Ins Licht gerückt – Der Maler Jean Jacques Lüscher (1884–1955)

Dina Epelbaum

Im Herbst 2021 fand im Kunst Raum Riehen eine Retrospektive über den Maler Jean Jacques Lüscher statt. Die Ausstellung ‹Ins Licht gerückt› beleuchtete das vielseitige Werk des zu Lebzeiten über die Region hinaus bekannten Künstlers. Sie rückte nicht nur Lüschers Lebenswerk ins Licht der Aufmerksamkeit, sondern auch ein Kapitel der Basler und Riehener Kunst- und Kulturgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

GROSSBÜRGERLICH UND MUSISCH BEGABT
Jean Jacques Lüscher wird am 4. September 1884 in Basel geboren.1 Er wächst im Haus Schlüsselberg 17 beim Münsterplatz als Zweitältester von sieben Geschwistern in einem grossbürgerlichen, von Kunst und Musik geprägten Milieu auf. Seine Mutter ist Marie Rosalie Burckhardt, die Tochter des Riehener Arztes und Besitzers des Alten Wenkenhofes, Martin Burckhardt-His. Jean Jacques Lüschers Vater, der Bankier Rudolf Lüscher, betreibt das Bankhaus Lüscher am Aeschengraben 16 in Basel.

Jean Jacques besucht das Humanistische Gymnasium am Münsterplatz. Schon früh hegt er den Wunsch nach einer Künstlerausbildung. Der Vater stellt jedoch für den musisch begabten Sohn eine abgeschlossene Matura als Bedingung. Am Gymnasium lernt Jean Jacques seinen lebenslangen Freund, den Maler Karl Dick (1884–1967) kennen. Lüscher gewinnt jährlich den Preis für den besten Zeichner der Schule. Ausserdem ist er ein passionierter Violinist.

Nach der Klassischen Matura mit Griechisch und Latein nimmt er Unterricht in Zeichnen und Modellieren an der Allgemeinen Gewerbeschule bei den Malern Fritz Schider (1846–1907) und Rudolf Löw (1878–1948). Die weitere Ausbildung führt ihn nach München an die private Malschule von Heinrich Knirr (1862–1944). Wie viele seiner Zeitgenossen setzt er seine Ausbildung in Paris fort. Ab 1904 studiert er dort für 15 Monate an der renommierten Académie Julian, gemeinsam mit seinen Basler Malerfreunden Karl Dick, Paul Basilius Barth (1881–1955) und Numa Donzé (1885–1952), mit denen er zeitlebens freundschaftlich verbunden bleibt.

Die Académie Julian nimmt im Gegensatz zur offiziellen École des Beaux-Arts Studierende unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Herkunft auf und ist deshalb bei ausländischen Kunstschaffenden besonders beliebt. Frauen dürfen in separaten Klassen dieselben Kurse wie Männer belegen. Lüscher geniesst das Grossstadtleben, besucht die Museen, interessiert sich für die alten Holländer, die Impressionisten und den französischen Realismus sowie vor allem für die Malerei von Camille Corot, Gustave Courbet, Edouard Manet und Paul Cézanne: «Diese Malerei regte mich stark an, in ihr sah ich den einzig richtigen Weg», schreibt er Jahre später in seiner autobiografischen Schrift ‹Brief an einen jungen Maler›.2

VON PARIS RETOUR NACH RIEHEN
In den Sommermonaten kehrt Jean Jacques regelmässig nach Riehen ins Elternhaus zurück. 1890 hat sein Vater Rudolf das ‹Neue Wettsteinhaus› an der Baselstrasse 30 erworben, ein stattliches Anwesen aus dem 16. Jahrhundert mit Parkanlage.3

Während eines solchen Aufenthaltes im Jahr 1904 malt der 20-jährige Lüscher ein Gemälde seiner Familie, das sich heute im Kunstmuseum Basel befindet. Bereits in diesem Frühwerk zeigt sich Lüschers Vorliebe für mehrfigurige Kompositionen. Das in typisch impressionistischem Stil mit Hell-Dunkel-Akzenten gemalte Bild zeigt Lüschers Eltern Rudolf und Marie am Esstisch, die anderen Figuren, vermutlich die Geschwister des Malers, verteilen sich im Raum, im Hintergrund steht eine Bedienstete. 

Die sieben dargestellten Personen versammeln sich locker um den Esstisch der Familie. Menschen, die sich um einen Tisch gruppieren, sind ein wiederkehrendes Sujet auch auf späteren Gemälden. Während er flächige Partien im Hintergrund verdichtet und die Gesichter der Figuren unscharf belässt, leuchtet Lüscher einzelne Gegenstände aus, setzt raffinierte Farbakzente wie die weisse Tischdecke und das darauf stehende, detailgetreu dargestellte rote Milchkännchen mit den weissen Punkten.

Der Künstler inszeniert hier meisterhaft das vornehme Ambiente seines Elternhauses. Er setzt seine Figuren wiederholt in Beziehung zueinander, sie kommunizieren und agieren miteinander und wirken dadurch lebendig. Wie auf einem Familienfoto wähnt sich der Betrachter oder die Betrachterin als Teil der gestellten Szene.

FAMILIENIDYLLE IN DER PROVENCE UND GRENZDIENST IM JURA
1907 stellt Lüscher zum ersten Mal in einer Gruppenausstellung in der Kunsthalle Basel aus.4 Zwei Jahre später, um 1909, kehrt er endgültig nach Basel zurück. Er verzeichnet erste Erfolge, bezieht ein Atelier in den Baracken des leerstehenden Gotthelfschulhauses. 1911 erfolgt der erste öffentliche Ankauf eines Gemäldes durch das Kunstmuseum Basel.5 In dieser Zeit entstehen grossformatige Kompositionen mit mehreren Figuren sowie stimmungsvolle Interieurs, die zu Lüschers Hauptwerken gehören.

Auch privat folgt eine glückliche Zeit. Im Januar 1912 heiratet er standesgemäss Adèle Simonius (1886–1960), mit der ihn «die Freude am Wandern in freier Natur und die Liebe zur Malerei und Musik schon längst verband».6 Bald folgt die Geburt der Tochter Marie Adèle (1912–1991). Die junge Familie erwirbt ein kleines Landhaus und zieht in die Provence, nach Mas Blanc, südlich von Avignon. Jean Jacques hält in Zeichnungen und Gemälden die Schönheit dieser Landschaften und das Familienglück mit der kleinen Marie fest. Das ganze Glück dieser Tage spiegelt sich in dieser unbeschwerten und sommerlichen – in leuch-tenden Farben impressionistisch gemalten – Komposition mit Haus und Garten. Im Mittelpunkt das Töchterchen Marie, hingetupft in einem hellen Kleid, gehalten von Mama Adèle.7 Auf dem Gemälde steht Papa Jean Jacques vor der Treppe, daneben ein Freund, vielleicht der Maler Ernesto Schiess (1872–1919) oder ein anderer Malerfreund, der die Szene fotografiert.8

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet das Idyll. Die Lüschers kehren 1914 nach Basel zurück und beziehen eine Wohnung an der Holbeinstrasse 85. Im gleichen Jahr kommt der Sohn Hans Jakob (Joggi) (1914–2017) zur Welt, 1917 folgt das dritte Kind Paul Martin (1917–1979). Jean Jacques leistet während des Ersten Weltkriegs Grenzdienst im Jura. Es entstehen Gemälde und Skizzenbücher, die er später für das Soldatenbuch ‹Bataillon 99› zur Verfügung stellt.9 Die Zeichnungen belegen nicht nur Lüschers aussergewöhnliches Talent als Zeichner, sie sind auch wertvolle Zeitdokumente. Lüscher zeichnet das lange Warten, die Langeweile, aber auch gesellige, unproblematische Aspekte des Soldatenlebens. Auch hier gruppiert der kontaktfreudige Maler seine Figuren gerne rund um Tische und im Wirtshaus, so zum Beispiel im Porträt ‹Der Maler Numa Donzé als Soldat› (1917), welches er mit drei anderen Werken 1920 an der Internationalen Biennale von Venedig ausstellen kann.10 

DAS NEUE WETTSTEINHAUS: TREFFPUNKT FÜR KUNST UND KULTUR
1918 lässt sich die junge Familie in Riehen nieder. Jean Jacques erwirbt dank des Geldes seiner vermögenden Frau das Neue Wettsteinhaus von seinem Vater Rudolf Lüscher.11 Das sogenannte ‹Lüscherhaus› mit seinem weitläufigen Garten bleibt fortan Mittelpunkt der Familie. Wegen der schlechten Versorgungslage am Ende des Ersten Weltkriegs werden die Lüschers zu Selbstversorgern, legen im Garten Gemüsebeete an, halten Ziegen und Hühner. In einem ‹Gartenbuch› hält Jean Jacques minutiös die Bewirtschaftung von Haus und Garten fest und dokumentiert die Grundrisse der Beete. 

Im Militärdienst erkrankt Jean Jacques an Tuberkulose und bleibt lange geschwächt. Wegen des milden Klimas zieht die fünfköpfige Familie deshalb 1920 nach Südfrankreich. Sie bewohnt das Château Noir auf der Halbinsel Giens, in der Nähe von Hyères. 1926, als die Tochter Marie in die Töchterschule der Stadt Basel eintritt, kehrt die Familie zurück nach Riehen, verbringt aber weiterhin die Ferien im Süden.

Zwanzig Jahre später nimmt der Maler das Motiv seines Familienbildes von 1904 nochmals auf, jetzt, wo er das Neue Wettsteinhaus mit seiner eigenen Familie bewohnt. Die Protagonisten sind nun Adèle und die eigenen Kinder. Anstelle des Buben in Ritterrüstung steht der kleine Martin mit Violine vor uns. Die Raumaufteilung und die Anordnung der Möbel sind nahezu unverändert, das Licht ist heller, die Szene stärker ausgeleuchtet. Statt des schweren Buffets im Hintergrund prangt das Gemälde ‹Frauenraub› von Lüschers Malerfreund Numa Donzé an der Wand.

Das ‹Lüscherhaus› entwickelt sich in den 1920er-Jahren zu einem beliebten Treffpunkt der Basler Kunst- und Kulturszene. Musik hat in der Familie einen ebenso hohen Stellenwert wie die bildende Kunst. Jean Jacques, den alle liebevoll ‹Schangi› nennen, ist ein virtuoser Geigenspieler, auch Adèle und die Kinder musizieren. Das Leben und der Familienalltag sind wiederkehrende Bildmotive, ebenfalls die gemeinsamen Hauskonzerte mit den weltbekannten Musikern des Busch-Quartetts und dem Pianisten Rudolf Serkin (1903–1991), die 1927 aus Deutschland nach Basel einwandern und 1932 ein Doppelwohnhaus am Schnitterweg 50 in Riehen beziehen. Später emigrieren Adolf Busch (1891–1952) und Serkin in die USA, kehren jedoch in den Wintermonaten regelmässig nach Riehen zurück und wohnen jeweils im Wettsteinhaus bei den Lüschers.12

Im Gemälde ‹Das Buschquartett› treten Gegenstand und Figur zurück zugunsten von rein bildnerisch zusammengefassten Farbflächen in komplementären Rot- und Grüntönen. Farbwahl und Sujet mit Einblick ins private Interieur erinnern an die Kunst der Nabis, denen Lüscher vermutlich an der Académie Julian begegnet ist.13 Lüschers Komposition wirkt hier frei und ausdrucksstark, die Halle mit den runden Fensternischen und den gedrechselten Holzschränken im Wettsteinhaus bleibt dennoch erkennbar.

WO FIGUR IST, DA IST AUCH RAUM, IST ATMOSPHÄRE!
Lüschers Zitat «Wo Figur ist, da ist auch Raum, ist Atmosphäre!» trägt den Schlüssel zum Verständnis seines Werkes, in dem es vor allem um das Zusammenspiel von Figur, Komposition und Raum geht.14 Lüscher setzt seine Figuren oft in Innenräume, bindet sie in ihre Umgebung ein. Helle, farbige Flecken setzen Lichtakzente in schwach beleuchtete Räume, wie im ‹Esszimmer im Wettsteinhaus› (1949), wo eine rot gekleidete Frauenfigur am Tisch vor einem seiner Bilder sitzt (‹Gewitterlandschaft, Riehen›, 1934). Lüscher lenkt den Blick oft auf raumordnende Elemente wie Türen, Fenster oder Gemälde, die wiederum den Blick in dahinter liegende Räume führen. Seine Werke schaffen Bezüge zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, für die sich der Maler zeitlebens interessiert.

Auch der Garten mit Lüschers Atelier im Wechsel der Jahreszeiten ist ein wiederkehrendes Bildsujet. Der Autor und Komponist Peter Mieg (1906–1990) beschreibt diese Atmosphäre in der 1965 publizierten, bisher einzigen Monografie über den Maler: «Haus und Hof entsprachen Lüschers Art, und seine Malerei bleibt mit dem herrschaftlichen, halb ländlichen Sitz aufs engste verbunden. Wer, der die weite niedrige Halle im Erdgeschoss betritt, würde nicht ihre Stimmung in Lüschers Bildern wiederfinden?! Dämmriges Hell-Dunkel herrscht, in das am Ende des Raumes durch ein Fenster grünes Licht des Gartens dringt, ein warm gelbgrünes Licht.»15

ADÈLE LÜSCHER-SIMONIUS ALS MALERIN
Auch Adèle betätigt sich künstlerisch. Einige ihrer Werke werden 2021 in der Ausstellung im Kunst Raum Riehen zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Adèle entstammt ebenfalls einer wohlhabenden Familie aus dem ‹Daig›, der Basler Oberschicht. Ihr Vater, der Wollhändler Paul Simonius, stirbt 1886, kurz vor Adèles Geburt, mit nur 37 Jahren. Dieser tragische Verlust führt dazu, dass Adèle schon als Kleinkind ein riesiges Vermögen vom Vater, den sie nie kennengelernt hat, erbt.16 «Grossbürgerlich wächst sie auf, mit all den Ritualen und Konventionen ihrer Gesellschaftsschicht».17 Noch weniger als über ihre Herkunft ist über ihre (künstlerische) Ausbildung bekannt. «Sie spielt ausgezeichnet Klavier und hat Talent zum Malen. Es wird berichtet, dass sie als junge Frau in Paris war, dort ein Atelier hatte».18 Direkte Belege dafür gibt es keine, allenfalls ist sie in der Zeit dort, als ihr Bruder August um 1910 in Paris studiert, und trifft womöglich auch Jean Jacques, den es immer wieder in die Seine-Stadt zieht. Es ist in Anbetracht ihres sozialen Hintergrundes und ihrer strengen Erziehung eher unwahrscheinlich, dass Adèle als junge Frau ein unabhängiges Leben in Paris geführt hätte.

Jean Jacques porträtiert seine Frau in zahlreichen Gemälden als kräftige brünette Schönheit mit harmonischen Gesichtszügen, gewelltem Haar mit keckem Pagenschnitt.

Adèle selbst malt Szenen aus dem Familienleben direkt auf Holz oder Metall, seien es kleine Tafeln, seien es Kleinmöbel wie Truhen oder Schränke, seien es gewöhnliche Haushaltsgegenstände wie Brotkästen mit glatten Oberflächen, sodass ihren Werken zuweilen etwas Altmeisterliches anhaftet.

Im Unterschied zur Malerei von Jean Jacques findet man bei ihr keine dramatischen Hell-Dunkel-Kontraste. Eines ihrer Gemälde zeigt ihren Ehemann als gesetzten Herrn in Anzug und Krawatte, vertieft in seine Lektüre. Er sitzt im Sessel, neben dem Kachelofen und vor den charakteristischen Rundbogenfenstern im Neuen Wettsteinhaus.

Adèles minutiös gemalte und detailtreue Bildwelt zeugt von einem hohen künstlerischen Anspruch, war aber wohl kaum für ein breites Publikum bestimmt. Ihre auf den ersten Blick naiv wirkenden, gleichzeitig handwerklich solid ausgeführten Gemälde und Kleinmöbel, durchaus verwandt mit folkloristischer Bauernmalerei, erweisen sich Jahrzehnte später als unschätzbare Quelle. Sie geben Einblick in die Wohnkultur der Familie Lüscher und in das gesellschaftliche Netzwerk, das sie pflegte.

Dies dokumentiert das Gemälde ‹Abendgesellschaft› von Adèle Lüscher eindrücklich. Adèle hat nicht nur den grossen Saal im Neuen Wettsteinhaus detailliert wiedergegeben, sondern auch alle Festbesucher und -besucherinnen handschriftlich und auf der Rückseite des Gemäldes benannt. Unter den Gästen erkennt man in der Mitte am Tisch sitzend Jean Jacques und Adèle, dahinter steht Adolf Busch mit Violine. Ebenfalls am gleichen Tisch sitzen der Maler Numa Donzé und leicht vornüber geneigt der Pianist Rudolf Serkin. Auch der kleine Martin Lüscher ist dargestellt, ebenso wie die Malerfreunde Karl Dick und Niklaus Stoecklin (1896–1982), dessen Tochter Noëmi Lüschers Sohn Martin im Jahre 1944 heiraten wird.

In der Bildmitte erkennt man erneut das Gemälde ‹Frauenraub› von Lüschers Freund Numa Donzé.19 Im Unterschied zu Lüscher, der seine Bildthemen und Modelle mehrheitlich seiner Familie und der unmittelbaren Umgebung entnimmt, widmet sich Donzé hier einem klassischen, mythologischen Bildthema – dem Raub der Sabinerinnen – und übersetzt es als monumentale Figurenkomposition. In der ausgeprägten Plastizität der Körper in erdigen, dunklen Farbwerten orientiert sich Donzé am Vorbild Ferdinand Hodlers (1853–1918) und Arnold Böcklins (1827–1901). Lüscher hingegen hat sich zu dieser Zeit schon längst vom Erbe des in der Stadt allgegenwärtigen Böcklin und dessen akademischer Malerei mit historischen und mythologischen Themen entfernt, «dem die Erfindung wichtiger sei als das Studium der Natur».20

JEAN JACQUES LÜSCHER UND DIE DUNKELTONIGE MALEREI
Zusammen mit seinen langjährigen Weggefährten, namentlich Donzé, Dick und Barth, gehört Lüscher ab etwa 1910 zu den Hauptvertretern der Künstlergruppe der ‹dunkeltonigen Maler›. Diese lose Gruppierung, die sich weder durch ein Manifest noch durch eine offizielle Gründung als Gruppe zusammenschloss, war die dritte Generation nach Böcklin, vereint durch ihre Geburt in den 1880er-Jahren.21 Die sogenannten Dunkeltonigen holen den von Lüscher und seinen Malerfreunden in Paris entdeckten und in Basel bislang kaum rezipierten französischen Realismus in die Stadt, sowohl was Maltechnik als auch die geistige Haltung betrifft. Die Maler wenden sich alltäglichen, unspektakulären Motiven und einer Malweise zu, die weniger vom französischen Impressionismus denn vom Realismus eines Edouard Manet oder Gustave Courbet geprägt ist.

Der Kunsthistoriker Georg Schmidt (1896–1965) analysiert die Situation in Basel folgendermassen: «Böcklins Impuls war im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ausgeschöpft. Der damals auftretenden jüngsten Künstlergeneration (Barth, Dick, Donzé, Lüscher) fiel die Aufgabe zu, für Basel den Anschluss an die allgemeine europäische Malerei zu gewinnen. Dabei erfüllte sich an ihnen das merkwürdige Gesetz, dass Entwicklungsstufen nicht übersprungen werden können: Als sich die um 1880 Geborenen, vorbereitet durch den Münchner Realismus, um 1905 nach Paris wandten, konnten sie nicht an das anknüpfen, was damals dort das Problem der Gegenwart war, nicht an Cézanne und die anderen Überwinder des Impressionismus – sie mussten vielmehr zurückgehen bis zu jenen Meistern, die dem Klassizismus als Erste eine neue Malerei entgegen gesetzt hatten: Delacroix, Courbet, Daumier. Mit diesen sind sie 1910 nach Basel gekommen, als revolutionierende Verkünder eines für Basel tatsächlich neuen, des realistischen Kunstbekenntnisses. So ist es gekommen, dass in Basel dunkel und tonig gemalt wurde».22

Lüscher äussert sich nicht zur Einordnung als dunkeltoniger Maler. Er setzt sich, vor allem im Frühwerk, mit der Malerei von Ferdinand Hodler auseinander, dem damals – neben Arnold Böcklin – bekanntesten Schweizer Künstler: «Hodler hatte stark auf mich eingewirkt, wenn auch mehr im Sinne, dass ich es anders machen wollte».23 Im Unterschied zu Hodler will Lüscher seine Figuren «nicht von aussen gesehen, sondern in ihrer Bewegung von innen heraus, zum Leben bringen».24 Ihn interessiert vor allem die Verbindung plastischer Figuren im Raum, wie er in seinen Erinnerungen schreibt: «Mein Rhythmus sollte sich nach der Tiefe hin gliedern, nicht arabeskenhaft auf der Fläche bleiben».25 Ein Beispiel dafür ist ein undatiertes Gemälde aus Familienbesitz. Es zeigt eine Szene in einem belebten Gasthaus. Anhand der Kleidung der Figuren und vor allem der Formen ihrer sommerlichen Hüte hat es Lüscher vermutlich in Südfrankreich gemalt, wo er sich zwischen 1912 und 1914 sowie Anfang der 1920er-Jahre aufhält. Lüscher wählt mehrere Bildebenen. Im Vordergrund erkennt man die Umrisse einer männlichen Figur – eine dunkle Fläche, mehr angedeutet, ohne ausgeführte Details. Daneben sitzt eine Frau im Profil, die linke Schulter hell beschienen durch künstliches Licht. Im Bildhintergrund versammelt sich eine lebhaft gestikulierende Gesellschaft um zwei Tische, wovon der linke durch den Schein einer Lampe stark angeleuchtet wird, was die Szene bühnenhaft erscheinen lässt. Lüscher schafft eine dichte Atmosphäre mittels nuancierter Licht-Kontraste in einer reduzierten, komplementären gelb-blauen Farbpalette, aufgebrochen durch einige helle Akzente. Den dunkeltonigen Realismus setzt er hier auf seine eigenständige Weise um: Ohne Rückgriff auf eine symbolisch überhöhte, ‹arabeskenhafte› Darstellung entsteht ein spannungsvolles Bild.

DIE SITZUNG DER KUNSTKREDITKOMMISSION: EIN KAPITEL BASLER KUNSTGESCHICHTE
1930 entsteht Jean Jacques Lüschers bekanntestes Gemälde ‹Die Sitzung der Kunstkreditkommission›. Diese Komposition mit ihrer dramatischen Beleuchtung, der ausgeprägten Hell-Dunkel-Atmosphäre und den diversen Referenzen an die Kunstgeschichte, insbesondere an die Malerei der alten Niederländer, bildet nicht nur einen künstlerischen Höhepunkt im Schaffen des Malers, sondern ist zugleich ein einzigartiges Bildzeugnis zur Geschichte des 1919 gegründeten Basler Kunstkredits, der viele Generationen von Kunstschaffenden geprägt hat und bis heute prägt. Hier zeigt der Künstler sein ganzes Können als Figurenmaler und Porträtist, indem er die denkwürdige Sitzung festhält, in welcher die Streichung des Kredits zur Debatte steht. Der Maler versucht die Anspannung im Raum ins Bild zu übersetzen: «Jeder wusste: Es geht ums Ganze!».26 Im dunklen Hintergrund ganz rechts stellt er sich selbst dar. Auch Donzé und Stoecklin als weitere Künstlervertreter sind auf dem Bild und lauschen gespannt den Erörterungen des Chefredaktors der Basler Nachrichten, Albert Oeri (1875–1950), in der Bildmitte. Lüscher, selbst Mitglied der städtischen Kunstkommission, regt mehrfach an, ein Gruppenbild in Auftrag zu geben. Rückblickend schreibt er enttäuscht: «Ich hatte gehofft, mit diesem Werk den Basler Malern ein neues interessantes Arbeitsfeld zu erschliessen, das repräsentative Gruppenporträt, das in unserer eigenartigen Stadt mit all ihren Vereinen und Kommissionen sich gut hätte einbürgern können, doch fand das Bild anfangs, gerade bei den Kollegen, nur Ablehnung.»27 Trotz des hohen Anspruchs und der historischen Bedeutung wird die Aufnahme des Gemäldes in die Weihnachtsausstellung 1930 in der Kunsthalle verwehrt: «Stoff und Darstellungsweise lagen ausserhalb der damaligen Zeitströmungen, höre ich dazu sagen».28

IMPRESSIONISTISCHE LANDSCHAFTEN
Nach 1930 entstehen kaum noch mehrfigurige Kompositionen. Lüscher kann nicht mehr an die Erfolge früherer Jahre anknüpfen. Erhält er in den 1920er-Jahren viele Aufträge,29 so beginnt sich das Porträtieren für ihn zu erschöpfen: «Ich fühlte, dass die Kraft des frischen Auffassens nachliess und ich manchmal ins Abmalen verfiel.»30 Der Maler wendet sich in den folgenden Jahren stärker der Landschaft zu, insbesondere der Gegend rund um Riehen: «Merkwürdig – ich musste fast fünfzig Jahre alt werden, um zu erkennen, dass die Gegend, in der ich meine Jugend verbracht habe, eine der schönsten ist, die es überhaupt gibt – und ich habe manche Länder gesehen.»31

Hier entstehen vornehmlich lichte, impressionistische Landschaftsgemälde, wie in ‹Gewitterlandschaft, Riehen› (1934). Diese Sommerlandschaft ist auch als Bild im Bild auf dem Gemälde ‹Esszimmer im Wettsteinhaus› dargestellt. Besonders interessiert sich Lüscher für das Wetter, für den Himmel und die Bewegung der Wolken, die fast die Hälfte des Bildes einnehmen: «Es ist ja nicht das Topographische, es ist der Ausdruck der eigenen Stimmung, den wir in der Landschaft suchen».32 Er arbeitet hier mit grosszügig zusammengefassten hellen Farbflächen in gestischem Pinselduktus, setzt gezielt Farbakzente, Figuren kommen jetzt nur vereinzelt vor. Von der dunkeltonigen Malweise hat er sich vollständig entfernt. «Ein Sehen und Darstellen in grossen, farbigen Licht- und Schattenmas-sen, mit Verzicht auf alles unnötige Detail blieben denn auch charakteristische Merkmale der Malerei Lüschers», schreibt Karl Dick 1955.33

Im Spätwerk des Malers entstehen Landschaften in der Bretagne, wohin er um 1930 verschiedene Reisen unternimmt, und vor allem in Südfrankreich, wo er sich ab 1945 regelmässig in seinem Haus in Villeneuve-lès-Avignon aufhält. 

INS LICHT GERÜCKT
Jean Jacques Lüscher bleibt zeitlebens der sichtbaren, gegenstandsbezogenen Welt verbunden. Eine Annäherung an die Avantgarde und abstrakte Malerei interessiert ihn nie. Dennoch greift die kunsthistorische Festschreibung als ‹dunkeltoniger Maler› etwas kurz und wird den verschiedenen Facetten von Lüschers Malerei nicht gerecht. In seinem Werk sucht er ständig nach dem Zusammenklang von Hell und Dunkel, von Licht und Farbe, von menschlicher Figur und Umraum. Zu seinen malerischen Verdiensten gehören fraglos seine mehrfigurigen Kompositionen. Zudem zeugt seine Malerei vom ausgesprochenen Interesse am Menschen – oder wie er es in seinen Erinnerungen ausdrückt: «Von Jugend an und bis heute interessierte mich vor allem der Mensch in der Verschiedenheit seines Wesens».34

Dieses Interesse findet sich auch in den zahlreichen Selbstbildnissen, die sich über Lüschers Werk verteilen. Auf dem späten Selbstbildnis zum Plakat zur Ausstellung im Kunst Raum Riehen zeigt sich Lüscher ungeschönt mit fragendem, eindringlichem Blick – und nicht in klassischer Künstlerpose vor Staffelei und Palette. Diese Darstellung als ‹Bohémien› mit Zigarette unterscheidet sich vom Blick Adèles auf ihren Ehemann, die ihn mit Anzug und Krawatte in bürgerlichem Habitus porträtiert.

Die dichte Ausstellung im Kunst Raum Riehen präsentierte rund 70 Gemälde, über 50 Zeichnungen, Fotos und Dokumente aus öffentlichen Institutionen und dem weit verstreuten privaten Nachlass der Familie Lüscher. Dank dieser Zusammenführung war es möglich, das heute kaum noch rezipierte Werk des Malers sowie das reiche Netzwerk seiner Familie ins Licht zu rücken. Die letzte und bisher einzige Monografie über Lüscher erschien 1965, zehn Jahre nach seinem Tod. Es bleibt zu hoffen, dass die Ausstellung in Riehen weitere Impulse zur längst verdienten wissenschaftlichen Aufarbeitung von Lüschers Werk gibt. 

1
Getauft ist er auf den Namen Johann Jakob Lüscher. Sein Vorname Jean-Jacques wird meistens ohne Bindestrich geschrieben, gelegentlich finden sich Versionen mit Bindestrich. Ich danke Denise Schmid für
den Hinweis.

2
Jean Jacques Lüscher: Brief an einen jungen Maler, Basel 1945, S. 13.

3
Albin Kaspar et al.: Häuser in Riehen und ihre Bewohner. Heft III, Riehen 2017, S. 143.

4
Sonderausstellung Basler Künstler (C. Burckhardt, P. Burckhardt, R. Löw, P. Altherr,
B. Mangold, J. J. Lüscher, P. B. Barth), 10. März – 14. April 1907.

5
Es handelt sich um die Trommlergruppe der Basler Waisenhausknaben (1911).

6
Karl Dick: Der Maler Jean Jacques Lüscher
1884–1955, in: Jahrbuch z’Rieche, 1962, S. 4.

7
Die kleine Marie wird später Karriere als eine der ersten Chefchirurginnen der Schweiz machen. Denise Schmid: Fräulein Doktor. Das Leben der Chirurgin Marie Lüscher, Zürich 2022, S. 62f.

8
Im Nachlass der Familie Lüscher befindet sich ein kleines Gemälde des Landhauses in Mas Blanc, das Ernesto Schiess zur selben Zeit gemalt hat.

9
Bataillon 99. 1915–1935. Ein Soldatenbuch. Zeichnungen von Kunstmaler J. J. Lüscher, Basel/Riehen, Basel 1935.

10
12. Biennale von Venedig, 15. April bis 31. Oktober 1920. Lüscher wird in einer Gruppenausstellung präsentiert, u.a. zusammen mit Cuno Amiet, Paul Basilius Barth, Max Buri, Augusto Giacometti, Eduard Niethammer, Martha Stettler, Victor Surbek. Auch Ferdinand Hodler ist vertreten und stellt 41 Werke aus. Siehe: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA (Hg.): Biennale Venedig. Die Beteiligung der Schweiz, 1920–2013, Zürich 2013.

11
Grundbuch vom 15. Februar 1918. Jean Jacques und Adèle werden als Miteigentümer eingetragen. Siehe Schmid, Fräulein Doktor,
S. 72.

12
Adolf Busch, in: Gemeinde Lexikon Riehen, www.lexikon-riehen.ch/personen/adolf-busch/, Zugriff: 16.07.2022.

13
Die Nabis (‹Propheten›) waren eine postimpressionistische Künstlergruppe, die sich 1888/89 an der Académie Julian formierte und bis 1905 bestand. Mitglieder waren unter anderen Maurice Denis, Edouard Vuillard, Pierre Bonnard, Félix Vallotton. Die Nabis und ihr Kunstverständnis sehen im Bild «… bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstellt – vor allen Dingen eine plane Fläche, die in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt ist». Siehe Ursula Perucchi-Petri / Claire Frèches-Thory (Hg.): Die Nabis. Propheten der Moderne. Katalog Kunsthaus Zürich, München 1993.

14
Lüscher, Brief, S. 11.

15
Peter Mieg: Der Maler Jean Jacques Lüscher, Neuchâtel 1965.

16
Schmid, Fräulein Doktor, S. 24.

17
Ebd., S. 38.

18
Ebd.

19
Der Kunstmaler Numa Donzé lebte von 1930
bis 1952 bei seiner Schwester Valerie Brunner-Donzé an der Paradiesstrasse 4
in Riehen, wo er auch sein Atelier hatte. In: Gemeinde Lexikon Riehen, www.lexikon-riehen.ch/personen/adolf-busch/, Zugriff: 18.07.2022.

20
Karl Dick: Die Kunst in Basel seit Böcklin. Denkschrift zur Erinnerung an die vor 2000 Jahren erfolgte Gründung der Colonia Raurica 44 v. Chr. – 1957 n. Chr., Olten 1957, S. 245f.

21
Monica Stucky: Basel und sein künstlerisches Umfeld im frühen 20. Jahrhundert, in: Christian Gelhaar / Monica Stucky: Expressionistische Malerei in Basel, Basel 1983, S. 76.

22
Georg Schmidt: «Rot-Blau». Ein Kapitel Basler Kunst, in: Das Werk. Architektur und Kunst 14, 1927 (Heft 2), S. 42–44.

23
Lüscher, Brief, S. 10.

24
Ebd.

25
Ebd.

26
Ebd., S. 16.

27
Ebd., S. 17.

28
Ebd.

29
1923 gewinnt er den Wettbewerb für die Ausmalung des Gemeindesaals Riehen, siehe: Basler Nachrichten, 28. November 1923, Abendblatt: Das Wandbild ‹Ernte› im ‹Lüschersaal› der Alten Kanzlei wird 1924 ausgeführt.

30
Lüscher, Brief, S. 15.

31
Ebd., S. 28/29.

32
Ebd., S. 27.

33
Dick, Maler, S. 1.

34
Lüscher, Brief, S. 12.

Quellen
Bataillon 99. 1915–1935. Ein Soldatenbuch. Zeichnungen von Kunstmaler
J. J. Lüscher, Basel/Riehen, Basel 1935.
Karl Dick: Der Maler Jean Jacques Lüscher 1884–1955, in: Jahrbuch z’Rieche, 1962.
Karl Dick: Die Kunst in Basel seit Böcklin. Denkschrift zur Erinnerung an die vor 2000 Jahren erfolgte Gründung der Colonia Raurica 44 v. Chr. – 1957 n. Chr., Olten 1957, S. 245–271.
Albin Kaspar et al.: Häuser in Riehen und ihre Bewohner. Heft III, Riehen 2017, S. 140–148.
Lucas Lichtenhahn: Johann Jakob Lüscher. 4. September 1884 – 1. Mai 1955, in: Basler Jahrbuch 1956, Basel 1956, S. 187–191.
Jean Jacques Lüscher: Brief an einen jungen Maler, Basel 1945.
Peter Mieg: Der Maler Jean Jacques Lüscher, Neuchâtel 1965.
Denise Schmid: Fräulein Doktor. Das Leben der Chirurgin Marie Lüscher, Zürich 2022.
Georg Schmidt: «Rot-Blau». Ein Kapitel Basler Kunst, in: Das Werk. Architektur und Kunst 14, 1927 (Heft 2), S. 38–56.
Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA (Hg.): Biennale Venedig. Die Beteiligung der Schweiz, 1920–2013, Zürich 2013.
Monica Stucky: Basel und sein künstlerisches Umfeld im frühen 20. Jahrhundert, in: Christian Gelhaar / Monica Stucky: Expressionistische Malerei in Basel, Basel 1983, S. 75–96.

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