Jugendzeit im Oberdorf

Paul Suhr

Ich wurde im Jahre 1910 in Riehen geboren und wohne seit meinem dritten Lebensjahr im Oberdorf. In diesen 83 Jahren habe ich den grossen Wandel miterlebt von der bäuerlichen Dorfstrasse, durch die der offene Aubach floss, bis zum heutigen Quartier mit all den neuen Häusern.

Für uns fing das richtige Oberdorf oberhalb der Bahnlinie an und hörte unten an der Schlossgasse auf, dort wo die Au beginnt. Neben der Oberdorfstrasse gehörten auch die kleinen Gässlein, das Stiftsgässchen, die Sternengasse und das Bückliwegli dazu. Natürlich kannten wir jedes Haus und alle Bewohner, auch die Pfründer im alten Landpfrundhaus, das anschliessend an die Bahnlinie im alten Socingut untergebracht war. Die Linde, die heute noch dort steht, war schon in meiner Jugendzeit genauso gross und schön.

Die Schützengasse - sie hiess damals Streitgasse - war früher nicht durchgehend, sondern hörte beim Brunnen auf, der heute noch vor der Alterssiedlung Dreibrunnen steht. Auch der untere Brunnen vis-à-vis vom Restaurant «Sängerstübli» und der obere Brunnen vor der heutigen Gärtnerei Wenk befanden sich an der gleichen Stelle wie heute. Die drei Brunnen waren wichtig für das Oberdorf, denn viele Leute hatten keinen Wasseranschluss im Haus und mussten Wasser an den öffentlichen Brunnen holen.

Dort wo heute der Verkehr vor der Alterssiedlung Dreibrunnen vorbeirauscht, standen damals zwei kleine Häuschen. Im vorderen, Nummer 31, wohnte in meiner Jugendzeit Jakob Schluep, ein Mitbegründer des Musikvereins, mit seiner grossen Familie. Später nannte man es nach seinen letzten Bewohnern «'s Schärers Hüsli». Im Haus Nummer 29, das etwas versteckt dahinter lag, wohnte Gusti Schmid. Die beiden Häuschen wurden 1970, als die Schützengasse verlängert wurde, abgerissen. Daneben standen der grosse Bauernhof und die Fuhrhalterei von Fritz Karlin mit seinen Scheunen und Ställen. Im hinteren Rossstall wohnten im Winter die «Samel-Hanse», die Brüder Johannes und Wilhelm Wenk, zwei Riehener Originale. Man sagt, sie hätten fünfzig Jahre lang nie in einem Bett geschlafen, sondern im Winter in einer Ecke des Rossstalls, im Sommer aber irgendwo auf einem Brückenwagen, mit einer Pferdedecke zugedeckt.

Gegenüber dem Karlinschen Hof gab es ein paar kleine Häuschen und Scheunen und daneben das «Café Spitz». So nannten wir Buben das Bischoffstift, weil dort viele alte Frauen wohnten; auch meine Grossmutter lebte hier. Es war zwar das grösste Haus im Oberdorf, aber die Einrichtung war recht einfach: die Toiletten befanden sich im Hof hinter dem Haus; dort stand auch das «Buchhus», wo die Bewohnerinnen ihre Wäsche wuschen.

Wir selber wohnten oben an der Sternengasse 3, in einem ganz kleinen Haus. Auch mein Vater war in der Sternengasse aufgewachsen, aber im untersten Haus gegen die Oberdorfstrasse. Unsere Familie stammte ursprünglich aus Rostock in Mecklenburg; der Ururgrossvater hatte am Napoleonfeldzug teilgenommen und kam dann über Muttenz nach Riehen, wo sein Sohn 1822 eingebürgert wurde. Mein Vater war eines von vierzehn Kindern; er erzählte oft, wie er mit drei oder vier seiner Brüder im Estrich schlafen musste, wo im Winter der Wind durch alle Ritzen blies, so dass am Morgen oft Schnee auf den Deckbetten lag. Als er noch ein Bub war, zündete einer seiner Brüder das Haus an, das völlig niederbrannte.

Auch wir waren eine grosse Familie; meine Mutter brachte acht Kinder zur Welt, von denen aber vier früh an Kinderkrankheiten starben. Mein Vater arbeitete bei der Stadtgärtnerei. Neben der Haushaltung half meine Mutter oft auf den Feldern des Diakonissenspitals, die oberhalb unseres Hauses gegen die Sonnenhalde hin lagen. Zusammen mit andern Frauen pflückte sie Bohnen oder Erbsen, manchmal half sie auch beim Jäten. In unserm Häuschen gab es kein Wasser und kein elektrisches Licht; das Wasser mussten wir am Brunnen holen. Während meine Schwestern viel im Haushalt halfen, war ich für unsere beiden Schweine verantwortlich. Die liefen mir nach, wenn ich in den Stall kam, fast wie Hündlein. Ich musste sie füttern, den Stall putzen und auch für Streue sorgen. Dazu ver wendete ich oft getrocknete Kartoffel- oder Erbsenstauden, die ich auf den Feldern des Spitals einsammelte.

Es gab viele Kinder da oben im Oberdorf, und wir hatten stets eine ganze Schar Spielkameraden. Im Gässlein spielten wir Fussball oder Schlagball und mit den Mädchen oft Hüpf- oder Kreisspiele wie etwa «Maria sass auf einem Stein». Unser liebster Tummelplatz aber war der Aubach und das schönste Spiel das «Bachgumpe». Da sprang man mit langen Bohnenstecken von einer Bachseite auf die andere. Einmal, als ich so richtig im Schwung war, brach die Spitze meiner Bohnenstange ab und ich flog im hohen Bogen in den Bach. Auch Forellen fingen wir im Aubach, ganz grosse, und Krebse - es war ein sauberer Bach, der für alles mögliche gebraucht wurde. So stellten etwa im Herbst alle Bauern, die Reben hatten, ihre Fässer in den Bach zum «Verlächne», also zum Verquellen, damit sie dicht wurden, und im Frühling warf man die Leitern, die den Winter über wacklig geworden waren, ebenfalls in den Bach. Wir Oberdörfler waren eine Equipe für uns. Das Verhältnis zum Dorf war aber nicht schlecht. Streit hatten wir höchstens mit den Buben aus dem «Schärbegellert» oder der «Bättelchuchi», wie wir die Lörrachersträssler nannten. Mit diesen kämpften wir oft im Mühligässli, der heutigen Inzlingerstrasse. Aber es gab nur Beulen, nichts Schlimmeres.

Die Nachbarn ringsum kannte man gut die einen hänselte man, vor anderen hatte man Heidenrespekt. Im Haus Nummer 47 wohnten die drei Schwestern Martin. Man sagte ihnen nur «'s Goggäggers», weil sie so kokett waren, aber das hörten sie gar nicht gern. Einmal, als ich noch recht klein war, stachelten mich die älteren Buben an, eine der Schwestern mit «Griezi Fräulein Goggägger» zu begrüssen. Das tat ich auch, worauf «'s Goggäggerli» so wütend wurde, dass sie ihren Schirm auf meinem Kopf zerschlug. Als sie dann gar noch zu meinem Vater ging, um Schadenersatz für den Schirm zu verlangen, wurde sie von diesem recht unsanft zurechtgewiesen.

Gegenüber den «Goggäggers» wohnte in einem ganz kleinen Haus, das direkt am Aubach stand, «'s Hechler Bäbi» (Barbara Hechler). Man nannte sie nur «d'Geissehebamm», denn sie verstand sich sehr gut auf die Pflege von Ziegen. Damals hielten viele Leute im Oberdorf ein paar Geissen, und bei Krankheiten oder Problemen mit diesen Tieren wusste «'s Hechler Bäbi» fast immer Rat.

Hinter der «Geissehebamm», am Stiftsgässchen, wohnte neben dem Nachtwächter Albert Meyer der Waldhüter Emil Meyer. Vor ihm hatten wir Respekt und fast ein wenig Angst, denn er ging recht hart um mit uns Buben, wenn wir im Wald am Holzen waren. Das Holzen war genau reglementiert: Wenn man auf der Gemeinde eine Holzkarte holte, erhielt man die Erlaubnis, im Wald Fallholz und dürre äste aufzusammeln, aber nur bis zu einer gewissen Astdicke. Am Montag war Holztag im Maienbühl, am Mittwoch im Mittelberg und am Samstag im Ausserberg. Wir Buben zogen oft mit dem Handwägeli in den Wald - bis zur Eisernen Hand war das recht weit -, um unsern Holzvorrat aufzufüllen. Wenn der Waldhüter Meyer uns mit einem zu dicken Ast erwischte, wurde er fuchsteufelswild, nahm uns das Holz fort und warf es weg.

Auch «Stümpli Sämi», der Flurbannwart Samuel Stump, und sein Nachfolger Friedrich Kunz waren für uns Buben Respektspersonen. «Stümpli Sämi» wohnte an der Oberdorfstrasse 53, gerade gegenüber dem Eingang zur Sternengasse. Wir Buben gingen natürlich oft den Kirschen-, Birnenund Apfelbäumen nach. Am Tag schauten wir, wo eine Leiter stand, und dort holten wir uns dann in der Nacht ein paar Früchte. Wir fanden das nicht so schlimm, machten auch nichts kaputt, aber der Bammert war da anderer Meinung und lauerte uns oft auf. Einmal war ich mit einem Kollegen bei der Sonnenhalde droben, wo uns ein prächtiger Apfelbaum lockte. Plötzlich sahen wir zwei Schuhspitzen, die aus einem Gebüsch ins Weglein hineinragten, und wussten, dass sich da der Bammert Kunz versteckte. Wir diskutierten laut: «Sollen wir ein paar äpfel holen? - Nein, heute nicht!» und gingen weiter. Doch kaum war der Bammert verschwunden, kehrten wir zurück und holten uns ein paar der schönsten Gravensteiner.

Auch «Stümpli Sämis» Nachbar, der «Brütsch Böpper» (Jakob Brütsch), war Flurbannwart. Sein Haus an der Oberdorfstrasse 57 ist eines der wenigen, die nicht abgebrochen wurden und die heute noch einen Eindruck vom alten Oberdorf vermitteln. Ihm spielten wir einmal einen Streich. Vor seinem Haus stand ein unterkellerter Anbau; durchs Kellerfenster sahen wir, dass dort die schönsten Birnen auf einer Hürde lagen. Ich konnte schleichen wie eine Katze, und während mein Kamerad Wache hielt, schlich ich durchs Kellerfenster und räumte die ganze Hürde ab. Voll Vergnügen malten wir uns aus, was er für ein Gesicht machen wird, wenn er seine Birnen holt.

Man könnte meinen, wir Buben hätten nur Streiche im Kopf gehabt, aber das stimmt nicht: wir mussten auch viel arbeiten. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, fragte der Bauer Emile Vuillamoz-Vögelin, dessen Hof oben an der Oberdorfstrasse lag, meinen Vater, ob ich ihm nicht helfen könne. Von da an war ich jeden Tag bei Vuillamoz; morgens und abends führte ich Milch in die Charmille hinauf, ins Sanatorium, das Professor Alfred Jaquet gehörte. Es war eine strenge Arbeit und der Weg dort hinauf sehr steil, und oft musste ich nachher in die Schule rennen. An Silvester erhielt ich zehn Franken Trinkgeld von Frau Jaquet; als die Frau von Bauer Vuillamoz das hörte, wollte sie mir meinen Lohn vorenthalten. Ich war so wütend, dass ich von dem Tag an keine Milch mehr führte. Aber dem alten Vuillamoz half ich immer wieder, er tat mir leid mit seiner Frau, die ihm kaum das Zeitunglesen gönnte. Ich musste die Kurzfuttermaschine drehen, Durlips hacken, beim Heuen den schweren Schleifrechen nachziehen - ich wurde schwer überfordert, aber ich tat es dem Bauern zuliebe.

In die Schule ging ich gern. Lehrer Eduard Wirz sagte später öfters zu mir: «Du bist ein guter Schüler gewesen, aber <e Lumpechaib>!» Edi Wirz war ein ausgezeichneter Lehrer, der keinen Unterschied machte zwischen armen ■und reichen Schülern. In der Primarschule im Erlensträsschen war das anders: Lehrer Eugen Seiler liess die Arbeiterkinder links liegen.

Nach der Schule machte ich eine Wagnerlehre bei Wagnermeister Max Grosshardt an der Rössligasse. Ich besitze noch heute mein Schulheft aus der Gewerbeschule, wo alle Arbeiten genau beschrieben sind - von der Herstellung einer Leiter oder eines Rades bis zum Bau eines ganzen Wagens. Das Handwerk machte mir Freude, aber als ich ausgelernt hatte, konnte man kaum etwas verdienen auf dem Beruf; es gab damals schon fast keine Wagnerwerkstätten mehr. So arbeitete ich als Maurer bei Theo phil Seckinger auf dem Bau und kam später zur Ciba, wo ich 32 Jahre lang als Wagner in der Schreinerei beschäftigt war. Auch im Militärdienst war ich als Wagner bei der Feldartillerie - wir leisteten monate- und jahrelang Aktivdienst, meist in der Innerschweiz.

Abgesehen von dieser Zeit habe ich immer im Oberdorf gelebt; zusammen mit meiner Frau und unserer Tochter wohnte ich viele Jahre in meinem Elternhäuschen an der Sternengasse. Ich war in den Riehener Vereinen zu Hause: im Fussballclub Amicitia, den ich seinerzeit mitbegründete, und vor allem im Musikverein Riehen, wo ich 63 Jahre lang Trompete und Horn spielte. Heute wohne ich in der Alterssiedlung Dreibrunnen, dort, wo einst Fritzi Karlins Bauernhof stand und die «Samel-Hanse» im Rossstall übernachteten. Und wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich das alte Oberdorf wieder vor mir, so wie es war in meiner Jugendzeit.

Anmerkung

Aufgrund von Tonbandaufnahmen und mündlichen Erzählungen von Paul Suhr aufgezeichnet durch Lukrezia Seiler-Spiess

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1996

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