Kulturpreisträger 1989 Gustav Stettler
Dorothea Christ
Der Kulturpreis der Gemeinde Riehen pro 1989 ging am 20. Juni 1990 im Berowergut an den Kunstmaler und Radierer Gustav Stettler.
1950 zog er nach Riehen - in die neue Siedlung der Wohngenossenschaft «Rieba» im Winkel zwischen Rauracherstrasse und Kohlistieg. Sein Eckhaus am Kohlistieg, im Grunde winzig in seinen Dimensionen, hat etwas Grosszügiges, präsentiert sich anders als alle andern Genossenschaftshäuser. Es weist im Obergeschoss der Giebelwand ein riesiges Fenster auf: ein Atelierfenster. Architekt Hans Schmidt ging willig auf die Bedürfnisse des einen Genossenschafters Gustav Stettler ein, der hier nicht nur wohnen, sondern auch arbeiten wollte. Auch den Keller funktionierte Stettler zum Atelier um: Hier stand bis vor kurzem die schwere Druckpresse, die es dem Künstler ermöglichte, zu Hause in Ruhe seine Abzüge herzustellen und dabei die Zustandsstufen seiner Radierungen genau zu kontrollieren. Im Atelierraum des Obergeschosses, dessen Höhe bis zum First reicht und dessen Bodenfläche nur einen winzigen Schlafraum erlaubt (auch der Estrich wurde der Kunst geopfert!), hatte die Malerei ihren Bereich. Praktisch und umsichtig ausgeklügelt montierte sich Stettler spezielle Staffeleien: es galt, Raum zu sparen, Distanz zum in Arbeit stehenden Werk zu gewinnen. Daneben müssen Regale für Archiv, Bücher, Skizzenhefte und die Fülle vorhandener Zeichnungen Platz finden. Und eine Stereoanlage - denn Stettlers Freude ist es, gute Musik zu hören, die in der ausgezeichneten Akustik des Raumes auch eine vorzügliche Wiedergabe findet.
Der Umzug aus einer Basler Innerstadtwohnung an den Kohlistieg in Riehen bedeutete für den 1934 aus dem bernischen Oberdiessbach per Velo nach Basel zugezogenen Maler die Befreiung aus Provisorium und Engnis in eine eigene Heimstätte, in der Leben, Familie, Arbeit und Wohnen zur Einheit werden konnten. Alles ordnete sich der künstlerischen Arbeit unter, auch wenn daneben die Freude am selbergestalteten Garten mit seinem Seerosenteichlein, Bücher und eben die Musik nicht zu kurz kamen. Und vor allem zählt das Familienleben mit einer Gattin, die ohne Zaudern und Klagen die sehr harten Anfangsjahre mit dem Künstler durchstand. Und mit einem Sohn, dessen Kinderzeichnungen und -maiereien sich durch erstaunliche Eigenständigkeit und Sicherheit auszeichneten. Zweifellos hat Gustav Stettler seinen Sohn Peter «beeinflusst» - das heisst: er hat ihn beeindruckt und angeregt, ihm dadurch seine Entwicklung erleichtert. So wie Gustav Stettler auch seine Schüler an den Kunstklassen der Gewerbeschule förderte, ohne sie dadurch in eine «Stettler-Schablone» zu drücken. Der Sohn konnte sich frei zu einer Künstlerpersönlichkeit anderer Prägung entwickeln. Heute weist der Vater stolz in seiner Sammlung von Kollegen-Bildern auf die Werke von Peter und der Schwiegertochter Erika Stettler-Schnell.
Längst ist das Häuschen am Kohlistieg nicht mehr der Hauptwerkplatz des Malers Gustav Stettler. 1970 wurde es möglich, an der Paradiesstrasse im Haus von Dr. Lucas Lichtenhan ein grosses Atelier zu mieten. Und seit gut einem Jahrzehnt arbeitet Stettler in einem ideal belichteten und geräumigen Atelier in der Stadt am Luftgässlein. Das Haus an der Paradiesstrasse ist inzwischen in den Besitz des Künstlerehepaares Peter und Erika Stettler-Schnell übergegangen: jetzt finden sich darin zwei Maler-Ateliers und seit neustem auch die Druckpresse als Zentrum einer GraphikWerkstatt.
Die Riehener betrachten Gustav Stettler als «Riehener Künstler». Das kam zum Ausdruck, als 1988 aus Anlass des 75. Geburtstages im Berowergut die grosse Ausstellung «Neuere öl-Bilder» organisiert wurde. Auch im Beitrag, den Hans Krattiger 1973 im Riehener Jahrbuch dem Künstler zum 70. Geburtstag widmete. Ebenso in der Monographie mit Texten von Heinrich Wiesner und Hans Göhner, die 1982 im Verlag Peter Heman erschien. Hans Göhner, Initiator und Betreuer der berühmten Bâloise-Sammlung mit Werken von Künstlern aus Basel und der Regio, widmete bereits 1965 Gustav Stettler das zwölfte Kunstblatt der Bäloise-Jahresgaben mit der Zeichnung «Lilo». Bei allem ist Gustav Stettler - der als junger Flachmaler aus dem Bernerland nach Basel zog, um sich hier auszubilden und während der Epoche von Krise, Arbeitslosigkeit, der Kriegsjahre mit ihren langen Militärdienstperioden den Weg zum freischaffenden Künstler zu finden seinem Temperament nach Berner geblieben. Er hat sich jedoch in die Basler Kunstszene nicht nur integriert, sondern sie auch massgeblich mitgestaltet. Dazu trug die lange Lehrtätigkeit (1943-1978) an den Kunstklassen der Gewerbeschule bei: Stettler führte den vielbesuchten Radierkurs ein, erteilte auch figürliches Zeichnen und Tierzeichnen. Dennoch ist Gustav Stettler ein Riehener Künstler, auch wenn er heute wieder täglich im Atelier in der Stadt arbeitet. Ihm sind stabile Ruhe und ein fester Standplatz, wie er sie 1950 in Riehen am Kohlistieg fand, Lebensnotwendigkeiten. Er braucht sie, um desto intensiver seiner Kunst leben zu können. Aus der Ruhe und Unauffälligkeit seines Alltagslebens, auf der Basis seiner methodischen Arbeitsweise, in der handwerkliches Können einen hohen Stellenwert einnimmt, kann er seine Themen angehen, seine Bildmotive erarbeiten. Sie erweisen sich als alles andere denn als beschauliche, herkömmliche oder aber mühselig um Originalität ringende Effekt-Kunst. Es schwingt noch in den harmlosesten Stilleben und Figurenmotiven auch immer das Unheimliche, Beklemmende mit, das menschliche Existenz unweigerlich begleitet.
Dass die Anfangsjahre mit den Frühwerken zwischen 1935 und 1950 von Bedrängnis, sozialer Not, wirtschaftlichem Druck und menschlicher Erschütterung zeugen das ist bei Stettler wie bei anderen seiner Generationsgenossen selbstverständlich. Ein Triptychon aus den Kriegsjahren und das frühe Familienbildnis belegen das. Ein düsterernstes Bild «Die Zeugen», Aufreihung heller, frontal blikkender Gesichter vor dunklem Grund (es sind Trauzeugen, die hier mehr von der schicksalsschweren Tragweite des Rituals als von der üblichen, konventionellen Fröhlichkeit durchdrungen erscheinen), brachte 1942 den Durchbruch: Der Kunstkredit akzeptierte das grosse ölgemälde aus einem Wettbewerb für den Ziviltrauungssaal. Jetzt und in den folgenden Jahren erwies es sich, dass Stettler sein spezielles Thema gefunden hatte: den einfachen Alltagsmenschen in seinen Lebensumständen so zu erfassen, wie ihn Stettler sah und erlebte. Es treten spielende Kinder, fürsorgliche Mütter, Schülergruppen, Passanten, Stadtmenschen als Wartende beim Fussgängerstreifen, Teenagers in der Modetracht der Jugendlichen auf. Das Besondere liegt darin, dass Stettler weder anklagend noch karikierend, weder sentimental noch wehleidig, noch pathetisch erhöhend das Bild seiner Mitmenschen zeichnet. Das spricht sich auch in individuellen Bildnissen aus, die Stettler in letzter Zeit vermehrt beschäftigen. Gewiss sind seine Menschen im «Stettler-Stil» gestaltet: langgezogene Gesichter, schlanke Figuren, von fast beklemmendem Ernst in Ausdruck und Pose. Aber sie dürfen aus sich heraus leben, auch wenn sie immer Zeugen einer bestimmten Situation, eines spezifischen Klimas bleiben.
Ihre Umwelt ist die moderne Stadt: Strassensituationen, Häuserkomplexe, Hell-Dunkel-Kontraste, die dem strengen architektonischen Bau überraschende Licht-SchattenWirkungen zufügen. Und Interieurs, die in ihrer Kargheit und Bestimmtheit fast ohne Möblierung auskommen. Räumlichkeit wird durch überschneidung, durch scharfe Hell-Dunkel- oder Farbkontraste, durch Fluchtlinien oder durch transparente Kulissenstufen gewonnen. Wesentliches Merkmal bleibt immer - und das gilt gleichermassen für Landschaften wie Stilleben - Kargheit und präzise, aufs Wesentliche reduzierende Bildarchitektur. Die Strenge der Komposition wird durch überaus sorgsame Maltechnik ausgeglichen. Stettler arbeitet lange an seinen Bildern, verändert sie oft nachträglich entscheidend. In seinen Radierungen nutzt er alle Stufen von samtdunklem Schwarz über Grautönungen bis zur Helle des Bildträgers. In der Malerei zeichnet sich zunehmend im letzten Jahrzehnt eine Lust an zugriffiger, starker Farbgebung ab; die ölfarbe darf freier, pastoser spielen. So ist das Alterswerk nicht zu einem Ausklang geworden, sondern zum Zeugnis einer erstaunlichen Entwicklungsfähigkeit zur Bereitschaft, neue Lösungen zu finden und eine veränderte Bildsprache zu erproben.
Die Zusprechung des Riehener Kulturpreises pro 1989 bedeutet mehr noch als bloss abschliessende Anerkennung eines Lebenswerks, sie drückt die Bewunderung aus für ein Schaffen, das wohl von Reife und Erfahrung bewährter Meisterschaft zeugt, nicht aber stagniert, sondern Neues hervorbringt. Zeugnis dafür legte die kleine, für die Preisübergabe im Berowergut ad hoc zusammengestellte Werkschau ab. Umrahmt wurde die Feier durch Kammermusik von Joseph Haydn. Sie bereitete dem Preisträger und Musikliebhaber Gustav Stettler eine grosse Freude.
Personen: Die im Artikel erwähnten Personen sind im RRJ genannt mit folgenden Ausnahmen: Peter Hemann ("'1919), Photograph und Verleger, sowie Lucas Lichtenhahn (1898-1969), Dr. phil., Kunsthistoriker, Konservator Kunsthalle.