Lebensmelodie malen

Annemarie Monteil

Dass die Erstgeborene von sechs Kindern Künstlerin wird, hatten sich der Arzt Roland Straumann und seine Frau Emmy kaum vorgestellt. Vielleicht war das Geburtsdatum ein Omen: In der Zeit der hellsten Tage, am 10. Juli 1928, kam Dorette im Waldenburger Arzthaus mitten in einem Garten voller Früchte und Blumen zur Welt. Sie feierte später das Licht und die Farben und die Gaben der Erde in ihren Bildern, allerdings aus persönlicher und eigenwilliger Sicht und nicht ohne Dunkelheiten.

Die frühen Jahre im behüteten Doktorhaus trug Dorette als Kostbarkeit mit sich. In ihren Worten: «Ohne Vergleich sei gemeldet, dass mir die Waldenburgerjahre wie ein Schmuckkästlein vorkommen, das man ohne Einbusse aus meinem übrigen Mädchen- und Frauenleben herausnehmen und beiseite stellen kann; es strahlt für sich und hat keine Zusammenhänge über seinen eigenen Rahmen hinaus.»1 Die heimlichen ‹Zusammenhänge› mit der Waldenburger Jugend waren die Gabe von Eigenständigkeit in Wort und Haltung und des Wissens von Heimat. Ohne Diskussion war die junge Dorette die Dorfprinzessin, als sie 1943 mitten im Krieg beim Besuch von Henri Guisan in Waldenburg dem General einen Blumenstrauss überreichte. Er küsste sie und sagte: «Jetzt geben Sie mir auch einen Kuss, das bringt Ihnen Glück und mir auch.»2 Sie hatte Glück, ein Leben lang. Der Wille war immer klar. Als man in der Schule beschreiben sollte, was man werden wolle, hiess es auf ihrem Blatt gross und allein: «Malerin». Der Wechsel ans Gymnasium in Basel schien ihr hart: das erste Erlebnis von ‹Fremde›, des Sich-fremd-Fühlens. Zudem missfiel ihr die Mädchenschule nach dem vertrauten Miteinander der dörflichen Primarschule. Dass die Waldenburgerbahn frühmorgens um 5.15 Uhr abfuhr, ohne geheizte Wagen, vergrösserte die Kälte, die ihr, der einzigen ‹Landschäftlerin› in der Klasse, entgegengebracht wurde. (Eine Erfahrung, die eine ganze Generation teilte.) Dass sie eine gute Schülerin war, schuf ihr keine ‹Heimat›.

MALEN
Ein Jahr vor der Matura verliess Dorette das Gymnasium und fuhr 1947 nach Paris. Sekretärin sollte sie werden, der Vater hatte bereits eine gute Stelle in Thommens Uhrenfabrik für sie in Aussicht. Die französische Sprache, damals die ‹lingua franca› Europas, war dafür unabdingbar. Die noch nicht zwanzigjährige Dorette, ‹ein junges Mädchen› sagte man damals, spazierte durch Montmartre, las an einem Haus «Atelier de Peinture Fernand Léger» und wusste, was sie seit je dachte: «Malen will ich». Sie hatte keine Ahnung, wer Fernand Léger sei, er war im kultivierten Arzthaus so unbekannt wie bei den meisten Schweizern. Sie meldete sich und bald stand fest: «Vous pouvez rester.» Sie blieb. Und malte. Die Korrekturen des alten Meisters waren sparsam. Das eigene Werk kam nicht zur Sprache. Aber offenbar kann eine Atmosphäre prägen. Dorette betonte später oft, wie ungemein wichtig diese Zeit für sie gewesen sei. Fernand Léger (1881–1955) war es, der die Aufforderung von Paul Cézanne (1839–1906) umgesetzt hatte: «traiter la nature par le cylindre, la sphère et le cône». Dorette Huegin wird in ihrer Arbeit auch in sehr persönlichen, dichten Kompositionen eine geometrische Ordnung beibehalten. Die Eltern in Waldenburg staunten, dass Dorette anstatt in einer Sprachklasse in Kunstschulen sass, auch an der Académie Julian und der Académie des Beaux-Arts. Auf ihren Ruf kehrte die Tochter nach kaum zwei Jahren in die Schweiz zurück. Einerseits plagte sie – wie in Basel, so auch in Paris – das Heimweh. Andererseits war Paris kurz nach dem Krieg völlig anders als heute: Das Leben und Essen für Studierende war karg, die Metro oft ‹en grève›, das Vorwärtskommen mühevoll. Aber die Kultur war fabelhaft: Wagners Trilogie trotz Deutschenfeindlichkeit in der Oper, Jean-Louis Barrault mit ‹Les enfants du paradis› im Theater Marigny, der Louvre ohne Besucherströme frei zugänglich. Sprache und Begeisterung nahm Dorette mit, Frankreich und Französisch gehörten in ihr Leben. Daheim wartete die Liebe: «Ich kannte damals schon meinen zukünftigen Mann, der dann um meine Hand anhielt.» Es war der Arzt Werner Hügin, Vater Straumanns Assistent. Von Thommens Uhrenfabrik war keine Rede mehr. Den damals obligaten vorehelichen Kochkurs refüsierte Dorette energisch. Auch Werner Hügin legte keinen Wert darauf, hat sie Brigitta Hauser-Schäublin erzählt: Er habe sie immer unterstützt und nie verlangt, dass sie all das Hausfrauliche tue, das ihr zuwider war. Und das sei auch so geblieben, als er Professor für Anästhesie wurde: «Er liess mich mein Leben selber gestalten, und ich weiss deshalb auch, warum ich als Malerin seinen Namen trage.»3 Allerdings schrieb sich Dorette «Huegin». 1949 heiratete das Paar.

DRANBLEIBEN
Der Grundsatz «Ich will malen» erlitt lebenslang keinen Unterbruch, durch all die Jahrzehnte. In den gemeinsamen Wohnungen war ein Zimmer stets das Atelier. 1959 zog Dorette Huegin mit Ehemann und Tochter an den Ausserberg in Riehen: «Mein Mann sagt, wir hätten das Haus um das Atelier herum gebaut.»4 Seither ist sie ganz und gar Riehenerin; die Gemeinde lud sie denn auch 1983 und wieder 1998 zu einer grossen Ausstellung im Berowergut ein.5 Das Werk wuchs, sie behielt den Überblick – und beschreibt es als kritische Befragerin selbst. Spannend ist der Anfang, der die junge Künstlerin ehrt: Zurück in Basel, begann sie mit «kopieren und abmalen». Es ist der bewährte Weg der besten alten Künstler (Cézanne zeichnete täglich im Louvre). Zum Respekt vor der Kunst gehörte für Dorette Huegin das Ernstnehmen des Handwerks: Sie absolvierte Teile einer Spengler- und Feinmechanikerlehre. Deshalb geriet sie auch bei kühnen Experimenten mit Licht und Stil nie ins Unsichere oder Dilettantische, wie sie es in ihrem Werkrückblick beschreibt. Damit verrät sie, wie erkämpft für jene Generation der Schritt zur Ungegenständlichkeit sein konnte. Nichts ist geschenkt: «Nach meiner grundlegenden und systematischen Ausbildung in Paris gelangte ich durch das simple Abmalen und genaue Kopieren von Gegenständen und Menschen zu Kompositionen und Gruppierungen, die jedoch immer noch das Objekt erkennen lassen. Von hier aus zu einer immer konsequenteren Abstraktion war der Schritt nicht mehr allzu gross. Die Gegenstände verschwanden: Farben, Farbflächen und Linien wurden wesentlich. Nach dieser Phase gelangte ich zu präziseren Konturen. Dazu verhalfen mir verrissene Papiere und Textilien, die ich zu Collagen zusammenfügte. Ohne einem Symbolismus verhaftet zu sein, probierte ich in einer nächsten Phase Interaktionen oder Konfrontationen zwischen Menschen oder zwischen dem Menschen und seiner engeren oder weiteren Umwelt in meine Konstruktionen zu übersetzen. Vor solche Kompositionen setzte ich später naturalistische Gegenstände, sowohl technische Instrumente als auch Objekte des täglichen Bedarfs. Das führte zu einer Synthese zwischen erdachten Formen, Natur und Technik.»6 So souverän war der Umgang der erfahrenen Malerin mit Abstraktion und Figürlichkeit geworden.

LEBEN
Neben der bewussten Arbeit an Form, Farbe, Technik sind die Bilder und Zeichnungen von Dorette Huegin geprägt von ihrem reichen Leben. Der hervorragenden Koloristin wird die geliebte Farbe Ausdruck, manchmal Magie. Mit Erklärungen war Dorette Huegin sparsam. (Warum fragt man immer zu wenig?) Wenn schon Worte, flossen sie verwandelt in die Gedichte.7 Umso wichtiger ist mir die Erinnerung an die Einladung in ihr Atelier. Bilder auf der Staffelei, in Arbeit. Mit farbigen Collagen 116 117 probierte sie kleine Effekte aus. Alles war Konzentration. Sie selbst am gegenwärtigsten in ihren zahlreichen Selbstbildnissen: die nachdenkliche, die kritische, die elegante Dorette. Bezaubernd ist ihre Freude an einem Schal, einem Armband. Unvergleichbar sind ihre Blumenbilder und Stillleben. Blüte und Frucht verwandelt sie in ihr Eigenstes. Still sind ihre Stillleben keinesfalls. Heftige Pinselgesten setzen die Leinwand in Bewegung. Die Farben sind zärtlich, plötzliche Kontraste fangen sich auf, Rot ist sparsam wie Salz. Ein Hauch von Unwirklichkeit schwebt über dem Vertrauten. Die Dinge werfen keinen Schatten, Perspektiven schlingern – und doch: alles stimmt. Man muss mit Dorette durch den Garten gegangen sein und zuhören, wie sie pflanzte und pflegte. Da begriff ich: Erde und Blatt, Auge und Seele, Pinsel und Leinwand sind eins. Nahtlos eingefügt eine Erinnerung, ein Schmerz, eine alte Fotografie im Rähmchen, ein zerbrochenes Fernglas. Oft sind es Teile von Maschinen – Hommagen an Léger. Es war im Berowergut. Vor ihren Bildern erzählte sie mir vom Tod ihrer Geschwister. Die Tulpen sind schwarz, ein Sarg ist bedeckt mit duftigen Blumen, die Landschaft vor dem Fenster ist weit. Darüber liegt überirdisches Licht, das Licht von Dorette Huegin. Felix Philipp Ingold, der Schriftsteller und Freund aus Riehen, erinnert sich «an die fast beängstigende HELLIGKEIT, von der deine Bilder gelegentlich umgeben waren. Helligkeit vergegenwärtigter Vergangenheit oder zukünftiger Gegenwart. Eine Helligkeit, die auch noch aus deinen dunkelsten Bildern dringt. Aura des Kunstwerks, Luzidität des Künstlers (der Künstlerin).»8 Zehn Tage vor ihrem neunzigsten Geburtstag ist Dorette Huegin am 12. Juni 2018 gestorben. Der Trost vor dem Tod war die Rose im Licht, die Tochter Veronika täglich ans Bett brachte.

1 Felix Philipp Ingold: Retrospekulative.
Dorette Huegin, Basel 1980.

2 Vgl. Dorette Huegin-Straumann: Jugenderinnerungen
an die Krisenjahre. Grosse Ereignisse
werfen ihre Schatten voraus, 1. September 1939,
in: René Salathé (Hg.): Jugendjahre in der
Nordwestschweiz 1930–1950, Basel 2012,
S. 64–77.

3 Vgl. Brigitta Hauser-Schäublin: Blick in die
lichte Ferne: Dorette Huegin, in: z’Rieche 1988,
S. 80–90.

4 Ebd.

5 Kiki Seiler-Michalitsi: Dorette Huegin.
Ausstellungskatalog Kunst Raum Riehen im
Berowergut 04.04.–03.05.1998, Riehen 1998.
Der Katalog enthält ein Ausstellungsverzeichnis.

6 Dorette Huegin: Erinnerungen, Manuskript,
Privatarchiv.

7 Vgl. Dorette Huegin: Gesüsster Wind. Gedichte,
Basel 1983.

8 Ingold 1980.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2018

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