dort. Es ist schön, hier zu sein und diesen Traum zu haben von Fethiye – Fethiye, die Alternative.


 

Ich freute mich auch jedes Mal, nach Riehen zurückzukommen. Ist es die schöne Umgebung oder sind es die Freunde? Ich weiss es nicht – ich weiss noch immer nicht, was Heimat ist. Wenn ich an Dreibrunnen denke – die Kreuzung, der Brunnen an der Ecke – das sind Kindheits-erinnerungen, da komme ich ins Träumen, da ist mir etwas ans Herz gewachsen. Aber ich möchte nichts festhalten. Alles darf und soll sich verändern und neu belebt werden. Es ist doch viel schöner, das Neue zu umarmen, als dem Alten nachzutrauern. 


 

Nach meinem Studienabschluss in Soziologie und Geschichte fuhr ich nach Fethiye. Erst für drei, dann für fünf und schliesslich für sieben Monate. Den Winter über arbeitete ich in der Schweiz auf der Bahnpost. Weshalb bin ich nicht in der Türkei geblieben? Ich stelle mir diese Frage immer wieder.


 

Ich habe inzwischen im Journalismus Fuss gefasst. Ich durfte einfach anfangen, ohne spezielle Vorbildung, und mich in der Praxis bewähren. Erst schrieb ich als freier Mitarbeiter für die ‹Basellandschaftliche Zeitung›. Dann kam diese Anfrage der ‹Riehener Zeitung›. Ich war etwas unsicher, hatte insgeheim von einer etwas grösseren Zeitung geträumt. Aber im Nachhinein kann ich sagen: Das war die beste Entscheidung und ich möchte nicht tauschen mit der ‹New York Times›. Ich liebe Riehen und ich bin glücklich bei der ‹RZ›.


 

Inzwischen wohne ich aber in Kleinbasel. In Riehen leben, arbeiten und über Riehen schreiben, das ist zu viel. Ich brauche auch neue, andere Eindrücke. Aber das ‹Riechemer Blettli› – wir nennen die Zeitung ‹unser Blettli› –, das hat ja auch etwas Heimatliches. Ich würde sagen: Das ist sogar eindeutig heimatlich.


 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2013

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