Neues Leben aus totem Holz
Jürg Schmid
Das natürliche Absterben eines Baums kann mehrere Jahre dauern. Dabei wird das Holz allmählich zersetzt und bildet die Grundlage für neues und artenreiches Leben. Dieser Zerfallsprozess lässt sich im Waldreservat Horngraben aus der Nähe
beobachten.
Der zentrale Begriff im Waldreservat am Horngraben heisst ‹Totholz›. Dieses bildet die Grundlage eines üppigen und artenreichen Lebens. Wo der Wald ohne Holznutzung der natürlichen Dynamik von Wachstum und Zerfall überlassen wird, entwickeln sich verzögerte Pionier-, Alterungs- und Zerfallsphasen. Während Bäume in einem bewirtschafteten Wald in der Regel spätestens nach 120 bis 140 Jahren aus dem Bestand entfernt werden, bleiben sie im Naturwald bis zu ihrem natürlichen Absterben stehen. Das Bundesamt für Umwelt schätzt, dass rund ein Fünftel der Tier- und Pflanzenarten in den Schweizer Wäldern wegen des Mangels an Totholz bedroht ist. Aber was geschieht mit absterbendem und totem Holz und wer profitiert von ihm?
Besiedelt, zersetzt, humifiziert
In der ersten Phase, der Besiedlung, dringen unterschiedliche Insekten in das frisch abgestorbene Holz ein. Dazu gehören vor allem Käferarten wie die bekannten Borkenkäfer und die Bock- und Prachtkäfer sowie Holzwespen. Diese Arten ernähren sich häufig baumartenspezifisch von der Rinde oder dem Splintholz. Damit ist die Schicht von jungem Holz direkt unterhalb der Rinde gemeint.
In der zweiten Phase, der Zersetzung, fallen Zweige und Äste allmählich ab und die Rinde löst sich vom Stamm. Pilze und Bakterien beginnen das Holz abzubauen und das Insektenspektrum ändert sich. Wieder sind es vorwiegend zahlreiche Käferfamilien, die in dieser Phase vorkommen, zum Beispiel Feuerkäfer, Schröter und Schwarzkäfer. In den Bohrgängen der bisherigen Besiedler und im bereits abgebauten Holz entwickeln sich zudem viele Fliegen- und Mückenarten.
Ein kleiner Urwald am Ausserberg
Das Waldreservat Horngraben befindet sich am südlichen Abhang des Ausserbergs an der Landesgrenze zu Deutschland. Mit 6 Hektaren Fläche ist es zwar das grösste im Kanton Basel-Stadt, im nationalen Vergleich hat es aber eher bescheidene Ausmasse. Seine Geschichte geht auf das Jahr 1982 zurück, als die Bürgergemeinde Riehen dem Basler
Naturschutz in einem Landabtausch über
3 Hektaren Waldgebiet zur Einrichtung eines Reservats zur Verfügung stellte. Die Waldnutzung wurde stark eingeschränkt und rund um das Reservat eine Schon- und Puffer-zone errichtet. Die Neugestaltung der Abteilung 12 des Zentralfriedhofs am Hörnli, die 2001 eröffnet wurde, führte zu einer Erweiterung des Waldreservats um 6,5 Hektaren. Grund waren die ökologischen Ersatzleistungen, die wegen der für die Neugestaltung des Friedhofteils vorgenommenen Rodungen fällig wurden.
Eine weitere zentrale Rolle für die Entwicklung des Waldreservats spielte der Sturm ‹Lothar›. Dieser hatte am 26. Dezember 1999 auf dem Gebiet der Gemeinde Riehen rund 15 Hektaren Wald beschädigt.1 Ein Teil dieser Flächen wurde nach dem Sturm dem Reservat Horngraben zugeteilt. Damit eröffnete sich die einzigartige Möglichkeit, auf den Sturmflächen mit den kreuz und quer liegenden Bäumen zu beobachten, wie sich der Abbau dieses Holzes und das Wachstum eines neuen Waldes ohne menschliche Beeinflussung vollziehen. Deshalb verzichtet man seither auf jede forstwirtschaftliche Nutzung oder Pflege. Der Wald wird sich selbst überlassen und kann aus diesem Grund auch nicht mehr im üblichen Sinn als sicher gelten. Die früheren Wege werden deswegen nicht mehr unterhalten.2 Das heutige Reservat Horngraben wird von Pro Natura Basel-Stadt in fachlicher Zusammenarbeit mit dem Amt für Wald beider Basel, dem Amt für Stadtgärtnerei und Friedhöfe sowie der Gemeinde Riehen geführt und beobachtet.
In der dritten und letzten Phase, der Humifizierung, zerfällt das Holz und geht langsam in humose Erde über. Dieses Bodenmaterial besteht zu einem grossen Teil aus den Ausscheidungen der besiedelnden Insekten. Darin leben jetzt vor allem Fliegenlarven, Springschwänze und Milben. Nun steigen Bodenlebewesen wie Würmer, Schnecken, Asseln, Tausendfüssler und Fadenwürmer in das Moderholz auf, um sich von Bakterien und Pilzen zu ernähren. Dabei zerkleinern sie die Holzbestandteile, die so von den Mikroorganismen besser aufgenommen werden können. Die letzte Stufe des Abbaus fällt grösstenteils den Pilzen zu. Diese bauen die Zellulose und das Lignin ab und verwandeln den Mulm in Humus.
Artenvielfalt dank Totholz
Die Anzahl der Lebewesen, die auf Totholz angewiesen sind, ist beeindruckend. Vogelarten wie Schwarzspecht, Mittelspecht, Kleiber, Schnäpper und Zaunkönig gehören ebenso dazu wie Fledermäuse, Siebenschläfer und Baummarder. Ferner bietet das Totholz eine unersetzliche Lebens- und Nahrungsgrundlage für rund 1300 Käferarten, Wildbienen und Wespen, für über 130 Schneckenarten, für viele Flechten und Moose sowie für rund 2500 holzzersetzende Pilzarten. Dabei kommt ein sogenannter Multiplikationseffekt zum Tragen: Der Schwarzspecht etwa schafft mit seinen Höhlen im Altholz Lebensraum für weitere 60 Tierarten.
Der ökologische Wert des Waldreservats im Horngraben wird durch besondere nachbarschaftliche Verhältnisse an der Landesgrenze noch gesteigert: Es grenzt im Süden und Südosten an den grössten Buchswald Deutschlands an, ein einzigartiges Naturschutzgebiet von 90 Hektaren Fläche. Im Nordosten und Nordwesten umgibt eine Pufferzone von 7,1 Hektaren das erweiterte Reservat. Dort findet eine eingeschränkte Nutzung statt, die im Einklang mit den Zielen des Reservats steht. Die Zielsetzungen für das Reservat haben sich in den vergangenen 30 Jahren gefestigt. Das Hauptmotto wird auch in Zukunft lauten: Den Naturwald sich selbst überlassen und beobachten, was sich in diesem reichen Kleinod dynamisch entwickelt. Näheres dazu findet sich in einer Reihe von Inventaren, Konzepten und Schutzvorschlägen.3 Bisher wurde das Reservat nicht unter offiziellen Schutz gestellt. Im Hinblick auf das artenreiche Leben in diesem Gebiet – mehrere Tier- und Pflanzenarten gelten gemäss der Roten Listen im Kanton Basel-Stadt als gefährdet – ist der Schutzstatus sicher angebracht.
1 Vgl. wwf-basel.webofsections.ch/home/service/ausfluege/hoernli-und-hornfelsen, Zugriff: 31.7.2012.
2 Vgl. Naturinventar Kanton Basel-Stadt 2011, www.stadtgaertnerei.bs.ch/natur-landschaft/kantonales-inventar-der-schuetztenswerten-naturobjekte.htm; Naturinventar Riehen 2008: Objekt 2.07, www.riehen.ch/natur-und-umwelt/natur-und-umweltschutz/naturobjekte-und-inventar; Ornithologisches Inventar beider Basel 1996: Objekt W4 Waltersgraben, Horngraben¸ www.arp-daten.bl.ch/arpdaten/publikationen/OI_Bericht.pdf, Zugriffe: 4.8.2012; Botanisches Inventar Horngraben 1999; Rote Listen, die gefährdeten Pflanzen- und Tierarten im Kanton Basel-Stadt 2000, beide auf Anfrage zu beziehen bei der kantonalen Fachstelle für Natur- und Landschaftsschutz, Basel.
3 Vgl. www.riehener-jahrbuch.ch/de/archiv/2000er/2000/zrieche/wirbelsturm-lothar-grosse-zerstoerungen-auch-in-der-gemeinde-riehen.html, Zugriff: 31.7.2012.