Reden sollten sie, nicht gebärden

Brigitta Kaufmann

Die ehemalige Taubstummen-Anstalt Riehen wurde bald nach ihrer Gründung zu einer Vorreiterin für den Unterricht der Gehörlosen in der Lautsprache.

Als im Jahr 1833 Christian Friedrich Spittler (1782-1867) in Beuggen (Baden) eine Taubstummen-Anstalt gründete, die fünf Jahre später nach Riehen übersiedelte, war die Idee, Bildungseinrichtungen für Taubstumme zu schaffen, noch nicht alt. Lange Zeit hatte gerade auch die christliche Kirche den Taubstummen die Fähigkeit abgesprochen, wirklich Mensch zu sein, fehlte ihnen doch die «göttliche» Sprache, und damit der Zugang zur Bibel und zum Glauben. So formulierte Augustinus (354-430): «Von Geburt aus Taubstumme können niemals Glauben empfangen, Glauben haben; denn der Glauben kommt aus der Predigt, aus dem, was man hört.» Diese Einstellung dominierte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, von wenigen Ausnahmen abgesehen. So haben sich einige Mönche bei der Förderung von Gehörlosen verdient gemacht, und zwar interessanterweise deshalb, weil sich aufgrund des Schweigegebots in Klöstern gerade dort eigenständige Gebärdensprachen entwickelt hatten, die dann eingesetzt wurden, um Gehörlose zu unterrichten.

Erst im Zuge der Aufklärung und insbesondere mit dem Aufkommen des Pietismus wurde die Förderung von Gehörlosen auch zu einem christlichen Bedürfnis. In Basel entstand 1817 als Zweig der Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen (GGG) eine «Kommission zur Besorgung Taubstummer und Blinder» und es kam der Wunsch auf, dass in Basel eine Taubstummen-Anstalt entstehe, wo jungen Gehörlosen eine systematische Förderung zuteil wird.

Pietistische Motive C. F. Spittler war der Gründer der Basler Missionsanstalt im Jahr 1815, 1840 folgte die Pilgermissionsanstalt St. Chrischona, und 1852 die Diakonissenanstalt in Riehen. Im Jahr 1820 hatte er in Beuggen eine Armenerziehungsanstalt eröffnet und gliederte dieser aufgrund der unbefriedigenden Situation der Gehörlosen eine Abteilung für «Taubstumme» an. Sein Tun war geprägt vom Pietismus, er sah sich als «Handlanger Gottes», dessen Aufgabe es war, durch wohltätige Werke das schwere Los der «armen Seelen» zu mildern.

Wilhelm Daniel Arnold, erster und langjähriger Inspektor der Riehener Taubstummen-Anstalt beschreibt die Motivation Spittlers folgendermassen: «Der Apostel Paulus sagt in 1 Tim. 2, 4 von Gott unserem Heiland: Er will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Von dieser Wahrheit war Herr Spittler ebenso erfüllt als von der Not und Hilfsbedürfligkeit der in Sünden geratenen und in Elend versunkenen Menschheit.

Innig dankbar für seine eigene Rettung, suchte er den Rettungswillen seines treuen Gottes in Wort und Werk, in Nehmen und Geben, in Ernst und Liebe, in Rührigkeit und stillem Harren in der Nähe und Ferne allen anzuempfehlen, mit denen er in Berührung trat. (...) Die Gründung von Anstalten, die Thätigkeit vereinter und einzelner Kräfte, die er alle zu nutzen wusste wie nicht bald jemand, sollten unter dem Beistand Gottes Werkzeuge sein zur Ausführung seines Rettungsplans. Nachdem er das Missionshaus in Basel und die Anstalt in Beuggen mit seinen Freunden gegründet hatte, sollten auch die armen Taubstummen der Gegenstand seiner erbarmenden Liebe und Rettung werden.» (Frese, s.i3f.) Erstes Ziel war es demnach, den Taubstummen die (göttliche) Sprache so weit beizubringen, dass sie fähig wurden, die biblische Geschichte zu verstehen: «Die der Anstalt anvertrauten Zöglinge sollen erzogen und unterrichtet werden für das Reich Gottes, für die Wahrheit, so dass sie wesentlich, dass sie geistig gebildet, einen Schatz in ihr Herz bekommen, der in die Ewigkeit hineinreicht.» (Frese, s.3) Weiter wird aber auch eine allgemeine Vorbereitung auf das bürgerliche Leben als Erziehungsziel genannt: «Dieses Hauptziel aber, das unsrer Anstalt gesteckt ist, schliesst natürlich durchaus nicht aus die Berücksichtigung auf die Brauchbarkeit fürs bürgerliche Leben. Im Gegenteil Hesse sich das genannte Hauptziel ja gewiss nicht erreichen, wenn die Zöglinge nicht auch befähiget würden, einesteils durch vorbereitende nützliche Kenntnisse, andernteils durch die Angewöhnung an allerlei Arbeit und Ausbildung der Körperkräfte, einst im bürgerlichen Leben tüchtig und arbeitsam, und auch dadurch vor innerlicher Fäulnis bewahrt zu Werden.» (Frese, S.3) Der erste Inspektor Nachdem die Räumlichkeiten in Beuggen für die Taubstummen-Anstalt nicht mehr zur Verfügung standen, übersiedelte sie 1838 in das Landgut von J. J. Bachofen-Merian in Riehen. Als Leiter der neuen Anstalt wurde Wilhelm Daniel Arnold gewählt, der zuvor Lehrer in der Taubstummen-Anstalt Pforzheim war. Arnold und seine Frau führten die Riehener Anstalt in familiärer Atmosphäre mit maximal 35 Zöglingen, das Essen wurde immer von allen gemeinsam eingenommen und die «Anstalts-Eltern» wurden mit «Herr Vater» und «Frau Mutter» angesprochen.

Arnold war entschlossen, die ihm anvertrauten Kinder so weit zu bilden, dass sie am Ende konfirmiert werden und einen Beruf lernen konnten.

Er gehörte methodenmässig der deutschen Schule an, welche bei der Ausbildung Gehörloser ganz auf die Lautsprache setzten und die Gebärdensprache als menschenunwürdig und affenähnlich ablehnten. Die Kinder sollten dazu gebracht werden, die Laute, die sie ja nicht hören konnten, dennoch mit dem Mund zu formen, um so allmählich zum Sprechen befähigt zu werden. Er verfolgte diese Methode mit einer solchen Konsequenz, dass sich die Anstalt in Riehen innert weniger Jahre zu einem Mekka für die Anhänger der Lautsprachmethode entwickelte.

Lautsprache - Gebärdensprache: ein Methodenstreit

Der Streit, ob Gehörlose eher in der Gebärdensprache oder in der Lautsprache unterrichtet werden sollten, war lange und unerbittlich. Wie bereits weiter oben erwähnt, wurde die Gebärdensprache von manchen als menschenunwürdig abgelehnt. Zwar hielt man sie für die «natürliche» Sprache der Gehörlosen; weil sie jedoch weit weg von einer wirklichen Sprache sei und zudem die Gehörlosen von der hörenden Gesellschaft ausgrenze, war man gerade auch in der Taubstummen-Anstalt Riehen bestrebt, den jungen Gehörlosen die Gebärdensprache so schnell wie möglich abzugewöhnen, ja nach wenigen Jahren konnte Arnold stolz berichten, dass die Gebärdensprache gänzlich aus der Anstalt verbannt sei. Stattdessen wurden die Kinder intensiv im so genannten «Lautieren» unterrichtet.

Das Lautieren

Das Ziel des Lautierunterrichts bestand darin, die gehörlosen Kinder zu befähigen, alle Sprachlaute zu bilden und auszusprechen, was hauptsächlich dadurch geschah, dass die Kinder die Lehrkraft beobachteten und anschliessend die Laute vor dem Spiegel nachformten - eine für Schüler wie Lehrkräfte schwierige und langwierige Arbeit: «Wie viel Mühe und Geduld das braucht, kann nur der ermessen, der sich schon damit abgegeben hat. Nicht nur vom Lehrer, sondern auch vom Schüler wird ein Höchstmass von Energie verlangt, wenn der Erfolg erspriesslich sein soll. Und der Lohn dafür? Für den Schüler liegt er auf der Hand. Er lernt sprechen und wird dadurch befähigt, ein menschenwürdiges Dasein zu fristen. Aber der Lohn für den Lehrer? Wir können keine hohen Besoldungen entrichten und doch ist der Lehrer reich belohnt, der mit Liebe und Freude seine Arbeit bei uns tut. Kaum an einem zweiten Ort liegen die Fortschritte so offen zutage, ivie beim Taubstummen-Unterricht. Ist das nicht reicher Lohn für viele harte Stunden der Geduld, wenn so ein kleiner Erstklässler mit strahlenden Augen sein erstes Wörtchen, sein erstes verstandenes Sätzchen ausspricht?»

 

Lehrmittel von Arnold

W. D. Arnold begnügte sich nicht damit, in seiner Riehener Anstalt mit äusserster Konsequenz die Lautsprache zu unterrichten, er gab seine erworbenen Kenntnisse und erarbeiteten Methoden auch in Form von Lehrgängen weiter. So erschienen ein «Auszug aus meinem Lautirgange» mit «Elementar-übungen im Auffassen u. Nachsprechen, Schreiben und Lesen ... zunächst zum Gebrauch der Taubstummen-Anstalt in Riehen», ein «Wörter- und Sprachbuch ... anschliessend an den Auszug des Lautirganges», «Biblische Geschichten, ein Lesebuch für Unmündige, zunächst für Taubstumme» sowie ein Büchlein mit dem Titel «Unterricht in der Christlichen Lehre für Unmündige».

Im Lautiergang beschreibt Arnold zunächst die Bildung sämtlicher Laute und ergänzt diese theoretischen Anleitungen mit übungen, bei denen die Laute zunächst einzeln und dann in Abwechslung mit anderen, ähnlich zu bildenden gesprochen werden müssen. Arnold empfiehlt zudem eine ganze Reihe allgemeiner Vorübungen:

 

1. Pultauf- und zumachen.

2. Stuhl stellen zum Sichsetzen.

3. Stuhl stellen nach dem Aufstehen.

15. Mund öffnen und schliessen.

16. Lippen spitz, Lippen breit, Lippen rund.

20. Zunge an die obere Zahnreihe auswärts, ebenso einwärts.

21. Backen aufblasen, Backen leeren durch leisen Anschlag mit den fachen Händen. Jedem Schüler wird eine Schweinsblase von mittlerer Grösse, die an ihrer öffnung mit einem Röhrchen versehen ist, in die Hand gegeben. Der Lehrer besitzt ebenfalls eine solche Blase und macht den Schülern damit vor, ivas dieselben ihm im Takte nachmachen sollen.»

(Auszug aus dem Lautirgange von Wilhelm Daniel Arnold, 1865)

 

Arnold erreichte mit diesen Publikationen schon in frühen Jahren eine bemerkenswerte didaktisch-methodische Systematisierung des Gehörlosenunterrichts, und nicht zu Unrecht erlangte die Taubstummen-Anstalt von Riehen grosse Berühmtheit. Taubstummen-Lehrkräfte aus ganz Europa besuchten die Riehener Anstalt während mehrerer Tage, um die Arnoldsche Methode und deren Erfolge zu beobachten.

Von Anhängern der Gebärdensprache gab es aber auch Kritik: So wurde es als unnatürlich empfunden, den Gehörlosen die Verwendung der Gebärdensprache zu verbieten. Zudem führte die reine Lautsprach-Methode dazu, dass nur noch hörende, nicht aber selbst gehörlose Lehrkräfte unterrichten konnten. Der gehörlose Lehrer 0. Fr. Kruse hatte die Riehener Anstalt besucht und schrieb 1877: «Ich kann nicht umhin, mein Bedauern zu äussern, dass Arnold, den ich als einen der humansten kennengelernt, liebe und schätze, wider sein Wissen und Wollen sich als einer der Inhumansten gekennzeichnet hat. Ich zweiße nicht, dass (...) die Arnoldsche Methode grössere Erfolge erzielt hat; aber das bezweifle ich, ob mit solchen Resultaten auch dem wahren Wohl der Taubstummen gedient sei. Eine Erziehung, welche das Kind dem heimatlichen Geistesleben entreisst und dafür Treibhäuser baut, zieht auch nur Zierpflanzen auf, schwerlich aber kerngesunde Bäume.» (Sutermeister, s. 359) Mailand 1880 und die Folgen Im Europa des 19. Jahrhunderts wurde die Gebärdensprache mehr und mehr zurückgedrängt, eine Entwicklung, die schliesslich 1880 in einem nachhaltigen Entscheid anlässlich des «Zweiten internationalen Taubstummen-Lehrer-Kongresses» in Mailand gipfelte. Sämtliche Kongressteilnehmer waren hörend und erarbeiteten fünf Resolutionen, deren erste lautete: «In der überzeugung der unbestrittenen überlegenheit der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache (...) erklärt der Kongress: dass die Anwendung der Lautsprache bei dem Unterricht und in der Erziehung der Taubstummen der Gebärdensprache vorzuziehen sei.» Und weiter: «In Erwägung, dass die gleichzeitige Anwendung der Gebärdensprache und des gesprochenen Wortes den Nachteil mit sich führt, dass dadurch das Sprechen, das Ablesen von den Lippen und die Klarheit der Begriffe beeinträchtigt wird, ist der Kongress der Ansicht: dass die reine Artikulations-Methode vorzuziehen sei.» Alle Resolutionen wurden mit grossem Mehr, bei zwei Gegenstimmen (USA und Schweden) angenommen.

Bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts prägten die Entscheide des Mailänder Kongresses die Methoden beim Gehörlosenunterricht. Dann lieferten Linguisten den Nachweis, dass es sich bei den Gebärdensprachen um vollwertige Sprachen handelt und manche Gehörlose forderten einen vermehrten Einbezug der Gebärdensprache in den Unterricht. Doch dann wurde in den Siebzigerjahren das Cochlea-Implantat (CI) entwickelt und der Streit um Laut- oder Gebärdensprache erhielt eine völlig neue Dimension.

Die GSR heute

In der Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen wird heute eine Klasse nach der so genannt bimodalen Methode unterrichtet, d.h. die Kinder erhalten Unterricht in der Laut- und in der Gebärdensprache. Allerdings ist die Nachfrage danach gering. Heute bekommen Kinder, bei denen eine Hörbeeinträchtigung festgestellt wird, ab dem 6. Lebensmonat Hörgeräte und wenn diese nicht ausreichen, erfolgt mit 1 bis 1 '/2 Jahren die Implantation eines Cochlea-Implantats (CI): Dabei handelt es sich um eine Prothese, deren Aufgabe darin besteht, die Funktion des Innenohrs zu ersetzen. Ihr Prinzip ist die Umgehung des defekten Sinnesorgans, indem der Hörnerv direkt durch elektrische Ströme angesprochen wird. Auf diese Weise können auch schwerst hörgeschädigte Menschen hören und der Zugang zur Lautsprache wird entsprechend erleichtert.

Verständlicherweise vermindert sich so die Nachfrage nach einer Ausbildung in Gebärdensprache, erfolgt doch bei diesen Kindern ein natürlicher Spracherwerb ohne zeitliche Verzögerung. Oberstes Ziel beim Unterricht von Hörgeschädigten ist heute die Integration in die Regelklassen, um den Kindern die gleichen Ausbildungswege wie allen anderen zu ermöglichen.

Taubstumm oder hörendsprechend?

Die Entwicklungen im Gehörlosenunterricht lassen sich auch im Sprachlichen mitverfolgen: Zu Beginn wurden Gehörlose mangels geeigneter Förderung als taubstumm bezeichnet, konnten dann zumindest die Stummheit ablegen und wurden später von Tauben zu Gehörlosen: Das Wort «taub» ist wortgeschichtlich verwandt mit «doof» und galt als abwertend (vgl. englisch: «deaf»).

Und heute stellt sich dank ausgefeilter Audiotechnik die Frage, inwieweit das Wort «gehörlos» überhaupt noch zutrifft. Ob wohl schon bald eine neuerliche Namensänderung der GSR ansteht?

Literatur: Wilhelm Daniel Arnold: Biblische Geschichten. Ein Lesebuch für Unmündige, zunächst für Taubstumme, Basel 1857 Wilhelm Daniel Arnold: Auszug aus meinem Lautirgange: Elementar-übungen im Auffassen und Nachsprechen, Schreiben und Lesen, Selbstverlag des Verfassers, 1865 Wilhelm Daniel Arnold: Wörter- und Sprachbuch zunächst für den Gebrauch der Taubstummen-Anstalt in Riehen bei Basel. Anschliessend an den Auszug des Lautirganges, Basel 1881 Festbericht zur fünfzigsten Jahresfeier der Taubstummen-Anstalt in Riehen am 30. Mai 1889. Zusammengestellt von U. Frese, Inspektor der Anstalt, Basel 1889 Reinhard Frische (Hrsg.): Zur Initiative befreit. C.F. Spittler und unser Auftrag heute, Giessen 1994 Hans Heusser: Ein Jahrhundert Taubstummen-Anstalt Riehen 1838-1939, Basel 1939 Eberhard Kaiser: 1839-1989. Zum 150. Geburtstag der Gehörlosenschule Riehen. Ungebundene Broschüre, 1989 Eugen Sutermeister: Quellenbuch zur Geschichte des Schweizerischen Taubstummenwesens. Ein Nachschlagebuch für Taubstummenerzieher und -Freunde, in zwei Bänden und zusammen 400 Bildern, Bern 1929 z'Rieche. Ein heimatliches Jahrbuch, Riehen 1962. Ss. 15-24: Die Taubstummenanstalt in Riehen, von Erwin Pachlatko

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2005

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