Mandeln in der Nacht

Simone Lüdi

Es ist dunkel. Nacht.


Ich sitze auf einem kleinen Holzschemel in diesem Laden, weil mich meine Mutter vergessen hat. Es ist unheimlich und mein Herz klopft schneller als sonst. Ich höre jedes Geräusch, doch wenn ich es mit grossen Augen erfassen möchte, blicke ich ins Dunkle. Nur die weissen Täfelchen vom Schrank kann ich erkennen, ein leichter Schein von draussen lässt sie glitzern. Ich weiss nicht genau, was alles da drin ist, ich kenne nur eine Schublade und da sind Mandeln drin, die mag ich so gern, doch wir kaufen sie so selten. Die Mandeln sind fast zuunterst und in der Mitte, und ich glaube, ich kann sogar ein grosses M auf einem Täfelchen erkennen.


Ich hätte Lust, aufzustehen und die Schublade zu öffnen, doch ein knarrendes Geräusch lässt mich wie angenagelt auf dem Schemel bleiben.


Ob da vielleicht jemand kommt? Stimmen.


Ich könnte schreien, aber ich getraue mich nicht, es ist so still und ich möchte gerne noch eine Mandel. So bleibe ich sitzen, warte, blicke mit zusammengekniffenen Augen auf die Täfelchen, um ein paar Buchstaben zu erkennen, aber es ist anstrengend mit so wenig Licht. Am Tag ist es einfacher und alles scheint lebendig zu sein, doch nieinen Atem höre ich dann nicht so gut wie jetzt.


Wieder ist alles still.


Ich blicke um mich, sehe keine Geräusche, nur die Mandelschublade. Langsam versuche ich aufzustehen, ohne dass es zu fest knarrt, und mein Herz klopft noch viel wilder. Noch zwei Schritte, doch ich verharre einen Moment, lausche, bilde mir Geräusche ein, versuche sie wieder zu vergessen und wage es ganz an den Schrank. Ich kann ihn berühren und die Täfelchen und Griffe fühlen sich kalt an.


Was ist da alles drin?


Ich erkenne Buchstaben und Wörter, doch ich verstehe sie nicht alle.


Was ist Tapiola oder Brusttee?


Bald habe ich die Mandeln gefunden, öffne langsam die Schublade mit beiden Händen, ganz gespannt und vorsichtig - sind da jetzt wirklich Mandeln drin? Die rechte Hand greift hinein, es sind wirklich Mandeln und schon sind sie in meinem Mund.


Mm. Licht.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2001

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