Mein Graf

Valentin Herzog

— Dieses Bild...

— Dieses Bild hat keinen Preis. Ich verkaufe es nicht.

— Sie müssen entschuldigen. Der Fehler liegt natürlich bei mir. Als Kunsthändlerin sollte man sich wohl kein Bild in seine Galerie hängen, das man nicht verkaufen will. Aber dieses Bild muss hier hängen.

— Nein, Sie sind nicht der erste, ganz und gar nicht. Dieser Tage hat mir ein alter Kollege aus Aarhus fünfzigtausend Kronen dafür geboten. Ich bitte Sie: fünfzigtausend für ein unsigniertes Aquarell von einem Maler, den niemand kennt.

— Ich? Natürlich kenne ich ihn, das heisst, ich würde ihn sofort wiedererkennen, ich glaube es wenigstens... Aber ich weiss nicht, wer er ist. Und ich gäbe viel darum, wüsste ich das.

— Bemühen Sie sich nicht. Es ist noch niemand gelungen, das Bild zu fotografieren.

— Nicht dass ich etwas dagegen hätte, absolut nicht. Aber die Sache ist die: Man kann das Bild nicht fotografieren. Ich habe es immer wieder versucht, auch Freunde von mir, Berufsfotografen — das Ergebnis war immer das gleiche: ein vollkommen schwarzes Negativ. Egal, ob man mit Tages- oder Kunstlicht arbeitete, was für Kameras, Filme, Filter, Blenden und Verschlusszeiten wir auch verwendeten — das Negativ sah immer aus, als wäre es zehnmal zu lang belichtet oder von irgendwelchen Strahlen zerstört worden.

— Eine Erklärung dafür gibt es nicht. Und zu einer Laboruntersuchung mag ich das Bild nicht hergeben — es käme dabei wohl auch nichts heraus.

— Kopieren lässt es sich übrigens auch nicht. Vor ein paar Jahren — ich war gerade nach Kopenhagen zurückgekehrt und hatte fast ohne eigenes Geld diese Galerie hier eröffnet — da beschloss ich einmal, statt zweitklassiger Provinzmaler einige der besten Kopisten Europas zu einer Ausstellung einzuladen; es war recht mühsam, denn diese Herren sind meist sehr auf Diskretion bedacht, aber schliesslich schickten sie doch ihre Meisterwerke von Rembrandt bis Picasso, und einige erschienen sogar persönlich zur Vernissage. Zwei von ihnen versuchten anderntags, das Bildchen da zu kopieren. Der eine zerriss sein Blatt nach ein paar Stunden; der andere quälte sich zwei Wochen, dann gab er auf, um, wie er sagte, nicht verrückt zu werden. Stellen Sie sich vor: Ein Mann, der in 48 Stunden einen Cézanne oder Renoir hinlegt, den kaum ein Experte noch vom Original unterscheiden kann — und vor dieser schlichten Landschaft eines Unbekannten versagt er, nicht einmal das Papier kann er identifizieren, geschweige ein gleiches finden. Nehmen Sie doch einmal diese Lupe, dann sehen Sie es genau: Es scheint ein ganz gewöhnlicher Halbkarton zu sein, glatt und ohne eigene Struktur. Doch wo der Pinsel des Malers das Papier berührt hat, da treten wie aus einem verborgenen Untergrund Fasern, winzige Rippen, Gitter, verschlungene Linien hervor. Dann die Farben. Es sind gewöhnliche Aquarellfarben. Der Kopist mischt sie mit grösster Sorgfalt nach, doch sobald sie auf seinem Blatt nebeneinanderstehen, stimmen sie nicht mehr. Endlich die Zeichnung. Gibt es etwas Einfacheres, werden Sie sagen. Diese paar Bäume, diese Aussichtsterrasse mit ihrer Stützmauer, ihrer Balustrade, dem lebensgrossen Bronzepferd in der Mitte, diese zierlich geschwungene Freitreppe, das bisschen Rasen im Vordergrund. Jeder Dilettant könnte das malen. Doch jener Mann, der einen Manet aus dem Handgelenk und gewisse van Goghs aus dem Kopf hinpinselt, ist nicht einmal imstande, die Linien dieser Treppe genau wiederzugeben.

— Es ist nicht zu glauben. Ich habe es nachgemessen: Auf den Millimeter stimmten seine Pinselstriche mit denen des Originals überein, und doch sah jeder Laie auf den ersten Blick, dass die Kopie kaum entfernte ähnlichkeit mit dem Original besass; der Stein blieb leblos, das Pferd stand völlig unnatürlich in der Gegend, und die Bäume — waren nichts weiter als Bäume, während hier... schauen Sie: Man meint Gesichter, Fratzen, Masken darin zu erblicken, und zwar immer neue, immer andere, immer mehr, je länger man hinschaut. Es ist zum Verrücktwerden...

— Mögen Sie die Geschichte hören? Sie ist traurig, kurz und im Grunde banal wie alle solchen Geschichten. Doch wenn Sie einen Kaffee mit mir trinken und einen Schnaps...

— Es war neunundsechzig. Ich studierte damals in München, das heisst die meiste Zeit war ich unterwegs, um Material für meine Dissertation zu sammeln — Darstellungen von Kurtisanen in der Grafik des späten fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhunderts. Ich träumte damals noch von einer akademischen Laufbahn und meinte, ich müsse glücklich darüber sein, dass mein Professor mich überhaupt unter seine Doktoranden aufgenommen und mir ein — wie er meinte — typisch weibliches Thema gegeben hatte.

Mehrere Wochen hatte ich in Mailand gearbeitet, vorwiegend in der Ambrosiana; dann beschloss ich plötzlich, nicht wie geplant nach Florenz zu gehen, sondern meine Nachforschungen in Basel fortzusetzen...

— Sie kennen Basel?

— Sie kommen aus Basel. Dann muss ich Ihnen ja nichts über die Schätze des Kupferstichkabinetts und der Universitätsbibliothek erzählen. Die Leute waren dort übrigens sehr nett zu mir, und verschiedentlich konnte ich auch private Sammlungen besuchen. Eines Sonntags fuhr ich nach Riehen, einem Villenvorort... Ein Dorf? Dieses Villenquartier nennt sich Dorf? Das finde ich sehr kokett. Nun, es mag seine Gründe haben. Jedenfalls wollte ich dort einen privaten Sammler besuchen, der Inkunabeln von unschätzbarem Wert besitzen sollte. Ich hatte mich telefonisch angemeldet, doch der Herr war nicht zu Hause. So schlenderte ich ziellos durch die stillen Strassen, spähte hier und da in die so sorgfältig gegen die Aussenwelt abgeschirmten Gärten, ohne einen einzigen Menschen zu entdecken. Wo waren die Bewohner dieser Häuser? Sassen sie alle an diesem prachtvollen Sommertag in ihren Zimmern — oder in noch versteckteren Gärten, die man von keiner Strasse aus sieht? Die Frage beunruhigte mich. Ich hätte zu gerne gewusst, wie alle diese Leute leben, oder wenigstens, wie sie ihren Sonntag verbringen. Gab es hier keine Kinder, die auf dem Rasen hätten Federball spielen können oder Krocket — falls man das in der Schweiz kennt?

Nach einiger Zeit geriet ich zufällig in einen hübschen kleinen Park, und da erlebte ich eine neue Uberraschung. Wohl gab es hier Spaziergänger, ältere Leute, Mütter und Väter mit Kindern, Liebespaare sogar; aber alle wandelten auf dem einen schmalen Strässchen, das sich talabwärts durch die Anlage zog; kein Mensch betrat die lockenden Kiespfade, die in die Tiefe des Parks hineinführten. Dabei gab es keine Absperrung, keine Wächter; kleine Täfelchen «Privat», die man spielend hätte übersehen können, genügten als Barriere; nur «Privat» stand darauf, nicht einmal «Betreten verboten»; doch eine Mutter, die sah, wie ihr Kind in einen dieser Wege hineinspazierte, riss es mit einer Hast zurück, als müsste sie es vor einer entsetzlichen Gefahr bewahren.

Der Park gehört, wie Sie wohl wissen, zu einem bescheidenen, bürgerlichen Schlösschen. Als ich einen der «privaten» Seitenwege einschlug, um das Bauwerk etwas näher in Augenschein zu nehmen, glaubte ich einen halblauten Zuruf hinter mir zu vernehmen, in dem jedenfalls das Wort «verboten» vorkam, doch als ich mich umdrehte, schaute niemand zu mir hin. So entschloss ich mich, als Ausländerin nur das zu verstehen, was ich verstehen wollte, und tatsächlich hinderte mich niemand, den Wenkenhof von allen Seiten zu betrachten. Ich spähte sogar in die Fenster, die Räume waren vollkommen möbliert und schienen doch unbewohnt. Kein Mensch zeigte sich.

Beim Weggehen muss ich mich in der Richtung geirrt haben, jedenfalls kam ich nicht in den Park zurück, sondern stand nach einigen Schritten vor einem kolossalen schmiedeeisernen Gittertor, das ich nur mit äusserster Kraft öffnen konnte; ich Hess es offen, überquerte eine belebte Strasse und trat auf diese Terrasse mit dem Bronzepferd hinaus — Sie werden sie ja kennen und wissen, was für einen grossartigen Blick sie bietet.

Im Ernst: Ich mag diese Silhouette von Basel mit all den Hochhäusern, Kaminen, Fabrik- und Lagerhallen, zwischen denen ein paar gotische Kirchtürme wie Gartenzwerge hervorgucken. Allenfalls belustigte es mich, dieses Panorama mit einer Fotografie zu vergleichen, die ich kurz zuvor gesehen hatte und die vor einigen Jahrzehnten vom gleichen Punkt aus aufgenommen sein musste, auf dem ich jetzt stand; dieses Bild erweckte doch tatsächlich den Eindruck, als liege Basel im Schatten der Münstertürme, und heute hat man das Gefühl, dass diese Türme kaum noch aus dem Häusermeer herausragen. Nur die fernen Höhenzüge des Jura sind gleichgeblieben.

Unterhalb der Terrasse dehnt sich, wie Sie wohl wissen, eine weite Rasenfläche mit Spaziergängern, die alle höchst gesittet auf den Wegen bleiben... Das hat sich geändert? Erfreulich. Damals war es so. Deshalb fiel mir auch jener Mann sofort auf, der gerade in der Mitte zwischen zwei Wegen auf dem Boden sass und offensichtlich zeichnete oder malte. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass mich Sonntagsmaler seit jeher geärgert haben. Ich ging also hinunter, stellte mich ziemlich unverfroren hinter den Mann und sah ihm zu, wie er mit einem Pinselchen von der Grösse eines Zahnstochers im verschmierten Deckel seines lächerlich winzigen Farbkästchens herumwischte, um dann ein paar nervöse Tupfer auf sein halbfertiges Blatt zu setzen. Ich blieb hartnäckig stehen; vermutlich suchte ich einfach irgendetwas, worauf sich jene Gereiztheit konzentrieren konnte, die sich meiner bemächtigt hatte, seit ich zwischen all diesem diskreten Privatbesitz herumspazierte.

Ich blickte in ein scharf gezeichnetes, eher junges Gesicht, als der Mann endlich zu mir aufsah. Ich war enttäuscht, ich hatte ihn für älter gehalten. Meiner Vorstellung nach haben Sonntagsmaler entweder Rentner zu sein oder Beamte ohne Karriere, Studienräte, frustrierte Maschineningenieure. «Störe ich Sie?» fragte ich. Und da der Mann nicht aufhörte, mich schweigend von unten herauf anzusehen, fuhr ich etwas zusammenhanglos fort: «Sie sind weder Rentner noch Beamter, kein Lehrer und kein Ingenieur. Warum sitzen Sie hier im Gras und malen ein so banales Bild? übrigens stimmt die Perspektive nicht ganz: Die Stützmauer der Terrasse ist viel zu hoch geraten und die Bäume stehen zu nahe dabei...» Ich erschrak — ich hatte eigentlich nicht unhöflich werden wollen — und mit dem nächsten Satz machte ich alles noch schlimmer: «Sie wollen doch, nehme ich an, ein realistisches Bild malen — wie fast alle Sonntagsmaler.»

Ich schwieg.

Die Stimme, die mir schliesslich antwortete, war die eines alten Mannes: «Danke für die Belehrung. Malen Sie selbst? Natürlich nicht, Sie sind Kunsthistorikerin, nicht wahr? Dänin, oder irre ich mich, Fräulein...?» «Muriel Ekland», erwiderte ich automatisch. «Woher wissen Sie...»

«Warum sollte ich Sie nicht beobachtet haben, im Kupferstichkabinett beispielsweise? Sie schreiben eine Arbeit, eine Dissertation vermutlich, über erotische Szenen in der Grafik der Jahrhundertwende.»

«über die Darstellung der Kurtisane im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert», verbesserte ich. Er nahm es gelassen zur Kenntnis.

«Sie kennen», sagte er, «vermutlich die Augsburger Dekameron-Ausgabe von 1490? Nein! Die müssen Sie sich unbedingt vorlegen lassen. Dort ist die niederträchtigste Dirne dargestellt, die ich kenne, die Madonna Jancofiore aus der zehnten Geschichte des achten Tages; wie sie nackt und mit einem Gesicht, das ganz spitz wird vor Gier, vor ihrem Liebhaber sitzt und ihm die letzten Dukaten aus dem Säckel zieht. Ich habe ja manches Mädchen von mancher Art gezeichnet, aber so etwas, und mit so einfachem Strich...»

Er schien sich in Erinnerung verlieren zu wollen.

«Danke», sagte ich, «vielen Dank für den guten Tip, und auf Wiedersehen Herr...»

«Graf— Urs Graf.»

«Wie der grosse Urs Graf der Strassburger PassionsHolzschnitte?»

«Und der Landsknechte, vergessen Sie meine Landsknechte nicht! und meine Frauen, meine Dirnen, die Sie ja wohl kennen, Fräulein Ekland. übrigens — so bleiben Sie doch, warum wollen Sie schon gehen, ich bin ein alter Mann und habe selten Gelegenheit, mit jemandem vom Fach zu plaudern — übrigens habe ich nicht ganz verstanden, was Sie da vorhin an meiner kleinen Skizze auszusetzen hatten.»

Um rasch loszukommen, denn dieser Mann, der die ganze Zeit fast bewegungslos am Boden sitzenblieb, war mir unbehaglich geworden, warf ich nochmal einen Blick auf das Blatt, das er mir jetzt hinhielt. Doch konnte ich nun beim besten Willen keine perspektivische Ungenauigkeit mehr entdecken. Die Mauer der Terrasse erhob sich mit jenem knappen Schwung aus dem Untergrund, den sie wirklich hat, die gemalte Freitreppe teilte sich mit genau der gleichen eleganten Linie, wie die wirkliche, die Baumkulisse stand so da, wie Sie es hier sehen und wie sie in Wirklichkeit ist. Es musste mir entgangen sein, dass dieser Mann, der sich Urs Graf nannte, während unseres Gespräches mit unheimlicher Behendigkeit weitergemalt hatte; jedenfalls erschien mir das Bild viel fertiger als vorher, eigentlich fehlte nur noch der Himmel. Irritiert bemerkte ich, ich hätte im Grunde überhaupt nichts auszusetzen, ich hätte mich nur gefragt, warum man, wenn man doch kein Sonntagsmaler sei, sonntags auf einer grünen Wiese zwischen nervösen Spaziergängern sitze und eine, zugegebenermassen ganz hübsche, aber alles in allem doch recht triviale Parklandschaft abmale. «Lügen können Sie aber nicht so gut», unterbrach er mich, «Sie haben ganz andere Dinge gesagt. Aber lassen wir das. Von Ihrem Standpunkt aus haben Sie ganz recht — Sie werden einmal eine tüchtige Kunsthändlerin.»

Das traf mich. Kunsthändlerin war damals so ungefähr das letzte, was ich werden wollte. Statt dass ich machte, dass ich aus der Reichweite dieses Verrückten kam, fragte ich gereizt zurück, was denn mein Standpunkt sei und woher er die Sicherheit nehme, meinen Standpunkt zu kennen.

«Ihr Standpunkt, verehrtes Fräulein, ist sehr einfach: Für Sie ist die Kunst eine Ware, und dementsprechend handeln Sie damit. Heute handeln Sie damit, indem Sie ein paar Tausend Kupferstiche und Holzschnitte in ein paar Dutzend Museen untersuchen, und das, was Sie nach den Weisungen Ihres Professors und den Anleitungen arrivierter Wissenschaftler darin gesehen zu haben glauben, das verpacken Sie dann in den Jargon Ihres Faches und tauschen es ein gegen einen Doktorhut, der Ihnen dann wieder helfen wird, Ihr täglich Brot zu verdienen und vielleicht noch etwas Kaviar drauf, wenn Sie geschickt genug sind bei dem Handel. Dieses Geschäft setzen Sie fort bis an Ihr Lebensende — vielleicht, dass an Stelle der Worte über Bilder einmal Bilder selbst treten: Sie eröffnen eine Kunstgalerie. Nein? Ich kann mich täuschen, vielleicht leiten Sie ein Museum oder eine Kunstzeitschrift, werden Expertin oder Professor für Kunstgeschichte. Es kommt alles auf dasselbe heraus: Sie verkaufen Kunst.

Sie verachten Sonntagsmaler — mit Recht, ich hasse sie auch — aber Sie verachten sie aus dem falschen Grund, nämlich... nämlich...?»

«Weil das keine Kunst ist, was sie machen», erwiderte ich folgsam wie eine kleine Schülerin, die aufgerufen worden ist, weil sie allzu offenkundig nicht dranzukommen wünschte. Und bevor ich Zeit hatte, mich über meine idiotische Folgsamkeit zu ärgern, fuhr er schon fort: «Du verachtest die Sonntagsmaler, die Rentner, Lehrer, Beamten und Ingenieure, die sonntags auf einer Wiese sitzen und eine triviale Parklandschaft abmalen, statt Kunst hervorzubringen, was sie gar nicht können. Nur der Künstler bringt Kunst hervor, denkst du, so wie ein Webstuhl Stoff hervorbringt, eine Rotationspresse Zeitungen und eine Werkzeugmaschine beispielsweise Motorengehäuse. Und wo kämen wir hin, denkst du, wenn der Webstuhl plötzlich Zeitungen druckte und die Werkzeugmaschine Blumensträusse auswürfe. Was sollte man auch mit all den Blumensträussen machen.

Ach Kind, wenn du wenigstens deinen Marx verstanden hättest, dann wüsstest du, dass der Mensch überhaupt nichts hervorbringt, dass also auch der Künstler, da er ja ein Mensch ist, nach dem bekannten Satz von der Identität nichts hervorbringt — NICHTS, hörst du! genauso wenig wie dein Sonntagsmaler — sondern dass er hervorgebracht wird, Her-vor-gebracht, wenn du das verstehen kannst.

Du sagst, Fräulein Muriel Ekland, mit dem akademisch geschulten Verstand deiner sechsundzwanzig Jahre, man könne doch heute nicht mehr sonntags im Gras sitzen und eine Landschaft — eine höchst künstliche übrigens, wenn ich dich darauf aufmerksam machen darf — malen, so wie sie ist. Heute! Wie der Bankier sein Kapital mit der Zeit und dem Zinsfaktor multipliziert, so behandelt ihr die Kunst: Impressionismus mal hundert Jahre gibt ein Vermögen — an Geld oder an wissenschaftlichen Fragen. Wenn du wüsstest, was Kunst ist... nichts. Ich habe keine Lust, Muriel Ekland, dir das zu erklären. Aber du hast einen schönen Namen, ich schenke dir etwas.»

Mit einem zierlichen Goldmesserchen begann er sein Bild vom Aquarellblock loszuschneiden, hielt aber plötzlich inne: «Da du nun einmal gegen das realistische Abbild der Wirklichkeit bist, sofern es neunzehnhundertneunundsechzig gemalt ist und nicht achtzehn-, siebzehn-, sechzehn- oder gar fünfzehnhundertneunundsechzig, schenke ich dir noch etwas Phantasie. Schau her!»

Er huschte mit dem Pinsel über die gemalten Bäume (der Himmel darüber, so wie Sie ihn hier sehen, war mittlerweile fertig geworden, ohne dass ich bemerkt hätte wie).

«Siehst du all die Gesichter hier in den Bäumen? Sie sollen dich an den alten Urs Graf erinnern. Nimm es ruhig, Muriel aus Thüle, nimm es, ich hätte es sonst weggeworfen, wie ich seit ein paar hundert Jahren fast alles wegwerfe, denn Kunst, Kunst ist...»

Er hinkte davon. Nach ein paar Schritten hielt er inné: «Seit 1529 signiere ich grundsätzlich kein Bild mehr. Als Kunsthistorikerin solltest du das wissen. Dir zuliebe hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht, aber ich will nicht, dass das Blättchen da zur Ware wird — es soll dir eine Lehre sein.» Glauben Sie mir, dass ich an jenem Abend so viel Grappa trank, bis die Freunde, bei denen ich eingeladen war, mich bewusstlos in ein Bett packten.

Erst Wochen später — ich war, um mich ein wenig zu erholen, im September nach Schottland zu meiner Schwester gefahren, wagte ich, das Bild wieder anzusehen. Und sofort übte es diesen Zauber auf mich aus: Mir war, als könnte man, wenn es gelänge, in dieser Landschaft zu bleiben, ein anderer Mensch werden. Meiner Schwester ging es ähnlich und allen, die das Bild betrachteten.

Ich fuhr sofort nach Basel zurück. Es musste ein leichtes sein, dachte ich, diesen Mann wieder ausfindig zu machen. Doch auf der Bibliothek wie im Museum lachte man mich nur aus, als ich nach einem lebenden Maler fragte, der sich Urs Graf nennt. Und meine Beschreibungen des Mannes, das fühlte ich selbst, blieben ungenau und lösten nur Kopfschütteln aus. Einzig ein sehr alter Bibliothekar, der, obwohl längst pensioniert, gelegentlich in der Handschriftenabteilung aushalf, bat mich, meine Schilderung zu wiederholen, meinte dann, einem solchen Mann müsse er hier schon begegnet sein, es sei aber lange her.

«Ja», fügte er hinzu, «es war in jenem heissen Sommer, in dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Aber der Mann, den Sie suchen, ist damals schon sehr alt gewesen...»

Ich begab mich sogar in die örtliche Nervenklinik, aber die hatten noch nie einen Patienten gehabt, der sich für Urs Graf hielt. Ob er mir mit einem Gaugin dienen könne, fragte der Oberarzt, der sei allerdings gross, blond und schlank und passe auch sonst nicht zu meiner Beschreibung.

Seither suche ich meinen Urs Graf, aber kein Lexikon, kein Auktions- oder Ausstellungskatalog hat mir bisher den leisesten Fingerzeig gegeben. Noch heute nach zehn Jahren kann ich keine Fachzeitschrift, kein neues Buch in die Hand nehmen, ohne die beklemmende Spannung zu verspüren: Werde ich, wenn ich die Seiten hastig durchblättere, auf ein Bild stossen, das diesem hier gleicht, auf eine Fotografie seines Malers oder auf den Namen Urs Graf in einem Artikel, der von einem zeitgenössischen Künstler handelt und nicht von dem Basler Zeichner, Holzschneider und Goldschmied, der fünfzehnhundertneunundzwanzig gestorben ist.

Ich besuche keine Vernissage, keine Ausstellung, keine Auktion, ohne zu erwarten, dass er hinter einer Säule hervortritt oder sich plötzlich aus einem Menschenknäuel löst. Es klingt verrückt, ich weiss, aber selbst wenn ich irgendwo in einen Park gehe, ertappe ich mich dabei, wie ich Rasenflächen und Bänke absuche, ob da nicht einer sitzt wie er und malt. Sie sind ihm wohl auch nie begegnet? Er hat etwa Ihre Statur, dichtes, graues Haar, das in eigentümlichem Gegensatz steht zu seinem ganz jugendlichen Gesicht; er hinkt ein wenig, benützt aber keinen Stock; man könnte ihn für fünfundzwanzig haken oder für fünfundvierzig, und wenn man seine Stimme hört auch für achtzig.

Entschuldigen Sie, es ist natürlich eine dumme Frage. Aber es macht mich einfach krank, dass ein Mensch, der so malen kann, frei herumläuft, irgendwo, und seine Bilder wegwirft.

Ob dieses Bild mir eine Lehre gewesen sei? Wie meinen Sie das?

übrigens: Nehmen Sie noch einen Kaffee? oder einen Aquavit, ein Lebens-Wasser?

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1980

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