Krieg im Kinderzimmer


Claudia Glass, Julia Nothelfer


 

100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde dieser zum Gegenstand zahlreicher Ausstellungen und Publikationen in verschiedenen Ländern. Das Spielzeugmuseum Riehen griff wenig bekannte Aspekte des Themas ‹Spielzeug und Krieg› auf und präsentierte dazu die sehenswerte Ausstellung ‹Krieg im Kinderzimmer – spielen kämpfen träumen›.


 

Ich denk, wir spielen Krieg!


Sprach die Flieg.


So?


Sprach der Floh.


Mir ist es recht!


Sprach der Hecht.


Weil ich davon was hab!


Sprach der Rab.


[…]


Der Friede ist mir lieber!


Sprach der Biber.


Nein!


Sprach das Schwein.


Der Krieg ist gesund!


Sprach der Hund.


Fürs Militär!


Sprach der Bär.1


 

So spiegelt Leopold Jacoby, Lyriker und politischer Beobachter, die kontroverse Sichtweise auf den Krieg um die Jahrhundertwende. Vor 100 Jahren brach in Europa der ‹Grosse Krieg› aus. Was mit einer unvergleichlichen Euphorie begann, endete in einer absoluten Desillusionierung. 


 

Die Schweiz hat weder am Ersten noch am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Die Bevölkerung war aber von den Kriegen gleichwohl betroffen. Die Menschen erfuhren eine mentale und materielle Aufrüstung und erlebten, insbesondere in Grenznähe, die Ereignisse in den benachbarten Kriegsländern unmittelbar. Die Grenze, die eine sichere Linie der politischen Souveränität definiert, wurde auf Strassen oder in der Natur zur Gefahrenzone. Eine bisher alltägliche Handlung wie der Grenzübertritt, der bis 1914 ohne Papiere möglich war, bekam eine neue Bedeutung.


 

In Riehen, in Sicht- und Hörweite zu Deutschland und nahe bei Frankreich, spürten Kinder und Erwachsene den Krieg deutlich. 1918 waren hier über 3000 Soldaten untergebracht. Der Lebensmittel- und Kohleverbrauch wurde kontrolliert. Mit Angst und wohl auch ein bisschen Neugier horchte und sah die Bevölkerung in die angrenzenden Länder, nie wissend, ob und wie sich das Kriegsgeschehen ausbreiten würde. Zeichnungen wie diejenigen von Paul Leonhard Ganz (1910–1976) bezeugen eindrücklich, wie Kinder dieser Realität mit ihrer Phantasie begegneten und sie zu verarbeiten suchten. 


 

Kriegerisches Spiel und Spielzeug


Ob Schach, Schaukelpferd oder das verhältnismässig junge ‹Mensch ärgere dich nicht› – viele traditionelle Spiele haben einen kriegsaffinen Hintergrund, den die Spielerinnen und Spieler längst nicht mehr wahrnehmen. Die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat ihre Zahl beträchtlich erhöht. 


 

Als am Ende der Belle Epoque Wissenschaft, technischer Fortschritt und industrielle Produktion einen neuen Höhepunkt erreichten, nutzte das Militär – und in ihrem Gefolge die Spielzeugindustrie – diese Innovationen: Der Rüstungswettlauf entbrannte, auch im Kinderzimmer. Zeppeline und U-Boote ‹en miniature› steigerten die Faszination der Kinder für Technik und beflügelten ihre Phantasie. Bis heute erobern sie mit Flugzeugen den Himmel, mit Dampfern die Meere und brechen auf und aus, um neue Welten zu entdecken.


 

Das Spiel ermöglicht Kindern, in andere Rollen zu schlüpfen und diese auszuprobieren. Damit bereiten sie sich unter anderem auf gesellschaftliche Aufgaben vor. Als Ritter, Indianer oder Piratin entdecken Kinder neue Kontinente, erobern Königreiche und führen ganze Stämme an. In diesen So-tun-als-ob-Spielen vermischt sich kindliches Wissen mit Phantasie. Alltägliche Erfahrungen von Freud und Leid, Macht und Ohnmacht werden mit bekannten Geschichten verknüpft, mit Märchen, Sagen, Fernseh- und Bilderbuchgestalten. Dabei ist das Kind Einzelkämpfer, Bandenanführer, Rollenspieler, Stratege, Phantast und Träumer.


 

Dieses Spiel erfordert allerlei Requisiten. Darunter auch kriegerische: Ein Stock, ein selbst hergestellter Pfeilbogen, die aus einem Stück Brot gebissene Pistole dienen nebst der passenden Kleidung zum Eintauchen in phantastische Rollen und Welten. Vor 100 Jahren erhielten sie dabei gezielt Unterstützung von der Erwachsenenwelt: Die ‹Uniformierung› der Kleinsten war als subtiler Teil der Kriegserziehung gang und gäbe. Jungen erhielten alle Requisiten, die das Militär bieten konnte – vom Matrosenanzug bis zur Pickelhaube. Für die Mädchen waren Krankenschwesternhaube und Schürze vorgesehen – für erste Auftritte als fürsorgliche Frauen an der Front. Denn das Kind ist nicht nur Kreateur und Akteur seiner Spiele, sondern eben auch «Träger von Bräuchen und Traditionen»2 – also das Objekt von Erziehung und Propaganda – sowie Konsument und Wirtschaftsfaktor.


 

Kriegserziehung


Diente Kriegsspielzeug im 17. Jahrhundert vor allem der militärischen Ausbildung der feudalen Klasse, wurde es im 19. Jahrhundert im Rahmen der preussischen Kriegserziehung als allgemeines Lehrmittel eingeführt. Der ‹preussische Geist› prägte bald nicht mehr nur die deutsche Gesellschaft, Kriegsbegeisterung und Mobilisierung gingen in Europa Hand in Hand. Kinder und Jugendliche wurden wie nie zuvor mit Literatur, Spiel- und Liedgut für patriotische Gefühle sensibilisiert. Die Industrialisierung und die wachsende Kriegsbegeisterung lösten einen Boom der Kriegsspielwaren aus. Spielemacher und -produzenten wussten das zu nutzen: Taktik, Bewaffnung, Strategie und Vernichtung hielten Einzug in Brettspielen, Geduldsspielen und Kinderbüchern bis zu Bausteinen und Puppen.


 

Auch die Gesellschaftsspiele der Erwachsenen wie Schach, Dame und Domino erhielten vaterlandstreue Motive und wurden, auf Leinen gedruckt und mit einer abwaschbaren Schicht überzogen, per Feldpost an die Front verschickt, wo sie in Lazaretten der Zerstreuung dienten. Der Erfinder und spätere Firmengründer Josef Friedrich Schmidt schickte 3000 Exemplare seines erst im Bekanntenkreis erprobten Spiels ‹Mensch ärgere dich nicht› als «Liebesgabe» an die Front. Die Ablenkung war willkommen. Der Erfolg des heutigen Klassikers begann also in den Jahren des Ersten Weltkriegs.3


 

«Lieb Vaterland …»


Die preussische Lektion in nationaler Sensibilisierung ging nicht spurlos an der Schweizer Bevölkerung vorüber. Aber wurden auch Spielwaren dafür eingesetzt? Die Möglichkeit bestand, hatte der ‹Grosse Krieg› doch den Import der vor allem in Deutschland produzierten Spielwaren ins Stocken gebracht: Das löste eine verstärkte inländische und somit potenziell ‹nationale› Produktion aus. Auf den ersten Blick erscheint der Schweizer Spielzeugmarkt jener Zeit jedoch frei von nationaler Propaganda. Allerdings gibt es ein paar interessante Ausnahmen. 


 

Ein Beispiel ist die 1917 in Lausanne gegründete Edition Spes. Sie entwickelte als Reaktion auf die Bedrohung durch die Nachbarländer Deutschland und Italien Spiele, in denen der Alpenraum als identitätsstiftendes Symbol das nationale Pathos fördern und das Ausei-nanderfallen des vielsprachigen und multikulturellen Territoriums verhindern sollte. Dazu gehörte neben Brettspielen auch ein didaktisches Geschichtslotto. In einem politischen Strategiespiel mussten die Spielenden ihre Heimat gegen feindliche Nachbarn verteidigen. Am Ende des sogenannten Matterhornspiels sollte laut Anleitung gemeinsam das Lied ‹Wo Berge sich erheben› angestimmt werden.4


 

Emotionale Symbole


Vom Zinnsoldaten bis zu ‹World of Warcraft›: Kriegsspielzeug und Kriegsspiele waren und sind im Kinderzimmer heiss begehrt – auch ohne aktuelle Kriegspropaganda in der realen Umwelt. Und die Spielzeugindustrie liefert. Woher kommt wohl diese Lust am kriegerischen Spiel? Warum funktionieren Kinder ein zufällig gefundenes Stöckchen zur Pistole um oder gehen mit Kriegsgeheul aufeinander los?


 

Kinder sehen Spielzeugwaffen mit anderen Augen als Erwachsene. «Für Kinder handelt es sich um Symbole für Emotionen und nicht primär um ein Tötungsinstrument», meint der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl.5 Sie sind sich der symbolischen Bedeutung des Kriegsspiels durchaus bewusst. Deshalb kann zur Not auch ein Kochlöffel zum Schwert oder die Hand zur Pistole werden – sie wissen, dass ihre Schüsse niemandem wehtun. Die Spielzeugwaffe erweitert in der Phantasie des Kindes die eigenen Fähigkeiten und lindert dabei oft das Ohnmachtsgefühl gegenüber Erwachsenen. Kinder spielen Krieg – und das nicht nur in Kriegszeiten.


 

Zum Schluss bleibt die wichtige Frage: Wie spielt man eigentlich Frieden?


 

1 Kriegsgedicht, Stuttgart 1892, zitiert nach Klaus Ulrich Pech: Krieg und Kriegsspiel in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Hans-Peter Mielke (Hg.): Aggression, Gewalt, Kriegsspiel, Grefrath 2001, S. 171.


2 Gabriela Muri: Das Kind und sein Fest. Traditionelle Formen und moderne Entwicklungen, in: Paul Hugger (Hg.): Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre, Zürich 1998, S. 241f.


3 Vgl. Marion Faber: Spiel und Kommerz, in: Ulrich Schädler (Hg.): Spiele der Menschheit, Darmstadt 2007, S. 136.


4 Vgl. Anne Joggi: Schweizerische Spiele für Schweizer Familien, in: Ulrich Schädler (Hg.): Spiele der Menschheit, Darmstadt 2007, S. 189f.


5 Interview mit Allan Guggenbühl: Warum Kinder gern mit Waffen spielen, in: Tages Anzeiger, Mama Blog, 2.11.2012, blog.tagesanzeiger.ch/mamablog/index.php/26813/warum-kinder-gern-mit-waffen-spielen, Zugriff: 19.8.2014.


 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2014

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