Mir bruuche di
Marianne Prack-Karlin
In meiner Jugendzeit war Riehen noch ein richtiges Bauerndorf. Bauernhäuser mit ihren grossen Scheunentoren säumten die Strassen, Pferde und Kühe gehörten zum Alltag, und der Jahresablauf war geprägt von den bäuerlichen Arbeiten.
Ich wurde im Jahre 1906 geboren und wuchs auf dem elterlichen Hof an der Oberdorfstrasse 33 auf. Das Gut an seiner Stelle steht heute die Alterssiedlung Drei Brunnen - reichte von der Oberdorfstrasse bis zur Inzlingerstrasse und umfasste das Wohnhaus mit dem grossen Pferdestall, die Scheune mit dem Kuhstall, den neuen Pferdestall, die Droschkenremise und den Wagenschopf. Hinter dem Haus lagen Schweinestall, Waschhaus mit Backofen und Räucherkammer, der Hühnerhof, ein grosser Grasgarten und der Baumgarten. Dazu kamen «Bunten»1), äcker und Matten, verteilt über den halben Gemeindebann. Weil mein Vater, Fritz Karlin-Löliger, neben dem Bauerngewerbe auch eine Fuhrhalterei und eine Kiesgrube betrieb, gehörten neben den Eltern und Grosseltern, meinen drei Brüdern und mir auch Knechte, Fuhrleute und Melker zum Haushalt.
Leider starb meine Mutter, Amelie Karlin-Löliger, als ich fünfeinhalb Jahre alt war. Meine Grosseltern im Meierhof, Ludwig und Maria Löliger-Salathe, und die Geschwister meiner Mutter machten es sich zur Pflicht, uns zu helfen; meinen jüngsten Bruder Hans, der erst viereinhalb Monate alt war, nahmen sie zu sich und betreuten ihn liebevoll. Auch wir Grösseren fühlten uns im Meierhof stets daheim bei der über alles geliebten «Urähni» und dem Grossvater. Nie werde ich die Ostersonntage im Meierhof vergessen, wo wir Grosskinder im Garten den Osterhasen suchen durften, jedes mit einem Körblein und die Mädchen im schönsten Sonntagsschürzlein.
Ich war nun stets mit meinen älteren Brüdern zusammen. «Bliibed binand und lueged uf d'Mariann!», sagte mein Vater oft. Auf der Strasse hatten wir nicht viel zu suchen, und fremde Kinder durften nicht in unseren Hof kommen, weil dort alle möglichen elektrischen Maschinen und Apparate standen, die für andere Kinder eine Gefahr bedeuten konnten. So nahmen mich die Brüder immer mit, wenn sie auf dem Feld halfen. Im Frühling mussten wir die Matten säubern, Steine auflesen und in eine Zaine sammeln. Bald darauf wurden die Kartoffeln gesetzt; mein Vater zeigte mir, wie diese im richtigen Abstand, Schritt für Schritt, ausgelegt werden mussten. Dann kam der Heuet, da hatte ich die Aufgabe, mit dem kleinen Rechen die Wässerungsgräben in den Wiesematten auszurechen. In der Ernte musste ich «Band lege» das konnte ja jedes Kind, wenn man es ihm erklärt hatte; wichtig war, dass die kleinen Hölzchen der Garbenbänder immer auf der gleichen Seite lagen, damit jener, der die ähren band, dies mit einem Griff tun konnte. Wir hatten auch viele Obstbäume und mussten im Herbst Fallobst auflesen, und im Spätling kam dann die Zeit zum Nüsse aufsammeln. Ich war damals sechs, sieben Jahre alt - man ist in die Arbeit hineingewachsen.
Als ich sieben Jahre alt war, im Oktober 1913, heiratete mein Vater wieder. Seine zweite Frau, Emma Stoll, stammte aus Schopfheim. Sie war eine tüchtige, arbeitsame Frau, besonders geschickt in allen Handarbeiten. Obwohl sie streng war, schloss ich sie gleich ins Herz, denn sie schickte mir noch vor der Hochzeit ein Päcklein, an mich persönlich adressiert, das ein schwarzes Schürzchen mit weissen Tupfen enthielt. Nun hatte ich neue Grosseltern im Wiesental; recht oft durfte ich sie besuchen und sogar mit dem Zug ganz allein nach Schopfheim fahren. So war ich auch im August 1914 bei Grossmutter, als der Krieg ausbrach. Ganz aufgeregt rief mein Vater bei Nachbarn an, man solle mich sofort in den nächsten Zug nach Riehen setzen - und wirklich war dies denn auch der letzte Zug, der noch in Riehen anhielt! Später kam Grossmutter Stoll zu uns und verbrachte den Lebensabend bei uns in Riehen.
Der Ausbruch des Krieges brachte einige Veränderungen mit sich. So wurden gleich zu Beginn alle unsere zwölf Pferde eingezogen, und der Vater musste einrücken. Er war zwar nur in Riehen eingeteilt, in der Küche, aber für meine zweite Mutter, die noch kein Jahr im Betrieb lebte, bedeutete dies eine riesige Aufgabe und Verantwortung. Wir haben uns später oft gewundert, wie sie, die nicht aus einem Bauernbetrieb stammte, sich so schnell in ihre neue Aufgabe hineingearbeitet hatte und alles bewältigte. Wir waren ja am Tisch, etwa beim Heuet, 24 bis 28 Personen, und auch in den ruhigsten Zeiten mindestens zwölf. Fest zum Haushalt gehörten die «Rosser», unsere Fuhrleute, welche die Pferde betreuten, mit Ross und Wagen die grossen und kleinen Fuhren transportierten und auch im Sand- und Schotterwerk arbeiteten, das jenseits der Wiese, auf der Grenze zu Weil lag. Manchmal transportierten die Rosser mit Vater und anderen Knechten zusammen ganz gewaltige Lasten, zum Beispiel riesige Marmorblöcke, die sie am Bahnhof mit Winden und Rollen ausluden und zur Steinsäge am Bachtelenweg brachten. Zwei unserer Fuhrknechte sind mir in ganz besonderer Erinnerung: Joggi Horn, der über fünfzig Jahre lang im Betrieb arbeitete, und Hans Gugelberger, der 1924 an einem Schlaganfall verstarb. Beide waren am Tag, an dem mein Vater das Geschäft übernahm (26. August 1907) bei ihm eingetreten und hielten ihm ein Leben lang die Treue.
Auch der Melker, der neben der Feldarbeit unsere sieben Kühe betreute, gehörte zum Haushalt. Ein grosser Teil der Milch wurde in der Familie verbraucht: Fuhrleute, Melker und Knechte erhielten zum z'Nacht immer «urigi» Milch zur Rösti und der Mehlsuppe, auch zum Znüni und Zvieri. Daneben hatten wir aber auch Milchkunden; ins Diakonissenhaus brachten wir jeden Morgen und Abend zwölf Liter Milch, und andere Kunden kamen ins Haus. Wenn aber zuviel Milch beieinander war - es gab ja keinen Eisschrank, sondern die Milch wurde in einem kühlen Gang aufbewahrt - dann machte Mutter Käslein daraus. Die mit Lab versetzte Milch wurde im «Gebsi» vom Wasser getrennt und in kleine, röhrenartige Förmchen, die auf einem Eichenbrett standen, eingefüllt; die so entstandenen Quarkkäslein waren, mit Salz, Pfeffer und Kümmel gegessen, ein Leckerbissen.
Butter machten wir natürlich selber. Wir hatten ein grosses Butterfass, und oft hiess es: «Wottsch Angge drülle?» Es war gar nicht so leicht, die grosse Kurbel zu drehen. Später, als wir grösser waren und andere Arbeiten verrichten konnten, machte Vater, der ein grosser Tüftler war, einen Motor ans Butterfass, verbunden mit einem Nähmaschinen-Untergestell.
Unsere Mutter buk das Brot für die ganze Haushaltung selber. Etwa alle zwei Wochen, wenn der Brotvorrat bald aufgebraucht war, machte sie am Abend in der Küche «d'Hebi», mit Bierhefe vom Bäcker und mit Sauerteig, den wir von einer «Bachete» zur andern in einer Schüssel auf der «Kunst» aufbewahrten. «D'Hebi» musste nun in der Backmulde über Nacht aufgehen. Am andern Morgen wurde sie mit Mehl, Wasser und Salz vermischt und in der Mulde tüchtig geknetet und geschlagen; diese anstrengende Arbeit verrichtete stets der Vater. Nun wurde die Backmulde auf die «Kunst» gestellt, wo der Teig ein zweites Mal aufgehen musste. Der Backofen hinten im Waschhaus wurde mit vielen Wellen eingeheizt. Wenn die Glut verglüht war, holte man sie mit der «Kruke» aus dem Ofen und reinigte den Ofen von Asche und Kohlen mit dem «Fusel», einem feuchten Tuch an langer Stange. Der Teig, der inzwischen «ghabe het», wurde nun im Backhaus zu grossen Laiben geformt und mit dem «Schüssel», einem hölzernen Brett an langer Stange, in den heissen Ofen eingeschossen. Es hatte Züge und Klappen am Ofen, und die Mutter war sehr geschickt beim Hantieren damit. Nach etwa eineinhalb Stunden war das Brot gebacken und konnte herausgenommen werden. Ich musste es mit einem Mehlwüscherli putzen und wenn es kalt war in den Keller tragen und in grosse Gestelle einfüllen. Manchmal kauften wir auch Brot in der Bäckerei, zum Beispiel für Fotzelschnitten oder Brotsuppe oder wenn uns das Mehl ausgegangen war; wir fuhren mit dem Handwägeli zum Bäcker - abwechslungsweise zum Beck Löliger, Hess oder Trautwein - und holten zehn Zweipfünder.
Die Arbeit für eine Bauernfrau war schon unermesslich gross - neben der Küche waren ja auch Wäsche und Kleider, das Haus, das Kleinvieh und die grossen «Bünten», die Gemüsegärten, zu besorgen - und so war es selbstverständlich, dass ich als einziges Mädchen überall Hand an legen musste. In der Küche half ich Gemüse rüsten, und bei der grossen Wäsche, die alle vier Wochen stattfand, hatte ich meinen «Züber» vor dem Waschhaus und musste alle Socken waschen. Vor allem aber wurde ich für Botengänge und Besorgungen gebraucht. Wenn ich im «Chirsistrich» aus der Schule kam, wartete die Mutter schon mit dem Mittagessen für die Kirschenpflücker, das ich mit dem Märtwägeli in die Moosmatten hinaufbringen musste, und wenn ich Pech hatte, hiess es dort: «Mer mien no meh Chörb ha!», so dass ich halt den Weg noch ein zweitesmal machen musste. Ich war immer auf dem Sprung in die Schule, ich kam nie zu früh, aber auch nie zu spät - bis auf ein einziges Mal. Und das kam so: Wie jeden Morgen musste ich vor der Schule in die Metzgerei, um Schwartenmagen zu holen, drei Pfund, aber am Stück, hatte mir die Mutter eingeschärft: «Wenn du ihn noch einmal geschnitten heimbringst, musst du ihn aus deinem Sparkässli selber bezahlen.» Aber an diesem Morgen träumte ich beim Bell vor mich hin - und schon war der Schwartenmagen in Scheiben geschnitten. 2 Franken 70 kostete er, man denke, ein halbes Vermögen! Ich war ganz verzweifelt und lief in meiner Not ins erstbeste Haus, ins Schweizerhaus. Da war ich in meinem Leben noch nie gewesen. Die alte Frau Schweizer, ein kleines Mütterchen, kam mir im dunklen Gang entgegen. Sie sah meine Angst und kaufte mir ein paar Scheiben ab, und Frau Baier im Nachbarhaus kaufte noch den Rest. Nun rannte ich zum Bell, kaufte meinen Schwartenmagen am Stück und lieferte ihn der Mutter ab.
An jenem Tag kam ich also zu spät zur Schule. Aber wir hatten eine liebe Lehrerin, Fräulein Kägi, die nahe bei uns wohnte und wusste, dass ich zu Hause fest eingespannt wurde, und so gab es keine Strafe. Auch meine Primarschullehrerin, Fräulein Bucher, war sehr freundlich; sie war es, die entdeckte, dass ich schwerhörig war und die mich zum Ohrenarzt schickte. Die stärkste und auch unangenehmste Erinnerung an meine Primär- und Sekundarschulzeit ist der Handarbeitsunterricht. Ich war Linkshänderin, musste aber mit der rechten Hand nähen und war darum sehr ungeschickt - zum grossen Kummer der Mutter, die oft sagte: «Ich muss mich ja vor deinen Tanten schämen, wenn du nicht einmal richtig nähen kannst.»
Mit vierzehneinhalb Jahren kam ich ins Welschland. Anders als meine Brüder, die ein Austauschjahr auf einem Bauernhof verbrachten, durfte ich in ein Pensionat in St-Blaise im Kanton Neuenburg. Das war die schönste Zeit meiner Jugend, die sorgloseste, wo ich am wenigsten arbeiten musste. Es war ein ganz kleines Pensionat mit nur drei Pensionärinnen, aber wir lernten gut französisch. Jeden Morgen, von halb neun bis halb zwölf Uhr, erhielten wir Französischunterricht, am Nachmittag wurden die Aufgaben gemacht, und dann gingen wir mit «Mademoiselle», unserer Lehrerin, einkaufen oder spazieren. Natürlich durften wir nur französisch miteinander sprechen. Im Welschland wurde ich auch konfirmiert, obwohl ich noch recht jung und klein war; zu meiner Freude kamen mich Vater, Gotte und Götti an diesem Tag besuchen.
Aber die schöne Zeit ging zu Ende; nach genau einem Jahr, am 15. April 1922, holten mich die Eltern in St-Blaise ab, zu meiner überraschung mit einem Auto, denn mein Vater hatte inzwischen einen Taxibetrieb angefangen, den ersten in Riehen. Es war ein prächtiges Auto, mit grauseidenen Fensterstoren, kleinen Blumenvasen und einer gläsernen Trennwand mit Sprechrohr zwischen Chauffeur und Passagieren.
Zuhause hatte ich schrecklich «Langizyt» nach dem Welschland, nach dem Neuenburgersee und der Alpenkette. Als ich wieder einmal im Hof stand, zum Tüllinger hinüberschaute und mich ins Welschland sehnte, fragte Vater: «Träumsch? Muesch schaffe.» «Ja, ich weiss», sagte ich, «aber weisst du, Vater, ich bleib' nicht immer hier.» «Ja, wo willst du denn hin?» «Ins Tessin», antwortete ich, «Italienisch lernen.» Aber Vater rief aus: «Da kannst du Italienisch lernen! Nein, das musst du dir aus dem Kopf schlagen. Du kannst doch die Mutter nicht allein lassen mir bruuche di!» Da gab es keine Widerrede, auch später nicht, als ich einen Beruf lernen wollte - man kannte nichts anderes. Und so blieb ich bis zu meiner Verheiratung auf dem elterlichen Hof.
Ich wurde ja auch wirklich gebraucht zu Hause. Mutter arbeitete von früh bis spät, werktags wie sonntags, und am Sonntag nachmittag machte sie noch die Buchhaltung für den ganzen Betrieb. In den «Bünten» halfen ihr zum Glück Grossmutter Stoll und Grossmutter Karlin, aber das Verarbeiten des ganzen Erntesegens musste sie bewältigen - das Einkochen, Früchtedörren, Bohnenfädeln, Gemüseeinschlagen und vieles mehr.
Ich legte überall Hand an, im Haus und auf dem Feld. Mutter war froh, wenn ich ihr die Näharbeit abnahm; ich besuchte die Nähschule im Bläsistift und Kurse in Kleidermachen, Glätten und Buchführung an der Frauenarbeitsschule. Nun nähte ich Unterwäsche, «Bettschlutti» und vor Weihnachten Barchenthemden, welche unsere Fuhrleute als Weihnachtsgeschenk erhielten. Oft fuhr ich auch frühmorgens auf den Markt; beim Gemeindehaus konnte man die Körbe ins Tram einladen und beim Barfüsserplatz wieder ausladen - die Trämler warteten jeweils freundlicherweise, bis alle Riehener Marktfrauen mit Ein- und Ausladen fertig waren. Einmal freilich hatten wir eine solche Menge Rhabarber, dass ich sie mit dem Handwagen nach Basel bringen musste. Ich weiss noch, dass ich kaum über den Wagen hinaussah und beim Spittelmatthof seufzte, weil noch ein so weiter Weg vor mir lag. Ich verkaufte meine Ware stets auf dem «oberen Markt», das heisst auf dem Barfüsserplatz, wo der Engros-Markt stattfand; wenn ich sie vor acht Uhr nicht abgesetzt hatte, war es schlecht, aber meist fand ich einen Käufer.
Rhabarber spielte vor und nach dem Ersten Weltkrieg eine grosse Rolle in der Riehener Landwirtschaft während des Krieges ging der Anbau zurück, weil der Zucker fehlte. Wir hatten zwei grosse Felder an der Inzlingerstrasse, in denen ich oft arbeitete. Rhabarber wurde für Wähen und Kompott gebraucht, man machte aber auch Rhabarberwein daraus, mit Zucker und «Weinschön». Dieser Rhabarberwein war sehr gut und kaum von gewöhnlichem Wein zu unterscheiden, aber er war sehr stark und machte einen «halber verruggt», das heisst, er griff die Nerven an. Mein Vater und der älteste Bruder bereiteten ihn selber zu, so wie sie auch Wein machten von den Trauben, die an unserem Haus und an der Pergola wuchsen. Auch «Burgermaischter-Schnäpsli» braute mein Vater und «Wyberschnäpsli» aus schwarzen Johannisbeeren. Diese Schnäpse wurden offeriert, wenn wir im Winter mit Verwandten und Freunden zusammensassen zum «Nuss uusmache».
Nussbäume, die im milden Riehener Klima gut gedeihen, waren damals für die Landwirtschaft wichtig, weil man von ihnen das begehrte Nussöl gewann. Ein langer Weg und viel Arbeit war mit der Herstellung dieses öls verbunden. Unsere grössten Nussbäume, die mein Grossvater noch gepflanzt hatte, standen auf der sogenannten «Sanatoriumsmatte», oberhalb der Verzweigung Inzlingerstrasse /Hohlweg. Im Herbst, etwa ab Mitte Oktober, wenn die grüne Schale der Nüsse springt, wurden die Nüsse «geschwungen», das heisst mit langen biegsamen Haselstauden aus den Bäumen geschlagen und zusammengelesen. Meist war es kalt und nass bei dieser Arbeit. Zuhause mussten wir mit dem Messer die restlichen grünen Schalen entfernen - das gab dann diese wunderbar schwarzen Hände! - und die Nüsse auf dem Boden oberhalb der Droschkenremise breitlegen zum Trocknen. Jeden zweiten Tag musste man «d'Nuss riehre», das heisst mit dem Rechen durcheinanderrühren, damit sie überall gut abtrocknen konnten. Nach Neujahr begann das «Nuss-uusmache». Am Abend nach dem Nachtessen sassen Mutter, die beiden Grossmütter, vielleicht ein paar Tanten, meine Brüder und ich um den langen Tisch. Mutter klopfte die Nüsse mit einem kleinen Hammer auf, und die anderen schälten die Kerne aus den Schalen. Die Kerne wurden auf dem Ofen in einem grossen Sack getrocknet, sie mussten schön «rösch» sein und immer warm gehalten werden, damit das öl gut floss.
Im Februar fuhr ich dann mit den Nusskernen, etwa 160 Kilogramm, in die «öli», das heisst in die ölmühle nach Weil zum Müller Pfaff. Vom Morgen bis spät in den Nachmittag hinein arbeitete ich in der Mühle; es war üblich, dass der Kunde beim ölen mithalf. Die Kerne wurden zuerst in eine grosse, runde Rinne geleert, den sogenannten Kollergang, und mit dem Mahlstein, der immer rundum lief, zerquetscht. Man nannte dies den ersten Druck. Ich musste nun stets rundherum gehen und die Nüsse, die im Kollergang nach allen Seiten spritzten, mit einem kleinen Besen vor den Mahlstein wischen. Waren die Nüsse schon etwas zerquetscht und klebten in der Rinne, musste ich sie mit einem Kratzer «lugg mache» - so ging das immer rundum, rundum.
Nun wurden die zerquetschten Kerne in kleine Sesterli, mit Eisen beschlagene Holzeimer, gefüllt und kamen «in d'Höll». Das war ein kleiner Feuerherd, auf dem die Kerne erhitzt und durch ein vom Transmissionsriemen angetriebenes Rührwerk ständig bewegt wurden. Als nächstes wurden die erhitzten Kerne in einen keilförmigen Sack aus Schweinshaar eingeschlagen und dann in der Presse mit einem Balken gepresst - «wumm, wumm» tönte es den ganzen Tag. Nun floss das öl, der öler probierte es mit dem Finger: «'s isch guet öl, 's lauft guet und tuet nit niechtele.» Mit grossem Stolz brachte ich am Abend das öl, das ganz klar und wasserhell war, in grossen 25-LiterTansen nach Hause: wir brauchten es als Salatöl.
An Freizeit blieb natürlich nicht viel übrig bei all dieser Arbeit. Als wir noch Schulkinder waren, durften wir jeweils am Sonntag nachmittag mit den Oberdörflern spielen, «Versteggerlis», «Egge Guggu» und ähnliches - da gab es gar viele Winkel, wo man sich prima verstecken konnte. Später, als ich aus dem Welschland zurück war, ging ich dann in den Liederkranz. Hier wurde, wie in den meisten Vereinen, jedes Jahr im Winter Theater gespielt, und bald wurde ich auch für andere Vereine, etwa den Männerchor oder den Turnverein angefragt, beim Theater mitzumachen. Bei den meisten dieser Dorftheater geht es ja um die Liebe, und obwohl ich «e Schüchs» war, spielte ich gerne mit; ich lernte auch gut auswendig. Am Baselstädtischen Turntag 1926 machte ich bei einem «Waggisreigen» des Turnvereins Riehen mit. Auf einem mit Papierblumen und Girlanden geschmückten Leiterwagen fuhren wir nach Basel, und auf dem ganzen Weg wurde gehandörgelet und gesungen. Walter Prack, mein zukünftiger Mann, war auch auf dem Wagen - aber damals wussten wir noch nichts davon, dass wir einmal heiraten würden. 1932 war es dann soweit: Ich heiratete, verliess den elterlichen Hof, und begann mit meinem Mann und später unseren drei Buben einen neuen wichtigen Lebensabschnitt.
Anmerkung 1) Dialetkausdrücke, deren Sinn sich nicht direkt aus dem Text erschliessen lässt, werden im folgenden erklärt: Bünte, Mz. Biinten = «Pflanzblätz»,
Gemüsefeld Band lege = Garbenbänder auslegen
urigi Milch = volle, nicht abgerahmte Milch Gebsi, auch
Gäbse = Gefäss zum Abrahmen der Milch
Hebi = Hefe-Vorteig
Kunst = Kachelofen
Kruke = Aschenkruke
Züber = Waschzuber
im Chirsistrich = zur Zeit der Kirschenernte
Bettschlutti = Nachtjäckchen
Weinschön = Mittel zur Schönung des Weines
rösch = knusprig
Egge Guggu = eine Form des Versteckenspielens
Personen
(soweit nicht schon in der GKR, im RRJ oder im RJ 1986 ff. vorgestellt)
Lina Baier-Beck (1884-1954)
Hans (Johann) Gugelberger (1869-1924), Fahrknecht
Jakob (Joggi) Horn (1882-1971), Fahrknecht
Maria Kägi (1882-1953), Primarlehrerin, Blaukreuzgruppenleiterin
Amalie (Amelie) Karlin-Löliger (1877-1912)
Emma Karlin-Stoll bzw. Bertschmann-Stoll (1878-1956)
Ernst Karlin (1905-1989), Chauffeur
Fritz Karlin-Löliger (1902-1969), Chauffeur, Transportunternehmer
Hans (Johann) Karlin (*1912), Arbeiter
Rosina Karlin-Löliger (1843-1924)
Karl Friedrich Pfaff (1881-1965), Müller in Weil
Walter Prack (1902-1971), Monteur
Elise Schweizer-Mory (1864-1951)
Anna Maria Stoll-Leppert (1843-1931)
Zusammengestellt auf Grund von Tonbandaufnahmen und mündlichen Erzählungen von Marianne Prack-Karlin durch Lukrezia Seiler-Spiess