Mein letzter Feldzug

Hans Derendinger

Das war im März des Jahres 1945, an einem Montagvormittag, wenige Wochen vor Kriegsende. Auf ausgestorbener Station entstieg ich dem Zug und erreichte nach kurzem Marsch den Einrückungsort. Meine Truppeneinheit hatte sich in der vergangenen Nacht aus einer grossen schweizerischen Grenzstadt, deren Namen ich im Interesse unserer Landesverteidigung verschweige, in den weniger bedeutenden, aber dennoch ebenfalls zu verschweigenden Vorort M. zurückgezogen und hier neue Kantonnemente belegt. (Zur Vermutung des Lesers, dass es sich bei der Grenzstadt um Basel handeln könnte, darf ich aus den erwähnten Gründen nicht Stellung nehmen).

Diese strategische Bewegung schien mir in seltsamem Widerspruch zur überstürzten Einberufung eines studienhalber beurlaubten Korporals zu stehen: War die Lage schon so ernst, dass man auf mich als letzte Reserve greifen zu müssen glaubte, wie konnte da ein hohes Kommando gleichzeitig Truppen von der Grenze abziehen? Indessen, das wird ein Korporal nie verstehen. Darum hat er es ja auch nicht weiter gebracht.

Ich fand das Nest beinahe leer, die Truppe lag irgendwo im Feld. Der Küchenchef offerierte mir «Spatz» und Salzkartoffeln, dazu Kabissalat. Womit ich bereits vollkommen akklimatisiert war. Nach dem Essen eröffnete mir der im Dorf zurückgebliebene Feldweibel, ich hätte Befehl, mit seinen Spezialisten, dem Sattler, dem Büchser, dem Magaziner und den beiden Offiziersordonnanzen, das Armeeprogramm zu turnen. Dazu also hatte man mich von meinen Büchern weggerufen!

Es wurde ein nicht allzu strenger Nachmittag; ich mochte die Leute nicht plagen und sie mich auch nicht. Gegen Abend tauchte die Truppe auf und mit ihr der Hauptmann. Und wir turnten das Armeeprogramm. Der Hauptmann lächelte befriedigt, als er mich sah. Das hiess: Nicht wahr, Sie mit Ihrem Dispens, nun haben wir Sie doch noch erwischt!

 

Für die Nacht bezog ich zusammen mit Seppli, unserem jüngsten Korporal, ein Dachzimmer, dessen genaue Lage und Zugänge wir unserer Weckordonnanz in gemeinsamer Anstrengung umständlich erklärt hatten. Wir schliefen den Schlaf des gerechten Korporals. Einmal nur, es mochte um drei Uhr sein, wurde Seppli unruhig und weckte mich: «Hast du gehört?»

«Was hörst du? Ich höre nichts!»

Ich hörte zwar etwas, das dem gedämpften Lärm einer aufbrechenden Truppe gleichen mochte, empfand aber wenig Lust, darüber Gewissheit zu erlangen. Ein Soldat und besonders ein Korporal hat niemals Angst, auch nicht Angst, einen Alarm zu verschlafen. Wenn etwas daran wäre, sagte ich, dann hätte uns unsre Ordonnanz geweckt. Dieser überlegung konnte sich Seppli nicht verschliessen, und er kroch wieder ins Bett.

Der Morgen darauf war von ungemeiner Ruhe. Als wir dem Frühstückstisch entgegenmarschierten, schienen wir die einzigen Korporale in einer friedlichen Welt zu sein. Seppli indessen wollte an diesem Frieden nicht Gefallen finden; er war immer einen Schritt voraus und hielt nervös nach Uniformen Ausschau.

Der Frühstückstisch war unberührt, die Wirtschaft leer.

«Siehst du,» fing Seppli jetzt an, «sie sind weg, es war eben doch ein Alarm!»

In der Küche konnte uns ein Zurückgebliebener über die Lage unterrichten. Der Bataillonskommandant, wie immer darauf bedacht, die Einsatzbereitschaft seiner Truppe auf die Probe zu stellen, hatte mitten in der Nacht einen Alarm ausgelöst und sein Bataillon im Bereich des Unterkunftsraumes spazieren geführt. Mitten in dieses sozusagen private Manöver war dann, von höherer Stelle befohlen, der Kriegsalarm geplatzt. Man hatte das Bataillon suchen und an die Landesgrenze beordern müssen. Ohne Seppli und mich ging es der Kriegsbewährung entgegen, in seiner Kampfkraft insofern geschwächt, als für den Probealarm ausser dem Brotsack nur der Gamellendeckel befohlen worden war, während der Divisionskommandant für seinen Kriegsalarm ausdrücklich die ganze Gamelle dabei haben wollte.

«Wir machen also eher bessere Figur», versuchte ich Seppli zu trösten; «wir werden gemäss Divisionsbefehl ausgerüstet sein, das Bataillon aber marschiert mit blossem Gamellendeckel!»

Seppli war nicht zu trösten, er drängte auf schleunigen Aufbruch. Genau nach Divisionsbefehl ausgerüstet, marschierten wir wenig später der Grenzstadt zu, den Blick in die Ferne gerichtet, von wo Kanonendonner zu uns herüber drang, dass die Spatzen und Seppli und ich verstummten. In Stadtnähe, wo die Strasse sich mehr und mehr belebte, fand es Seppli an der Zeit, den Helm aufzusetzen; schliesslich sei dies ein Kriegsalarm. In der Nachbarschaft so vieler friedlicher Menschen, die unbeirrt ihrer Arbeit nachgingen, schien mir dies eine eher übertriebene Massnahme. Aber er hatte den Helm bereits aufgesetzt, und um nicht unnötig aufzufallen, tat ich wie er.

In einer endlosen Allee stiessen wir nach einigem Suchen auf unsere Kompanie. Als wir uns beim Hauptmann mit gehöriger Achtungstellung anmelden wollten, winkte er ab; hier stand niemand stramm, hier lag alles in Deckung, bemüht, sich nicht zu verraten. Das war unser Glück, er musste sein Donnerwetter im höhern Landesinteresse auf Kammerton mässigen, so fiel es eher glimpflich aus.

Den ganzen Morgen lagen wir da, es geschah nichts. Um die Mittagszeit erreichte uns der Befehl, die Truppe zu verpflegen. Seppli und ich stellten der Fassmannschaft grosszügig die hier so seltenen Gamellen zur Verfügung, womit unser Zug beträchtlich rascher zu seiner Suppe kam als die andern.

«Das haben wir eben organisiert», meinte unser Leutnant grinsend zu seinem Kollegen vom ersten Zug.

Um zwei Uhr nachmittags kam Befehl zum Aufbruch. Die Alliierten hatten, so hiess es, entlang der Schweizer Grenze die Deutschen zurückgeworfen und den Rhein überquert; es bestand Gefahr, dass abgedrängte Truppenteile sich auf neutralen Boden zu retten versuchten. Dem hatte unser Bataillon zuvorzukommen. Den Helm tief ins Gesicht gedrückt, marschierten wir auf sanft ansteigender Strasse ins Ungewisse, eine endlose Kolonne, die Pferde mit jedem Schritt ergeben nickend. Daneben, auf dem Trottoir, Frauen mit Kinderwagen und Knaben und Mäd chen jeden Alters, voll Neugier mit uns Schritt haltend und, wie es schien, trotz fernem Kanonendonner ohne Furcht vor kriegerischen Verwicklungen. So bewegte sich in der selben Richtung ein Kriegszug und ein Friedenszug, dass man sich fragen musste, wem die nächste Stunde wohl recht geben würde, den Soldaten mit ihren Minenwerferkarren oder den Frauen mit ihren Kinderwagen.

Während wir die Anhöhe gewannen, verstummte drüben der Gefechtslärm. Eine Rauchfahne wehte über das Land, müd wie der zu Ende gehende Krieg. Die Kolonne stockte, dann stand sie still. Von vorn Befehle, die Pferde auszuspannen, die Karren aufzubocken. Die Stellung, in die wir zugsweise geführt wurden, erwies sich bei näherer Betrachtung als umfangreiche Gartenwirtschaft, worin bereits eine Vorhut der Frauen Platz genommen hatte.

«Pause! Austreten!»

Wir konnten es nicht fassen. Als aber der Hauptmann sich ohne weitere Umstände hinsetzte, eine Serviertochter herbeiwinkte und mit vernehmlicher Stimme ein grosses Bier bestellte, da wussten wir, dass dies das Ende unseres Feldzuges war, und dass die Frauen und die Kinderwagen Recht bekommen hatten. Wir verspürten plötzlich einen unendlichen Durst, und die Serviertöchter der «Chrischona» hatten an diesem Nachmittag Arbeit wie nie zuvor in diesem langen Krieg. Hinter unserem Bier sitzend, schauten wir von Zeit zu Zeit nach Deutschland hinüber und schämten uns vor dem aufsteigenden Rauch fast ein wenig unseres Feldzuges, der ein so biederes Ende genommen hatte, ein so ganz anderes als dort drüben . . .

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1979

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