Leben im Alterspflegeheim


Barbara Imobersteg


 

Nicht nur alte Menschen leben im Pflegeheim. Eine Vielzahl von Mitarbeitenden teilen ihren Alltag – und damit die schönen und die schweren Momente – mit ihnen bis zum Schluss.


 

Langsam öffnet sich die Balkontüre. Eine kleine Giesskanne, ein Arm, ein grauer Haarschopf, eine rote Bluse – nach und nach kommt die alte Dame zum Vorschein. Sie ist über ihren Gehstock gebeugt und bewegt sich vorsichtig durch den Türspalt auf die Geranien zu. Sonst bewegt sich nichts an der Aussenseite des Alterspflegeheims. Vielleicht liegen alle anderen noch in ihren Betten oder sitzen beim Frühstück. Doch jetzt öffnet sich eine zweite Türe. Ein alter Mann tritt auf den Balkon, er wirft einen prüfenden Blick in den Garten. Es scheint alles in Ordnung zu sein, er geht zurück in sein Zimmer. Jetzt ist wieder alles ruhig.


 

Manche sitzen auch nur


Durch den Hintereingang gelangt man ins Treppenhaus. Auf allen Stockwerken sind alte Menschen unterwegs, im Rollstuhl, mit dem Rollator oder an ein bis zwei Gehstöcken. Manche sitzen auch nur und schauen zu oder träumen vor sich hin – vielleicht denken sie über ihr langes Leben nach, vielleicht sind sie schon in einer anderen Welt. Im Gemeinschaftsraum werden sie erwartet. Damit die Bewohnerinnen und Bewohner nicht tatenlos vor dem Speisesaal aufs Essen warten, wird ihnen ein kleines Fitness-Programm angeboten. «Herr Peter*, es dauert noch 20 Minuten», sagt die Aktivierungstherapeutin. Keine Reaktion. Falls er es gehört und verstanden hat, scheint es ihm recht zu sein. Er stellt sich mit dem Rollstuhl in den Kreis. Nach und nach kommen die Leute. Eine geschäftige alte Dame geht zielstrebig zu ihrem Platz. Zweifellos sitzt sie immer genau dort. «Wer sucht, der findet», sagt sie zufrieden. Sonst spricht niemand. Zwei junge Zivildienstleistende helfen mit, bieten allen ihre starken Arme an. Für viele ist jeder Schritt und fast schon jede Bewegung mühsam. «Es ist noch nicht besser geworden», erzählt Frau Bertel, der Arzt meine, es sei das Alter. Sie ist 99 Jahre alt. Sie lächelt verschmitzt – vielleicht über sich, vielleicht auch über den jungen Arzt.


 

«Alles geht vorüber»


«Lauter!», ruft eine Teilnehmerin, kaum hat die Therapeutin die Runde begrüsst. Laut und deutlich fragt die Therapeutin nach dem Tag, dem Datum, dem Monat und dem Jahr. Die Gymnastik beginnt im Kopf. Alle machen mit. Dann kommen die Füsse und Beine dran. «Übung macht den Meister», sagt die geschäftige Dame. Vor der offenen Türe rattern jetzt die Essenswagen vorbei. Die Warmhalteboxen werden auf die verschiedenen Abteilungen gebracht. «Welche Farbe hat der Ball?», fragt die Therapeutin, sobald es wieder ruhig ist. Inzwischen sind Arme, Hände und der ganze Rumpf gelockert und bewegt worden, die bunten Bälle sind im Umlauf. «Rot ist die Liebe», sagt die Dame mit den Sprüchen und rollt den Ball wie alle anderen vorsichtig über ihren ganzen Körper. Die Runde ist trotz Anstrengung und Konzentration gesprächig geworden. Plötzlich wird gelacht. Blicke, Worte und Spässe gehen hin und her. Die Therapeutin verabschiedet sich. «Alles geht vorüber», sagt die Sprüche-Kennerin.


 

Vielleicht ist die Traurigkeit ansteckend


Am Mittagstisch ist es still, wie wenn man beim Essen nicht sprechen dürfte. Die Töpfe gehen reihum, wer kann, schöpft sich selber. Eine Betreuerin und zwei Zivildienstleistende bieten ihre Hilfe an – sie wird kaum in Anspruch genommen. Bedächtig und geduldig widmen sich die Anwesenden ihrem Essen, dem Geschirr, dem Besteck, der Trinkflasche. Essen ist wie Gymnastik, ein komplexer Vorgang, der alle Sinne beansprucht, der Koordination, Kraft und Geschicklichkeit erfordert. Ein Jammern durchbricht die konzentrierte Stille. Herr Manger hat versehentlich sein Wasserglas umgestossen. «Kein Problem», sagt die Betreuerin. Sie trocknet den Tisch ab und holt eine neue Unterlage. In der Küche herrscht Hochbetrieb. Die Köche übertönen die Maschinen und das Klappern der Töpfe. 130 Essen müssen jetzt raus, der Hauptgang kommt gleich. Die Betreuerin geht schnell zurück an ihren stillen Tisch. Herr Manger weint. Nein, nicht wegen dem Glas. Er vermisst seine Frau. «Ich habe ihr doch nichts getan, weshalb kommt sie nicht mehr?» Die Betreuerin legt ihm den Arm um die Schulter: «Sie kommt immer am Nachmittag – Ihre Frau wird auch heute kommen.» Herr Manger wird wieder ruhig, aber essen möchte er nicht mehr. Auch seine Tischnachbarin schiebt den Teller weg: «Ich hatte doch Lust auf Essen und jetzt mag ich nichts.» Vielleicht ist die Traurigkeit ansteckend. Die Betreuerin legt auch ihr den Arm um die Schulter. Dann wird es wieder lebhaft. Eine neue Pflegerin betritt den Raum. Block und Bleistift in der Hand, fragt sie nach den Menüwünschen für den nächsten Tag. Abwechselnd werden Schweinspiccata und Cipollata bestellt, zugleich kommt eine rege Unterhaltung über Lieblingsessen in Gang. Kutteln stehen an erster Stelle, dicht gefolgt von Kartoffelstock. «Und wer mag jetzt noch ein Dessert?», fragen die Helfer. «Lieber einen Schnaps», ruft jemand.


 

Die Jungen und die Alten


«Am Anfang war ich schockiert», erzählt der 19-jährige Zivildienstleistende. Die alten Menschen wirkten auf den ersten Blick orientierungslos und abgelöscht. «Aber das täuscht, sie bekommen viel mehr mit, als man meint.» Es sind die kleinen Dinge: Begegnungen, ein Spaziergang im Garten, ein Besuch beim Entenweiher – er habe inzwischen viel Freude erlebt im Alterspflegeheim. Und die schönen Momente verbinden: «Sie sind mir ans Herz gewachsen, meine Leute.» Der junge Mann stellt sich mit dem Rollstuhl hinten an. Vor dem Lift, wie immer nach dem Essen, ein langer Stau. Aber, anders als im Strassenverkehr, haben alle ihren Spass daran. Man trifft sich, man unterhält sich, man schäkert – die Jungen und die Alten.


 

Die alte Dame singt sich leise in den Schlaf


Die Sonne blendet noch, als die ersten zu Bett gehen möchten. Sich für die Nacht vorbereiten ist die letzte Anstrengung für heute. Frau König singt. Sie hat ein Beistelltischchen vor sich mit einem kleinen Waschbecken. Als Alena, die junge Pflegerin, mit dem Waschlappen kommt, lacht sie schallend. Weshalb? Wohl einfach so. Sie hält den Waschlappen in den Händen, scheint sich aber nicht daran zu erinnern, was sie damit tun soll. «Darf ich?», fragt Alena. Frau König zuckt augenblicklich zusammen, verzieht das Gesicht und wehrt sich auch gegen die sanfteste Berührung. Jetzt beginnt Alena zu singen und die alte Dame fällt ein. So lässt sich das Gesicht waschen. «Frau König, darf ich Ihnen die Zähne putzen?» Wieder verdüstert sich das Gesicht, wieder Abwehr, vehemente Abwehr. Alena sucht den Blickkontakt und die Patientin entspannt sich, strahlt, streckt die Hände aus: «Mein Püppchen!» Die beiden schauen sich in die Augen und lächeln sich an, die Zahnbürste kommt wieder näher. Ein Schrei, und Frau König wirft den Kopf zurück. Die Pflegerin stimmt wieder ein Lied an. Ein Hin und Her, ein Spiel ums Zähneputzen, vor und zurück, lachen, schreien, schäkern, schimpfen und immer wieder singen. Alena kennt die Choreografie, die beiden bewegen sich in ihrem eigenen Rhythmus – und plötzlich geht das mit dem Zähneputzen. Alena hat Schweissperlen auf der Stirn. Sie weiss, Frau König hat den Krieg erlebt, hat Schlimmes durchgemacht. Körperpflege weckt die Erinnerungen an traumatische Erlebnisse. Alena ruft nun die Kollegin. Zu zweit helfen sie Frau König ins Nachthemd und ins Bett. Aus den Kissen sind unzusammenhängende Sätze zu vernehmen. Die alte Dame spricht mit melodiöser Stimme, klingend wie ein Bühnenstück. Man möchte die Geschichte hören, selbst wenn man den Sinn nicht versteht. Alena hat aufgeräumt. «Gute Nacht, Frau König!» Die alte Dame singt sich leise in den Schlaf.


 

«Wir vermissen die Menschen, wenn sie gehen»


Alena will schnell weiter, jetzt braucht die Kollegin Hilfe. Sie ist bei Frau Tanner, die völlig zusammengekrümmt im Rollstuhl sitzt. Es geht ihr nicht gut, sie ist bleich und geistesabwesend. Die Pflegerinnen legen sie zu zweit vorsichtig ins Bett. «Frau Tanner, wir ziehen Ihnen die Kleider aus.» Keine Reaktion. «Wir stellen Ihre Beine auf, geht das?» Frau Tanner stöhnt. «Nein», sagt Alena, «alles tut ihr weh, wir entkleiden sie liegend.» Jede Bewegung, jede Berührung scheint zu schmerzen. Die Pflegerinnen streichen ihr leicht über das Gesicht zum Abschied. «Das Sterben ist schwer», sagt Alena, «auch wenn es eine Erlösung ist. Wir vermissen die Menschen, wenn sie gehen.» Jetzt ist Zeit für eine kleine Pause. Frau Meier sitzt im Lehnstuhl, sie möchte noch nicht schlafen gehen. Alena fährt fort: «Wir bleiben bei ihnen bis zum Schluss, ja, Sterbende haben wir alle schon begleitet.» Die Glocke schellt, eine Lampe blinkt, die Kollegin läuft los. Es komme vor, dass jemand siebenmal hintereinander klingle, immer mit derselben Frage, erzählt Alena. Das seien die schwierigen Momente. Und die Beschimpfungen und die Unruhe. Gut zusammenarbeiten müsse man da, sich ablösen können und gegenseitig unterstützen. Und sich dann wieder an den vielen schönen Momenten erfreuen.


 

Bald kommt die Nachtwache, um halb zehn geht Alena nach Hause. Morgens um sieben wird sie wieder da sein. Nein, heute reiche es nicht zum Abschalten. Selbst an ihren freien Tagen denke sie oft ans Heim, an seine Bewohnerinnen und Bewohner, an die Kolleginnen und was sie gerade machen. Und daran, dass sie nichts vergessen dürfe.


Die Verantwortung ist gross. Vor dem Rapport möchte sie noch einmal bei Frau Tanner vorbeischauen. Sie wird unruhig sein, vielleicht Hilfe brauchen.


Die Gänge sind leer inzwischen. Nur die Pflegerinnen sind unterwegs, die Glocke geht ständig. Vielleicht sind es immer dieselben, vielleicht immer neue Fragen.


Auf dem Balkon mit den Geranien werden die Läden geschlossen – sonst bewegt sich nun nichts mehr an der Aussenseite des Alterspflegeheims. 


 

* Alle Namen geändert.

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2014

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