Pietismus in Riehen

Michael Raith

Es ist weniger das offizielle Riehener Kirchenwesen, über welches Aussergewöhnliches zu berichten wäre. Vielmehr hat eine eigentümliche Frömmigkeit unserer Landbevölkerung schon vorzeiten zu reden und zu schreiben gegeben. In diesen Zusammenhang gehört der durch die Geschichtsforschung wegen seines Seltenheitswertes hervorgehobene Umstand, dass die Gemeinde Riehen sich aus eigenem Antrieb und bevor die tonangebende Stadt Basel diesen Schritt tat, für die Reformation entschied (1528).

In der <frommen Welt> hat aber der Name Riehen vor allem wegen der Gründungen Christian Friedrich Spittlers (1782-1867) - es handelt sich dabei unter anderem um das Diakonissenhaus (1852), die Pilgermission St. Chrischona (1840) und die Taubstummenanstalt (1838) - einen guten Ruf. So gewiss diese Werke die Bevölkerung der Landgemeinden geprägt haben, so nahm sie auf ihre Entstehung und Leitung wenig Einfluss, auch blieb etwa die Zahl der ins Mutterhaus eingetretenen Riehener Töchter klein. Oder anders formuliert: die Spittlerschen Gründungen befruchteten zwar die Riehener Frömmigkeit, sie sind aber nicht direkt aus dieser Frömmigkeit hervorgegangen.

Christian Friedrich Spittler stellt bekanntlich eine der bedeutendsten Gestalten des «frommen Basel» dar. Und dieses «fromme Basel» geht mit einer der tiefsten seiner vielen Wurzeln zurück in den Riehener Boden: im Riehener und Bettinger Pietismus des 18. Jahrhunderts zeigt sich etwas von der urwüchsigen Kraft der eigenständigen, nicht an staatliches Kirchen- und Pfarrerwesen gebundenen Frömmigkeit. Zwar können wir die Breitenwirkung dieses Pietismus nicht abschätzen, doch ist zu vermuten, dass wir hier ein Zeugnis origineller und wirkungsvoller Spiritualität der damaligen Landbevölkerung vor uns haben. Mit einiger übertreibung kann sogar gesagt werden: das «fromme Basel» begegnet uns zuerst in Riehen. Auf jeden Fall verdient es die in weit zurückliegenden Jahrzehnten schon verschiedene Male geschriebene Geschichte der Anfänge des Riehener Pietismus, wieder einmal erzählt und durchdacht zu werden.

Der Dorfhistoriker Emil Iselin (1861-1925) bemerkte zur Riehener Frömmigkeit, sie habe sich jeweils als Glaube oder als Aberglaube erwiesen. Die übergänge sind, wie wir im folgenden sehen, fliessend. Das Denken vor zweihundert Jahren orientierte sich am bäuerlichen Leben, an Kriegen, Kometen und anderer Not, an der Frage nach dem Ende der Welt, auch an Wundern und sonderbaren Begebenheiten. Dass wir wissen, was in damaligen Riehener Köpfen und Herzen vorgegangen ist, bleibt darum von besonderem Reiz.

Staatliches Kirchenregiment und persönlicher Glaube

Auf Revolutionen folgen oft Zeiten ausgesprochener Freude am schriftlichen Ausgestalten neuer Ordnungen. So erscheint auch die Epoche nach dem freiheitlichen Durchbruch der Reformation als ära einer teilweise stark ins Detail gehenden Fixierung des Glaubensgutes, wie sie in Bekenntnissen oder Konfessionen, in Katechismen und sogar in der Kirchenlieddichtung geschah. Während die Frage, was rechter Glaube (griechisch = Orthodoxia) sei, vor allem die Theologen beschäftigte, verstand es der neuzeitliche Staat, die Kirche weitgehend zu seinem gefügigen und die Bürger kontrollierenden Werkzeug zu machen. Das hatte zwar keineswegs in der Absicht der Reformatoren ganz besonders nicht in derjenigen Johannes Oekolampads (1482-1531) - gelegen. Aber die Fürsten und Räte traten in die Nachfolge der Päpste und Bischöfe. Sie übertrugen der Kirche die Aufgaben der Schule, der Sittengerichtsbarkeit und des Armenwesens. Gottesdienstbesuch und Teilnahme am Abendmahl (Kommunion) galten im Alltag weit weniger als Ausdruck des Glaubens denn als Zeichen rechter Staatstreue. So lieferte an manchen Orten der Schweiz (nicht in Riehen) der Pfarrer die Liste der Konfirmierten, d.h. der zum Abendmahl Zugelassenen, direkt dem Rekrutierungsbureau ab, und die zum Tisch des Herrn tretenden Männer hatten das mit angeschnalltem Bajonett zu tun. Die Sittengerichtsbarkeit wandte als häufigste Strafe den Ausschluss vom Abendmahl an, was einer öffentlichen ächtung gleichkam.

Allerdings wurde das Abendmahl seltener als heute gefeiert, im Riehen des 18. Jahrhunderts wohl nur sechsmal im Jahr. Die Kontrolle handhabte man aber absolut: Kirchgang war Pflicht, die Polizei suchte nach zuhause Gebliebenen, und eine staatskirchliche Reglementiererei ordnete das ganze Leben. Selbstverständlich bestanden zwischen Theorie und Praxis mannigfache Unterschiede. Ein beliebtes Thema bildeten schon damals die Hausbesuche des Pfarrers. Sie galten weit weniger der Seelsorge als vielmehr der Aufsicht und Bespitzelung, die Rolle des Pfarrers unterschied sich nur wenig von derjenigen eines Polizisten. Denkt man sich dazu, dass die Schule vornehmlich Religionsunterricht war und dieser im Abfragen auswendiggelernter Texte (vor allem aus dem Katechismus, z.B. dem «Basler Nachtmahlbüchlein» von Antistes Johannes Wolleb [1586-1629]) bestand, so lässt sich begreifen, dass die Kirche vielen verhasst war.

Auch der Basler Staat wollte durch die Kirche das Leben eines jeden genau definierten Normen unterwerfen, für eine freie Entwicklung des einzelnen blieb wenig Raum. Die Orthodoxie gründete auf einem Autoritäts- und Offenbarungsglauben verbindendem Bibelchristentum. Sie verwechselte Theologie mit Religion. Auch huldigte sie intellektuellen Spitzfindigkeiten und einer übertriebenen Freude am Festlegen von Glaubenssätzen. Ohne hier auf die Frage einzugehen, wie sich denn rechter Glaube in der Praxis erweise, muss doch festgestellt werden, dass das Volk eine dem Erkennen verpflichtete Religion gepredigt erhielt, die dem Erleben keinen Raum Hess. Es spürte wohl auch den inneren Widerspruch zwischen evangelischer Freiheit und staatskirchlichem Machtanspruch. Die problematischerweise so genannten religiösen Bedürfnisse befriedigten die protestantischen Kirchen um 1700 lediglich teilweise, was einen laienhaften Vorsehungs- und Vergeltungsglauben sowie allgemein den Aberglauben förderte.

Warum überlebte die Kirche trotz alldem? Im Grunde genommen meinte es der Staat, was ihm seine Untertanen zubilligten, gut: er kontrollierte nicht nur um der Macht willen, sondern weil er sich im Jüngsten Gericht nicht den Vorwurf gefallen lassen wollte, er habe seine wichtigste Aufgabe versäumt. So lesen wir in einem die Kirchgemeinde Riehen betreffenden Schriftstück vom 30. Juni 1765: «Die hohe Obrigkeit sorge nicht allein für die zeitliche Wolfahrt, sondern wie ihr die Underthanen wol abnemmen können, auch für dero ewiges Heil, damit aller Orten eine wahre Gottesfurcht gepflanzet, und eines jeden zeitl. und ewige Glükseligkeit befördert werde.»

Dazu kam, dass die staatskirchliche Kontrolle nicht so streng ausfiel, wie sie auf dem Papier stand. Man spricht im Zusammenhang mit den Zuständen im damaligen Basel von einer <gemilderten> Orthodoxie. Sie war der Grund, weswegen die gegen das Staatskirchentum gerichteten Bewegungen niemals die den Geschehnissen in Bern und Zürich vergleichbare Wucht erhielten. Noch höher sind die vielen ausgezeichneten Pfarrerpersönlichkeiten jener Zeit zu werten. Statt kritiklose Diener ihrer Obrigkeit zu sein, übernahmen sie die Vertretung von Anliegen ihrer Gemeindeglieder gegenüber dem Rat. Die gegen Korruption und Amtsmissbrauch gerichtete Basler Umwälzung von 1691 geht zu einem guten Teil auf das Wirken einzelner Pfarrer zurück. Auch in Riehen ist die weitgehend friedliche Entwicklung des Pietismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ohne das verdienstvolle Wirken von Pfarrer Paulus Euler (1670-1745, Pfarrer in Riehen seit 1708) nicht denkbar.

Das Hauptverdienst für die Erweckung der Kirche trägt indessen dieser Pietismus selbst. Ihm ging es nicht um den Staat, sondern um den einzelnen, hier war Gemüt und persönliche Begegnung wichtig. Statt theologische Lehrsätze auszufeilen, arbeitete der Pietist praktisch im Schulwesen und in sozialen Unternehmungen. Sein Glaube, die Bekehrung oder Wiedergeburt genannte persönliche Annahme von Jesus Christus, gab seinem Leben ganz neue Möglichkeiten, führte oft zu wirkungsvollen Umgestaltungen des individuellen und des öffentlichen Bereichs. Dass daneben die Gefahr menschlichen Einteilens und Richtens sowie problematischer Sonderungen bestanden, zeigt die Geschichte des Pietismus allerdings deutlich.

Dem Pietismus verdankt aber die Basler Kirche des 18. Jahrhunderts die Wiederentdeckung der Seelsorge. Sie wurde zuerst geübt in kleinen Gruppen von Erweckten: Konventikel, Privatversammlungen, Sozietäten oder Gemeinschaften geheissen. Dass solche Zusammenkünfte sich nicht mit dem Ausschliesslichkeitscharakter der Staatskirche vertrugen, führte zu jahrelangen Auseinandersetzungen. Es entwickelten sich zuletzt ein die Kirche bejahender «kirchlicher Pietismus» und ein auf Konfrontationskurs bedachter «Separatismus». Dazwischen stand die auf Nikiaus Graf von Zinzendorf (1700-1760) zurückgehende Arbeit der Herrnhuter Brüdergemeine.

Gegen die offizielle Kirchlichkeit gerichtete Strömungen bestanden schon immer. Hier ist an die Mystiker des Mittelalters und die Täufer der Reformationszeit zu erinnern. In der Tat finden sich im Pietismus mystische und täuferische Elemente. Die auch für Riehen vor allem für das 16. Jahrhundert belegte Täuferbewegung verhielt sich eindeutig separatistisch. Die Quellen erlauben keine saubere Trennung zwischen der auslaufenden Täuferbewegung und dem neuen Pietismus. Ein 1705 aus Frenkendorf berichteter Fall schildert einen Wiedertäufer. Er lehnte für sich alle Richter ab, da er durch seine Bekehrung sündlos geworden sei. Möglicherweise haben wir hier eine Mischform vor uns. Erste eindeutig pietistische Zeugnisse aus der Landschaft Basel vernehmen wir indessen aus Riehen.

Die Anfänge des Pietismus in Riehen

Frühere Jahrhunderte kannten keinen Pfarrermangel, die theologische Ausbildung galt als Normalstudium und öffnete den Weg in eine ganze Anzahl von Berufen. Entgegen dem immer wieder gezeichneten Bild unfähiger Schulmeister vergangener Zeiten muss für Riehen doch festgehalten werden, dass seine Lehrer meist eine rechte Ausbildung besassen und oft Theologen mit abgeschlossenem Studium waren.

So wirkte seit 1703 der Magister Peter Weisler (Wisslin, 1671-1757) als Schulmeister in Riehen. Er hatte 1693 sein Theologiestudium abgeschlossen und darauf als Lehrer im pfälzischen Bergzabern eine Stelle angenommen. Dass Basler in reformierten Territorien Deutschlands Stellungen fanden, kam häufig vor. Wichtiger ist die Frage, welchen Ideen Weisler dort begegnete. Interessanterweise hielt sich auch der oben genannte Frenkendörfer vorübergehend in der Pfalz auf. Genaueres wissen wir jedoch nicht. Vielleicht hat Weisler in Bergzabern die durch den Pietismus betonte Kraft und Gnade der Wiedergeburt erlebt.

Als Vorgesetzter des Lehrers amtete der Dorfpfarrer, in unserem Fall also Paulus Euler, Vater des berühmten Mathematikers Leonhard Euler (1707-1783). Paulus Euler war ein Mann der Ordnung: sein Bestreben, die Zulassung der Jugend zum Abendmahl zu regeln, liess ihn zum Förderer des Unterrichts, der Kinderlehre und der Konfirmation werden. In seine Amtszeit fällt auch die Einführung eines Sterbe- und Trauungsregisters, sowie des ersten Riehener Familienbuchs, «Aarons Amtsschiltlein» geheissen. Näheres sagte 1739 der damalige Untervogt Hans Wenk (16851749): «Er könnt nichts anderes als alles gute (von dem Herrn Pfarrer) sagen, seye ein frommer Herr, der sein Amt treulich verrichte.» Euler war Repräsentant der sogenannten vernünftigen Orthodoxie>, aus ihr entwickelten sich pietistische und rationalistische Ideen. Er teilte mit den Pietisten das für diese Glaubenshaltung typische Interesse an der Konfirmation. Zudem trug er in die ersten Seiten von «Aarons Amtsschiltlein» einen Auszug aus der von Chri stian Scriver (1629-1693), einem der wichtigsten Wegbereiter des Pietismus, verfassten Schrift «Seelenschatz» (1675/92) ein.

Bücher und Kleinschriften in für jene Zeit enorm hohen Auflagen trugen die Gedanken des Pietismus unters Volk und wohl auch nach Riehen. Euler beschäftigte sich intensiv mit der Lektüre seiner Pfarrkinder. Anzunehmen ist, dass die Riehener damals meistens ordentlich lesen und schreiben konnten, auch besassen sie mindestens ein Neues Testament.

Ohne durch irgendeine Information darauf vorbereitet zu sein, stösst man im Protokoll der sogenannten Provinzial- oder Landsynode, d.h. der für das Kirchenwesen auf der Landschaft Basel zuständigen Pfarrer und übrigen Beamten, welche am 4. Juni 1716 zu Holstein gehalten wurde, auf ein Votum von Paulus Euler, des Inhalts, dass Schulmeister Weisler «grosse ärgernuss» gegeben, weil er sechsmal hintereinander nicht am Abendmahl teilgenommen habe. Die Synode beschloss, dass Pfarrer und Lehrer sich im Beisein des Landvogts über die Sache aussprechen sollten. Dieses Gespräch fand am 19. August statt und Paulus Euler berichtete darüber am 22. August der obersten Kirchenbehörde, dem Conventus ecclesiasticus, und diese am 26. August der obersten Staatsbehörde, dem Rat der Dreizehn. Euler fand, er werde von denen beschwert, die ihm behilflich sein sollten, «in welchem Stuck ich mich für den allerunglückseligsten Pfarrer auf der ganzen Landschaft halte». Weisler fand, es gehen in Riehen viel Gottlose zum Tisch des Herrn, mit denen er nicht kommunizieren könne.

Im Bericht des Conventus ist die Rede von verdächtigen Zusammenkünften, in denen Weisler und der lutherische Theologe Matthias Pauli, welcher seit 1691 im badischen Pfarrdienst (u.a. in Efringen und Badenweiler) stand und 1713 wegen «fanatischer Meinungen und Irrtümer» seine Stelle verlor, die Schrift auslegen würden. Pauli vertrat zum Beispiel die Auffassung, ein wiedergeborener Mensch könne nicht mehr sündigen. Euler habe gegen diese Separation gepredigt, Weisler aber damit erst recht «offendiert» ( = verletzt). Im übrigen «distribuire» ( = verteile) Weisler «allerhand so genannte Pietistische und Wiedertäuferische bûcher» , um sich Jünger und Anhänger zu machen. Der Konflikt zwischen Pfarrer und Schulmeister sei vor der ganzen Gemeinde offenkundig, der Schaden vorab für die Schule unabsehbar. Die Folgen waren für den in den Akten als wenig umgänglich geschilderten und schon früher widersetzlichen Weisler hart: der Conventus suspendierte ihn in Amt und Einkommen, auch strich er ihn aus der Liste der als Pfarrer wählbaren Theologen, worauf ihn der Rat am 29. August 1716 seiner Stelle entsetzte.

Die Sache selbst war damit nicht erledigt. Während des ganzen folgenden Jahrhunderts hatte sich die Basler Regierung mit dem Pietismus auseinanderzusetzen, wurde doch die praktische Betätigung und Bezeugung einer vom staatskirchlichen Bekenntnis und von den Formen des offiziellen Gottesdienstes abweichenden Frömmigkeit als Ungehorsam gegen die Obrigkeit bestraft. Den Pietisten, also jenen Christen, die in persönlichem Erlebnis die Wiedergeburt des erlösten Gotteskindes erfahren hatten und sich zu enger, brüderlicher Gemeinschaft und Heiligung mit anderen gläubig gewordenen Seelen zusammenschlössen, konnte die offizielle Heilsverkündung durch die Pfarrer der erstarrten Staatskirche nicht genügen. So entwickelte sich auch in Basel zuerst eine Form von Pietismus, der wie der nahe verwandte Separatismus der Inspirierten die Kirche eigentlich bekämpfte. Wichtiger jedoch wurde für Basel derjenige Pietismus, der in der Kirche selbst Heimatrecht gewann; dieser hat auf das geistige, ja zu gewissen Zeiten auf das politische Leben zu Stadt und Land einen ganz ausserordentlich starken Einfluss ausgeübt (nach Paul Burckhardt, «Geschichte der Stadt Basel», Basel 21957, S. 89). Bis dahin war es aber noch ein weiter Weg, und die Akten über die gegen die Pietisten auf der Landschaft Basel gerichteten Massnahmen füllen manchen Band. Die Darstellung beschränkt sich im folgenden auf die Pietisten und die Ereignisse in der Kirchgemeinde Riehen-Bettingen, womit nicht in Abrede gestellt sein soll, dass mannigfache Verbindungen zwischen den Erweckten links und rechts des Rheines bestanden.

Schon im Dezember 1717 gelangten neue Berichte über «den eingerissenen Pietismus» zur Kenntnis des Rates und eine unter anderen aus dem Antistes (1529 bis 1911 Titel des obersten Pfarrers der Basler Kirche), dem Dorfpfarrer und dem Riehener Landvogt bestehende Kommission erstattete am 18. Januar 1718 einen «Erfund» folgenden Inhalts: am 17. September 1717 habe Barbara Baumann-Rudin (1665-1757), Kuhhirtin in Riehen, im Haus der Schwester des oben erwähnten Frenkendörfers im Kleinbasel die Bekanntschaft des Bäckergesellen Johann David Gmelin (1684-1763) gemacht. Gmelin wuchs als Pfarrerssohn in Britzingen und Tüllingen auf, wanderte später nach Holland und dann nach Nordamerika aus, wirkte als pietistischer Wanderprediger und galt als berühmter neuer Prophet. In seiner Begleitung befanden sich zwei Frauen aus dem Bernbiet. Diese drei Personen wollten in Riehen Aufnahme finden, was durch die Vermittlung von Barbara Baumann - sie empfahl ihnen allerdings «oben duren ins Dorf zu gehen» - auch geschah; Gmelin logierte bei Hans Georg Möhler ( 1672-1726) an der Gartengasse 21 und das drei Tage lang. Sofort versammelten sich über zwanzig Leute, denen Gmelin das längste Kapitel der Bibel, den 119. Psalm, auslegte, wofür er zwei Stunden brauchte. Uber das Schwören sagte er, dass die Obrigkeit kein Recht habe, einen Eid zu verlangen, da durch Christus solches verboten sei (Matthäus 8,34). Deswegen sollte man auch Verfolgungen erleiden und alles in der Welt verlassen.

Auffälliger waren die Behauptungen, Basel und Zürich würden wegen ihres gottlosen Lebens im Frühjahr 1718 untergehen und es sei verboten, Blut zu essen. Gmelin erzählte von einer Frau, die in ihrem Leben Rübsamen sehr geliebt habe: sie erschien ihm nach dem Tod, und obwohl er vor ihr floh, habe er gesehen, wie ihr aus Augen, Nase und Mund Rübsamen flössen. Seinen Zuhörern wollte Gmelin den Heiligen Geist durch Anhauchen vermitteln, zudem lehrte er die Gütergemeinschaft der Christen und zuletzt verteilte er pietistische Literatur. Eine der beiden Frauen blieb bei Möhler. Sie stand im Kontakt mit den beiden vornehmen Damen, die am Anfang der pietistischen Bewegung in der Stadt Basel zu finden sind: Gertrud Thierry-Hugo «beim schwarzen Pfahl» (1676-1736) und der ehemaligen Schlossherrin zu Wildenfels, Maria Sophia von Planta-von Rosen, einer gebürtigen Französin. Diese stand unter dem Einfluss mystischer Schriftsteller wie CharlesHector de Marsay (1688-1755) und Jeanne-Marie de Guyon (1648-1717).

Frau von Planta tat Armen viel Gutes, sie diente den Basler Pietisten jener Zeit als Vorbild und mütterliche Freundin. Zu ihrem Bekanntenkreis zählte auch Johanna Weisler-Friot (1682-1751), die Frau des abgesetzten Schulmeisters. Der Erfund schliesst mit folgenden Worten: «Wir sehen sonsten... diese Riehener Leuthe an für fromm, gottliebend und gewüssenhaft, und in dem Glauben rein...». Der Rat entschied, die landesfremden Pietisten sollten aus Riehen durch den Landvogt weggewiesen werden, auch berief er zur überwachung der Vorfälle eine Religionskammer. Die Regierung wollte keine Schwäche dulden und setzte sich 1719, als es in Pratteln zur Separation kam, gegen den friedliebenden Conventus mit Härte durch.

Die Religionskammer wandte sich mit einem Kreisschreiben vom 23. August 1721 mit der Frage, wie es bezüglich der Pietisten stehe, an die Dekane. Paulus Euler antwortete am 27. August: «Dass in allhiesiger Gemeinde «Riehen, den 27. Augusti 1721.

Dass in allhiesiger Gemeinde sich Leüte befinden, welche gemeiniglich Pietisten genenet werden, ist Bekant. Die Meisten davon sind vormahls vor Meine Hochgeehrten &c &c Herren, die Herren Deputirten, fürgeforderet, und ihre Namen verzeichnet worden. Das damahlige Zusprechen hat biss dahin so vil gefruchtet, dass sich kein Fremder mehr eingeschlichen, der Nächt= liehe Zusamenkünffte gehalten Haben sich die Unserigen den vergangen nen Winter in grösserer Anzahl dess Nachts in der Schul versamlen wollen, so hat der Herr SchulMeister auf ge = thane Abmahnung, und Vorweisung Uns. Gnd. HH Rahtserkantnus vom 7ber( = September) 1720. damit ingehalten Im übrigen sind die so genanten Pietisten in Meiner Gemeinde noch imer von den fleissigsten Kirchgängeren, und die sich Bey jeweiliger Haltung dess H Abendmahls einstellen, auch sich, wie's der Name ausweiset, der Fromkeit Befleissigen.

Paulus Ewler, Pfar»

sich Leute befinden, welche gemeiniglich Pietisten genennet werden, ist bekannt.» Fremde Lehrer und nächtliche Zusammenkünfte seien nicht mehr vorgekommen, obwohl der Plan, sich im Schulhaus zu versammeln, bestand. «Im übrigen sind die so genannten Pietisten in meiner Gemeinde noch immer von den fleissigsten Kirchgängern, und die sich bey jeweiliger Haltung des H Abendmahls eynstellen, auch sich, wie's der Name ausweyset, der Frommkeit befleissigen.» Wir erfahren dann aus dem gleichen Jahr, dass Riehener sich an heimlichen Konventikeln im St. Johannquartier, wo sie wieder Matthias Pauli trafen, beteiligten.

Am 12. Februar 1722 berichtete Paulus Euler wieder: von Privat- und Winkelversammlungen ist ihm nichts bekannt: «Allhier hat man mehrere Ursach, darauf bedacht zu seyn, wie man für den Sonntag Morgen die Kirche mit noch mehreren Stühlen anfüllen möge, als über Mangel der Zuhörer zu klagen.» Doch schon im Herbst 1723 wurde der Nachfolger Weislers, der Theologe und Schulmeister Christoph Strohm (1692-1727), wegen separatistischem Predigen und weil er am Bettag beim Ablesen eines gedruckten Gebetes einige Worte ausgelassen hatte, ebenfalls von seinem Amt entfernt und nach dem abgelegten Versprechen, künftig zu keinen Klagen mehr Anlass zu geben, am 18. Dezember wieder eingesetzt. Bei dieser Gelegenheit hielten Geschworene und Bannbrüder fest, dass in der Gemeinde alles in Ordnung sei. Dabei blieb es auch für die nächsten Jahre: anlässlich der Provinzialsynode zu Liestal vom 13. Juni 1726 verlor Paulus Euler kein Wort über die Pietisten, vielmehr beklagte er sich über den Gottesdienst störende Holzfuhren am Sonntag, dann darüber, dass die Knaben und Mädchen statt zur Kinderlehre mit «Kirschen und anderem Obs nach Basel» gingen, und über die zu spät zum Abendmahl erscheinenden Markgräfler.

Vom Separatismus zur Toleranz

In Bern und Zürich hatte sich der Pietismus lange vor Basel einen Boden geschaffen. Die Regierungen schritten rücksichtslos gegen ihn ein. Obwohl keine Schweizer Stadt vom Pietismus so nachhaltig berührt wurde wie Basel, trat er hier erst spät auf. Die Konflikte, welche er schuf, waren relativ gering, an innerkantonalen Maßstäben gemessen aber doch recht beachtlich. Dass es in Riehen ruhig blieb - sieht man von Peter Weislers Schicksal einmal ab - war wohl zuerst dem friedliebenden Paulus Euler zu verdanken.

Erst am 17. Oktober 1732 teilte Paulus Euler mit, dass Samuel Bieler (1683-1754), obwohl einer der fleissigsten Kirchgänger, inzwischen behobene Skrupel gehabt habe, am Abendmahl teilzunehmen. Im übrigen kenne er keine Nachrichten über Separatismus in Riehen-Bettingen. Erst gegen Ende des Jahrzehnts, als mit dem Buchbinder und Versammlungsleiter Nikiaus Stupanus (1710-1760) der seltene Fall eintrat, dass ein Nichttheologe Schulmeister wurde, hören wir wieder von einer pietistischen Gemeinschaft in Riehen. Anlässlich der Visitation ( = obrigkeitliche überprüfung kirchlicher Verhältnisse) vom 30. August 1739 führte Paulus Euler aus: «Separatisten habe er keine, solche welche man vor Zeiten dessen angeklagt seyen nunmehro die frömsten und seine fleissigsten Zuhörer, es kommen wohl einige bissweilen zusammen, aber nicht zur Unzeit». Ein Referat des - übrigens durch die Visitation hoch belobten - Schulmeisters über Zweck und Einrichtung der Versammlung, datiert vom 10. Oktober 1739, hat sich erhalten.

Angesprochen werden die «liebe [n] Freunde und Freundinnen». Die Gruppe kam jeweils an Sonntagen nach der Predigt für eine Stunde «oder mehr» zusammen, wartete darauf, dass der Heiland die Münder öffnen werde, damit man sich offenherzig Schwachheiten entdecken könne. Die Rede war dann von Sünde und Gnade. Gepflegt wurden die Beziehungen zu Gleichgesinnten in der Stadt. Der Bericht hält kritisch fest, bis jetzt sei noch keine rechte Einigung und Zufriedenheit erzielt worden. Da die Gnade recht gepredigt werde, fand der Conventus keinen Anlass, gegen die Riehener Pietisten einzuschreiten.

Wohl nach dem 1740 erfolgten ersten Besuch Zinzendorfs in Basel geriet die Riehener Versammlung unter den Einfluss seiner Brüdergemeine: Neben die überschaubare reformierte Basler Kirche trat ein weitgezogenes Band der Beziehung zu Glaubensbrüdern in der ganzen Welt. Aber auch die Pietisten blieben Menschen und es kam in ihren Kreisen zu Streitigkeiten. In der Folge wandten sich 1743 in Stadt und Landschaft Basel fast alle Versammlungen wieder von der Brüdergemeine ab. Stupanus und die Riehener Gemeinschaft blieben Zinzendorf treu. Obwohl es sich lediglich um ein «Häuflein Schwestern» gehandelt haben soll, schritt der Rat gegen die Basler Brüdergemeine, zu der Stupanus auch gehörte, ein (1745). Noch vorher (1743) war von Riehen aus die Versammlung in Muttenz, das sich nach 1746 unter dem Pfarrer Hieronymus Annoni (1697-1770) zum wichtigsten Ort des Basler Pietismus entwickelte, ins Leben gerufen worden.

Der kirchliche Friede in Riehen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der linksrheinischen Landschaft Basel noch immer von Staates wegen gegen den Separatismus vorgegangen wurde, was man auch in Riehen wusste. Zusammenkünfte hielt man nun gern nahe bei der Stadt, aber ausserhalb des Basler Gebietes, nämlich am Grenzacherhorn. 1748 erfolgte ein Verbot für fremde (Religions-) Lehrer und 1750 der Befehl, dass nur auf Friedhöfen bestattet werden dürfe: einige Baselbieter Inspirierte gingen nämlich soweit, ihre Angehörigen auch im Tod nicht neben Sündern zu begraben.

Im Dezember suchte der Rat zweimal auswärtige Versammlungsleiter in Bettingen: einmal wollte er wissen, ob sich ein Jean Mainfait aus Lyon und ein anderes Mal, ob sich Marx Jetzier, ein seines Landes 1742 verwiesener Schaffhauser Theologe, dort aufhalte. Gegebenenfalls seien sie aus dem Land zu schaffen. 1754 erfolgte endlich die offizielle Erlaubnis der Privatversammlungen, sofern diese zeitlich nicht mit dem Gemeindegottesdienst zusammenfallen und in ihnen nicht durch Unbefugte die Bibel ausgelegt oder gebetet würde. Der Besuch von Gottesdienst und Versammlung war ausschliesslich am Wohnort erlaubt.

Für ein verschlechtertes Klima in Riehen sorgte aber der Nachfolger des am 11. März 1745 verstorbenen Paulus Euler: Jakob Heinrich Schönauer (1695-1767) ist mehr wegen seiner Immobiliengeschäfte und wegen seiner Streitigkeiten um Materielles bekannt geworden als durch seine Tätigkeit als Riehener Pfarrer.

Soziales und Politisches

Die bisherigen Leiter der Riehener Gemeinschaft - Weisler, Strohm und Stupanus - standen als Stadtbürger sozial höher als die Landbevölkerung. Ihr Beruf als Schulmeister machte sie aber völlig vom Pfarrer abhängig: trotz meist gleichen Ausbildungsganges hatten sie ihm zu gehorchen und verdienten weit weniger als er. Es mag sein, dass in diesem Unterschied eine separatistische Wurzel steckt. Auch später und anderwärts setzten sich Dorflehrer gern vom Dorfpfarrer weltanschaulich ab. Die uns bekannten Riehener Pietisten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörten zu den ärmeren Einwohnern. Um so erstaunlicher ganz besonders für jene Zeit - ist der Umstand, dass wir die Schlossherrin von Wildenstein und die Kuhhirtin von Riehen zusammen in Konventikeln antreffen: der Pietismus verband soziale Schichten, die früher kaum miteinander in Berührung geraten waren.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der Riehener Pietismus zu einer Sache der dörflichen Oberschicht. Vornehme Riehener und städtische Landgutbesitzer trafen sich in der Versammlung der Brüdergemeine. Auch auf diese Weise verlor der Untertanenstatus der Landbevölkerung an Bedeutung. Die Emanzipation der Bauern auf dem Dorf war nicht allein ein Werk der sich auf Vernunft und Moral, also auf Dinge, die dem Menschen zur Verfügung standen, gründenden geistesgeschichtlichen Epoche der Aufklärung. Im ausgehenden 18. Jahrhundert fanden sich in Riehen auch Anhänger der Aufklärung, soweit es sich um Leute aus dem Dorf handelte, waren sie vermutlich nicht gleichzeitig Pietisten. Zwar haben sich Pietismus und Aufklärung ungefähr gleichzeitig entwickelt und zeigen bei näherem Hinsehen viel Gemeinsames. Praktisch trennte aber die Auffassung, ob hinter allem Gottes Tun oder dasjeniger der Vernunft stehe, die denkenden Menschen in zwei Gruppen. Dass dabei viel Psychologisches und Soziales mitspielte, liegt auf der Hand. Vielleicht lässt sich der auch in Riehen für die Zeit nach 1870 nachzuweisende freisinnig-konservative Gegensatz der Kulturkampfzeit in seinen ersten Vorläufern über ein Jahrhundert zurück in die Jahre der Scheidung pietistischer von aufklärerischen Gedanken zurückverfolgen.

So typisch die Verbindung unterschiedlicher sozialer Schichten in pietistischen Versammlungen ist, so waren doch auch dort nicht alle ganz gleich, ja man kann sogar den Pietismus der Stadtbasier Oberschicht, dem sich zuweilen die Riehener Oberschicht gerne zugesellte, vom einfachen Pietismus der Bauern und Arbeiter abheben. Trotz mancher Differenzen in theologischen, politischen und sozialen Fragen verband das gemeinsame Glaubenserlebnis.

Doch haben sich bis heute unterschiedliche Ausprägungen - teils in säkularisierter Form - dieser Pietismusvarianten auch in Riehen-Bettingen erhalten.

Konkretes zu diesen Ausführungen erfahren wir in einer Verwahrung Pfarrer Schönauers vom 23. April 1753. Es ging um den Vorwurf, er besuche die Kranken nicht. Unschwer lässt sich als Kläger die Familie des Untervogtes eruieren : die Familie Wenk im Meierhof bildete in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Kern einer Brüdergemeine. Vermutlich bestand der Gegensatz zum Pfarrhaus nicht allein in religiösen Meinungsverschiedenheiten. Beschränken wir uns aber auf diese.

Die junge Frau Magdalena Wenk-Schultheiss (17331806) überreichte dem Pfarrer einen Brief des Antistes vom 13. April 1753 wegen der unterlassenen Krankenbesuche. Merkwürdigerweise hatte jemand den Brief schon geöffnet. In der erwähnten Verwahrung reagierte Schönauer gereizt, er spricht von «Sintzendörfischen Sectirern», die ihn verleumdeten, und hielt fest: «Was kan ich dafür dass ich die Sprach der Sintzendörfischen Brüdern und Schwestern nicht reden kan oder nicht reden will wie ihr lieber Bruder Raillard [= Peter Raillard (1718-1779), suspendierter Theologe, Anhänger der Brüdergemeine, Redaktor] der verschiedene mahl draussen gewesen?» Schon am 23. Juni 1760 musste sich Schönauer wieder ähnlicher Vorwürfe erwehren und auch die Visitation vom 30. Juni 1765 verlief für den Pfarrer nicht gerade rühmlich.

Für die «sintzendörfische» ( = Zinzendorfische) Sprache besitzen wir Beispiele: der Bruder von Magdalena WenkSchultheiss und spätere Weibel Hans Jakob Schultheiss (1730-1810), bekannt für seine chronistischen Aufzeichnungen, verlobte sich 1756 mit Anna Maria Sieglin (1730-1801), der er folgenden Wunsch widmete: «In dem Namen unseres Gecreutzigten Heilands.

Ich Wünsche nun von Treuem Hertzen;

Dass der Mann mit seinen Todes = Schmertzen;

Vor unseren Augen wolle bleiben;

Dass uns nichts Irdisch darvon kann Treiben;

Dass er unsere Ehe recht schliesse, und unsere Hertzen gantz begiesse, mit seinem Heiligen Gottes Bluott;

Zu Einer rechten Liebes Gluot;

Nach Ihm dem lieben Gottes Lamm Der an dem Rauchen Creutzes Stamm;

Uns mit seim Blutt so theur erkaufft;

Und uns in seinen Tod getaufft;

Der zünde jetz auch in uns ahn;

Ein rechte Ehliche Liebes Flamm;

Dass wir so nach verbunden werden;

Dass uns nichts scheide auf der Erden;

Vor Liebe die in einer rechten Ehe soll sein;

Wann sie gantz ist dem Lämmelein;

Ich schliesse nun mit meiner Hand;

Und schenke dir dass Liebens Pfand;

Zu einem Denck Mahl auf die Ehe.

Dem Gottes Lamm zu seiner Ehr.

Das wünschet von Hertzen dein in Tod verbundenes getreües aufrichtiges verliebtes Ehegemahl.

Hans Jacob Schultis, den 27. Abereil 1756.»

Als am 19. Oktober 1760 ein Kind aus der Ehe Schultheiss-Sieglin getauft wurde, widmete ihm die Taufpatin und Tante Barbara Sieglin (1740-1777) folgenden Text: «In Jesu Tod bist du getauft Wie saur hat Er dich nicht erkauft Da Er auf seinen knien lag Dass Ihm der bluttig Schweiss aus brach Damit bespreng Er Dir dein Hertz u nehm dich gantz für seinen Schmertz Dies wenig Wünschet Dir von Hertzen Dein getr. Tauf Goten.»

Bei der nächsten Taufe, am 19. Dezember 1762, überreichte der Onkel und Taufpate Samuel Wenk-Schultheiss (1727-1802) im Meierhof nachstehendes Gedicht: «Mein Allertreüstes Hertze Du Ich Wünsch und bite mein Jesu; ach deine Marter schweiss Tröpflein sollen taufen der Göttj mein; dein Erstes theures Bundes Blut wärs was mein Hertze Wünschen thut Weil dus vergossen für die Knaben so lass ihn auch sein theil dran haben Ach zeichne Ihn unter die Chören als unmündige dein Lob zu Mehren, Welches du selber zu bereit jetz steck dein Cörnlein, dass zur Zeit Dein Hertz für deine Müh erfreut Ach sag zu dem H.n Geist Erziech dass Kind und unterweiss Ihn; dass er mich mag recht erkenn Und ich ihn kan mein Schäflein Nenn, so wünschet dein armer Tauf Göttj.»

Alle hier genannten Riehener des 18. Jahrhunderts gehörten wohl zur pietistischen Gemeinschaft, sie sind genealogisch mit den frommen Riehenern des 19. Jahrhunderts nahe verwandt. Bemerkenswert ist weiter, dass diese Brüdergemeine ungehindert bestehen konnte, obwohl Schönauer anlässlich der Provinzialsynode vom 26. März 1754 ausführte, die Riehener Pietisten seien keine Separatisten, kämen aber gleichwohl nicht zum Gottesdienst. Der Rat teilte zur gleichen Zeit dem Landvogt von Riehen mit, dass Separatisten nicht einmal dann, wenn sie Bürger von Basel seien, in den Landgemeinden Aufnahme finden dürften. Trotzdem blieb die Versammlung unbehelligt, sie bestand weiter, vergrösserte sich aber nicht. 1763 wurde der Tod Zinzendorfs unter den Riehener Frommen bekannt, nach einer Schilderung flössen wehmütige Tränen «bis wir uns satt geweint hatten». Der Visitationsbericht vom 30. Juni 1765 erwähnt den Basler Landgutsbesitzer Abraham Le Grand (1710-1773) und die Familie seiner Lehenbauern als Separatisten. Sein Nachfolger und Neffe Emanuel Le Grand (1746-1808), später Richter, Gemeindeschreiber und Grossrat, trat am 29. Dezember 1776 in die damals dreissig Mitglieder zählende «Gemeinschaft der Glieder Jesu-Brüdersozietät», die sich noch immer bei Samuel Wenk im Meierhof versammelte, ein.

Le Grand hinterliess Tagebücher, Gedichte, Lieder und Briefwechsel. Diese für den Geist des damaligen Pietismus typischen Zeugnisse wurden später teilweise gedruckt oder erhielten sich in Abschriften (Herr Dr. Felix Lötz, alt Departementssekretär, ein Verwandter Le Grands, hat in verdankenswerter Weise dem Gemeindearchiv solche «Erinnerungen an Emanuel Le Grand 1746-1808», abgeschrieben im Jahre 1891, zukommen lassen). Anno 1791/2 besuchte Anna Maria Sieglin (1776-1800) als erste Riehener Tochter die 1776 durch die Brüdergemeine - um «das wahre Christentum, zeitliches und ewiges Wohlergehen der Seele» zu befördern - in Thielle-Wavre NE gegründete und noch heute bestehende Erziehungsanstalt für junge Mädchen «Montmirail».

Neben diese gesellschaftlich anerkannte Gemeinschaft trat in jenen Jahren eine Separatistengruppe in Bettingen. Erstmals war von ihr ebenfalls in der 1765er Visitation die Rede: Hans Wagner (* 1745, später Meier auf dem Wenkenhof) und Hans Jakob Hagist (1745-1801) gingen nicht zum Tisch des Herrn. Näheres enthielt ein Schreiben aus dem April 1769: Wagner, dessen Vater Hans Ulrich (1720-1799, Lehenmann auf dem Baslerhof in Bettingen, später auf dem Bäumlihof) auch Separatist sei, und Hagist betrieben ihren Glauben als Profession, beide besuchten Privatversammlungen in Basel und am Grenzacherhorn, Hagist, obwohl Bannwart, schwöre und exerziere nicht. Der Rat entschied, dass der Pfarrer dem Landeskind Hagist zusprechen möge und der in Walliswil (Kanton Bern) heimatberechtigte Wagner auszuweisen sei.

Nächsten Bericht erhalten wir durch ein Schreiben des Dorfpfarrers Johann Rudolf Rapp (1727-1794, Nachfolger Schönauers) an den Antistes vom 9. März 1772. Die Separatistengemeinde in Bettingen war offensichtlich gewachsen, denn der Geschworene Hans Bertschmann (1720-1787) und der Kirchmeier Heinrich Schlup (1735-1814) hatten sich beim Antistes beklagt, die Tochter Maria Bertschmann (* 1752, sie heiratete 1779 den erwähnten Hans Wagner) und der Schlupsche Stiefsohn Martin Frey (1749-1792) hätten sich dem Separatismus ergeben. Die Bettinger Gruppe treffe sich am Samstag- und am Sonntagabend, sie nehme auch an Versammlungen in der St. Alban-Vorstadt zu Basel teil. Das Programm bestehe aus der Lektüre des Neuen Testamentes und dem Singen von Psalmen. Rapp fand, die Bettinger Separatisten suchten Jesus aufrichtig, wenn auch auf andere Art als im öffentlichen Gottesdienst, ihre Auslegungen der Bibel seien allerdings unglücklich und verkehrt. über sich täten sie sehr geheim «und schwätzen nicht leicht aus der Schul». Die Veranstaltung dauere bis 21 Uhr, früher sei es später geworden. Er, der Pfarrer, habe sie mit Liebe und Sanftmut zum Gottesdienst und Sakrament eingeladen, aber ohne Erfolg, worauf er amtlich geworden sei, was ihm den Vorwurf, er habe keine Liebe, eintrug. Das verdross ihn.

Die wieder erwogene Ausweisung Wagners liess sich nicht durchsetzen. Der Gedanke der Toleranz hatte zu sehr an Bedeutung gewonnen. Die - mit anderen Separatisten immer wieder verwechselten - Täufer (Mennoniten) duldete man, weil sie sich auf Pachthöfen in der Landschaft Basel unentbehrlich gemacht hatten, seit 1777/8. Barbara Wagner (1757-1831), eine Schwester von Hans Wagner, heiratete 1779 den genannten Martin Frey, was, da die Ehe eine freie Handlung sei, trotz des Separatismus der beiden gewährt wurde. Eine Liste vom 17. Mai 1783 verzeichnete noch einmal die Bettinger Pietisten, zu den schon Genannten traten die weiteren Brüder Hans Jakob (1753-1826, später Pächter auf dem Bäumlihof) und Hans Ulrich (ä"1761, später auf dem zum Rüdinschen Landhaus gehörenden Bauernhof) Wagner. Noch 1801 erwähnt eine Statistik die Familie Wagner als einzige Separatisten in Riehen. Einige Sippenangehörige sind später ausgewandert. Am 12. Februar 1799 erliess die Helvetik ein «Gesetz btr. die Aufhebung der vormaligen Strafgesetze gegen religiöse Meynungen und Sekten»: Separatisten und Täufer unterstanden nun nicht mehr staatskirchlicher Bevormundung.

Aufklärung und Erweckung Im Leben von Rapps Nachfolger im Riehener Pfarramt, Johann Rudolf Huber (1766-1806), fanden sich Ideen der Aufklärung, persönliche Christusliebe und pietistische Aktivität. Auch der letzte Riehener Landvogt, Johann Lucas LeGrand (1755-1836), verband Frömmigkeit und soziales Engagement mit Anliegen der Freiheit. Die grosse Zäsur der Französischen Revolution (1789) gilt auch für das Ende des alten Pietismus. Noch 1780 entstand aber in Basel die Deutsche Christentumsgesellschaft. Einer ihrer Sekretäre war Spittler; seine nun bereits für den wiederentstandenen Pietismus des 19. Jahrhunderts (jetzt Erwekkungsbewegung genannt) typischen und aus äusseren Motiven gerade in Riehen erfolgten Gründungen sind schon angedeutet worden. Nach der Kantonstrennung (1833) entwickelte sich der gesellschaftlich akzeptierte Pietismus in der Stadt zu einer Art Staatsideologie: was einst keine Macht besass und verfolgt worden war, galt nun als rechter Glaube. Geistigkeit und Frömmigkeit im Riehen jener Zeit sind vom 18. Jahrhundert aber recht verschieden.

Selbstverständlich gibt es Ausläufer und übergänge. Viel Riehener zog die 1816 bis 1817 als äusserst eindrucksvoll wirkende Predigerin in Basel und nach ihrer Ausweisung am Grenzacherhorn tätige livländische Baronin Barbara Juliana von Krüdener (1764-1824) an. Sie war auch berühmt wegen ihres Einflusses auf den russischen Zaren im Zusammenhang mit der von ihr propagierten Idee der Heiligen Allianz. Sie liess in jenen Hungerjahren Lebensmittel verteilen, was ihr grossen Zulauf verschaffte. In ihrem Gefolge befanden sich aus Riehen Caspar Oser (s"1780, er wanderte unter dem Einfluss der Gedanken Frau von Krüdeners 1817 nach dem Kaukasusgebiet aus), Andreas Bärwart (1786-1860) und andere, wohl bloss vorübergehend hier Niedergelassene. Bärwart wurde am 9. Mai 1817 im Auftrag des Riehener Gemeindepräsidenten verhaftet, weil er, statt zu arbeiten, Flugschriften der Baronin umhertrage. Die Publikationen und die Volksaufläufe waren den damaligen Behörden suspekt, hatten doch die Notjahre die Ohren für das Reden vom Anbruch einer neuen Zeit gefährlich weit offen werden lassen.

Später ist die Glaubensfreiheit in Riehen unangetastet geblieben. Deswegen vergisst man zu leicht, gegen welche Widerstände der teilweise weit nachwirkende und originelle Beitrag Riehens zur Frömmigkeits-, Glaubens- und damit auch Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts geleistet wurde.

Literatur und Quellen

«Jubiläumsbericht 50 Jahre Vereinshaus Riehen», Riehen o. J. (1964) Paul Kölner: «Streifzüge durch ein Tagebuch der Zopfzeit», in: Basler Jahrbuch 1935, Basel 1935 Fritz Lehmann: «Von den Sarasinschen Gütern in Riehen und ihren Bewohnern», in: z'Rieche 1966, Riehen 1966 G(ottlieb) Linder: «Geschichte der Kirchgemeinde Riehen-Bettingen», Basel 1884 Michael Raith: «Leonhard Euler - ein Riehener?», in RiehenerZeitung Nr. 51/2 vom 21. Dezember 1979 Michael Raith: «Das kirchliche Leben seit der Reformation», in: «Riehen - Geschichte eines Dorfes», Riehen 1972 Michael Raith: «Der Vater Paulus Euler - Beiträge zum Verständnis der geistigen Herkunft Leonhard Eulers», in: Leonhard Euler - Gedenkband 1983, Basel 1983 Eduard Thurneysen: «Die Basler Separatisten im ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts», in: Basler Jahrbuch 1895 und 1896, Basel 1895 und 1896 Paul Wernle: «Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert», Tübingen 1923 bis 1925 Staatsarchiv Basel-Stadt, Basel: Criminalia 1 und 8. Kirchen-Akten C 2. D 3. E 2 und 3. M 1. M 7. Kirchen Archiv A 6. A 8. A16. DD 36. 39,1.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1982

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