Morgen in Riehen

Eduard Wirz

I

Ich kam zur frühen Stunde in die weite Ebene. über den Matten lag noch der leichte, weiße Morgennebel, indes sich der nahe Berg schon im Licht der neuen Sonne badete und sein Kirchlein wie das zierlichste Bild eines feinen Malers auf seiner Höhe stand. Ich konnte mich nicht satt sehen. Inzwischen aber war der Nebel unruhig geworden, als ob er wüßte, daß seine Herrschaft bald zu Ende sei und er abdanken müsse. Das Licht brach golden durch, säumte erst die kleinen Wölkchen, füllte sie dann ganz mit seinem Glanz, und darauf waren die Nebelwölkchen verschwunden, und kein Mensch hätte sagen können, wohin sie sich zurückgezogen und geflüchtet hatten. Vielleicht, vielleicht waren das jetzt die tausend hellen Tröpfchen, die auf der Wiese lagen, als ob eben der feinste Sprühregen niedergegangen wäre. Da waren kein Blatt, kein Gräschen, die nicht den kleinen diamantenen Schmuck trugen. Das goldene Licht aber erlosch allmählich, oder vielmehr, es wurde ein silbernes daraus. Ja, so war es. Ein zarter Silberschleier lag fortan über der Landschaft. Ich genoß die neue Herrlichkeit. Dann ging ich ein kleines Bummelweglein weiter, mitten durch dieses Glänzen und Glitzern, bis ich am Teich stand, dessen Wasser rasch seines Weges floß. Ich blieb stehen und sah dem Bach zu, ich sah die mächtige Weide, die am Ufer stand und ihre Zweige bis in das Wasser senkte und dieses mit den Blättern ein munteres Spiel trieb. Sie blitzten silbern, wenn das Licht des neuen Tages auf sie fiel. Ein schmales Brücklein, eigentlich nur ein starkes Brett, führte über den Teich. Ich folgte ihm und schritt durch den Baumgarten, wo die Vögel eben ihr zweites Konzert angestimmt hatten. Darauf tönte vom nahen Kirchturm die Frühglocke. Jetzt kehrte ich heim und trug das Bild der schönen Morgenstunde mit mir.

II

Die Straßenlaternen brannten noch. Ich wartete auf der Bank vor dem Bauernhaus des Glöcklihofs, auf das erste Tram, das aus der Stadt kam. Durch die Stille drang von den Wiesen her, kaum vernehmbar, das Läuten der Kuhglocken. Wie lange wird es gehen, bis es im Lärm des Tages untergeht? Drüben fuhr ein Radfahrer vorbei. Ein zweiter folgte ihm. Sie glichen Schattenbildern. Jetzt ertönte der Stundenschlag der Dorfkirche. Fünf Uhr. Hochbeladen fuhr ein Gemüseauto daher, als ich mich auf die Insel begeben wollte. Ich mußte mich rechtzeitig einfinden, sonst würde das Tram nicht anhalten. Ich hatte Glück. Führer und Billeteur sahen mich. «Riehen Grenze !» Die ersten Grenzgänger stiegen ein. «Morgen!» «Morgen!» Sie wählten ihren Platz und setzten sich, und der eine und andere vertiefte sich in seine Bild-Zeitung. Von weitem leuchtete groß und rot das Wort «Mord!» Wie das Tram sich anschickte, wieder in die Lörracherstraße einzubiegen, überholten uns die ersten Autos und Motorräder. - Halb sechs Uhr. Die Straßenlaternen erloschen. Es war amtlich Tag geworden. Eine Weile später saß ich bei der Bushaltestelle. Der Verkehr nahm ständig zu. Aber noch war er nicht so groß, daß ich das Morgenläuten nicht hätte hören können. Ich ging langsam zur Kirche hinauf und setzte mich auf eine Bank. Als ich wieder zurückkehrte, kam eben der erste Bus von Bettingen und brachte seine frühen Gäste. Sie mußten beim überqueren der Straße gut achtgeben, denn jetzt riß der Strom der Autos und Motorräder nicht mehr ab. «Rrrrr! — Sssss! — Wuwuwuwu! — Rrrrr!» Die Motoren waren die Herrscher dieser Morgenstunde. Die wilde Jagd fegte, brauste durch das Dorf. Das Tram kam dazu und Velos. Diese waren neben den Beherrschern der Straße und der Schiene leichte Schmetterlinge. Die Stunde der Motorenzeit lief weiter, weiter. «Rrrrr! - Sssss! - Wuwuwuwu!» Die wilde Jagd hetzte durch den Riehener Morgen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1962

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