Riehen - bei Wilhelm Raabe

Fritz Hoch

In seinem «Roman aus dem Säkulum: Unruhige Gäste» schildert Wilhelm Raabe eine hilfreiche Schwester Phöbe Hahnemeyer, die ihrem Bruder, dem Pfarrer Prudens Hahnemeyer in einem einsamen Bergdorf die Haushaltung besorgt. Ein weitgereister Professor, dem sie in ihrem einfachen grauen Kleid begegnet, fragt sich, woher sie wohl stamme und erwägt: «Kaiserswerth — Riehen bei Basel — Bethanien?»

 

Woher in aller Welt kennt der norddeutsche Dichter unser zu seiner Zeit noch so kleines Dorf Riehen? In manchen Ausgaben heißt es freilich: «Riesen» oder auch «Riefen». Das sind Druckfehler. In deutscher Handschrift kann ein undeutliches «h» leicht als «s» oder «f» gelesen werden. Aus zuverläßiger Quelle erfahre ich sogar, daß es in der Handschrift Raabes «Riechen» heißt: er muß also den Namen durch das Ohr, im Dialekt gesprochen, vernommen haben. Aber wie und wo?

 

Die beiden anderen Ortsbezeichnungen, von denen Riehen in diesem Text so eigenartig umrahmt ist, bezeichnen beide Diakonissenhäuser. In Kaiserswerth am Rhein — heute zu Düsseldorf gehörend — hat 1836 Pfarrer Theodor Fliedner das erste evangelische Diakonissenhaus gegründet, und «Bethanien» ist ohne Zweifel das vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. gestiftete und großzügig erbaute «Zentraldiakonissenhaus Bethanien in Berlin», heute dicht an der Schandmauer auf Westberliner Seite gelegen. So wird es eben auch «Riehen» seinem Diakonissenhaus verdanken, daß es in einem Atemzug mit diesen beiden berühmten Häusern Deutschlands genannt wird. Aber woher kannte der in Norddeutschland beheimatete Poet unser damals noch recht bescheidenes Mutterhaus in Riehen?

 

Die ausführliche Biographie Raabes von Wilhelm Fehse berichtet, daß der Dichter von 1862 bis 1870 in Stuttgart wohnte und von dort aus 1868 seine Ferien am Bodensee in Bregenz und Lindau zubrachte. Eine Schweizerreise führte ihn bis zur Via mala und nach Ragaz und die Heimreise nach Konstanz, Schaffhausen und zum Hohentwiel. Riehener Schwestern standen seit 1854 in Schaffhausen im Spital und in der Gemeindepflege in der Arbeit. Als Privatpflegerinnen wurden sie viel von Familien in der Schweiz und in Deutschland angefordert. Mag sein, daß Raabe da einmal einer Riehener Diakonisse begegnet ist oder von einer gehört hat. Näheres läßt sich leider auf Grund seiner Lebensbeschreibung nicht ermitteln.

 

Jedenfalls muß die Riehener Schwester, die vielleicht das Modell für Phöbe Hahnemeyer geworden ist, eine sympathische Gestalt und eine echte Diakonisse gewesen sein. Sie pflegt in einer «Dorfspital» genannten, armseligen Laubhütte eine typhuskranke Frau mit ihrem Mann und zwei Kindern. Sie fürchtet sich weder vor dem gefährlichen Fieber noch vor den Läusen in einem seltenen unbewußten Heldenmut. Im Pfarrhaus ihres Bruders waltet sie «systematisch nonnenhaft und doch mit aller bedachtsamen Hausfrauenerfahrung und Geschicklichkeit.» Einem Fremden begegnet sie «mit jener ruhigen Anmut, die aus der höchsten Höflichkeitsschule der Welt stammt. Kehrt sie in einem Hause ein, dann trägt sie keine Unruhe, keine Angst, keinen Zank und Lärm der Welt hinein. Sie bringt nur sich selber und holen will sie auch nichts für sich.» Sie ist so bedürfnislos, daß sie zu jeder Reise um die Welt, zu jedem Ein- und Auszug binnen fünf Minuten alles in ein Bündel zusammenpacken könnte, was sie braucht. Sie ist «die einzige Gewappnete unter all den Rüstungslosen, die einzige Ruhige unter all den Aufgeregten, die einzige Gesunde unter all den Kranken.» Eine alte verbitterte Jungfer erkennt an dieser Phöbe, daß die Welt doch noch einen süßen Kern hat. Ein trotziger, verwilderter Geselle kommt durch sie wieder zur Vernunft. Ein weitgereister Baron findet, daß er noch niemanden so habe reden hören wie diese einstige Idiotenschwester. (Sie war früher Lehrerin an einer Idiotenschule.)

Phöbe bekommt mancherlei Titel: sie ist das Pfarrfräulein, die geistige Pfarrmutter, eine junge lutherische Nonne, eine kleine Beguine, ein kleines melancholisches Frauenzimmer in grau, dem man das Pastorenhaus auf tausend Schritte ansieht. Der Dorfarzt nennt sie seine gute, kleine Kollegin, «Diakonisse» wird sie nie genannt; und doch zeichnet Raabe in ihr das Urbild einer wahren Diakonisse. Fehse schreibt mit Recht von ihr: «Phöbes zeitliches Gewand ist für sie wesenlos. Die Welt derer, die nichts für sich erstreben und darum unermeßlich reich sind, die gefeit sind vor allen Angriffen, weil sie nur Unverlierbares, nur das, was über Zeit und Raum liegt, wirklich ihr eigen nennen, ist ein besonderes Reich. Ahnungslos des Lichtes, das von ihnen ausstrahlt, gehen die in diesem Reich Heimatberechtigten durch die Werktagswelt, ein Rätsel für die meisten, die von ihrem Wirken berührt werden, wenigen Auserlesenen mitten in der Verworrenheit des Säkulums ein vollgültiges Zeugnis für einen Sinn des Lebens.»

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1967

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