Riehen im 20 Jahrhundert Schwerpunkte aus zehn Jahrzehnten
Michael Raith
Lokalgeschichte im Spiegel der grossen Weltgeschichte: subjektiv gefärbter Rückblick auf eine Zeitspanne, in der sich Riehen grundlegend veränderte.
Auch wenn man nicht der Zahlensymbolik verfallen ist und die Zeiteinteilung für technische Notwendigkeit hält, so beeindrucken Zäsuren der Ziffern doch, auch wenn man ihnen weder etwas Apokalyptisches noch etwas Kairoshaftes zubilligt. Zumindest eignen sich «runde» Jahreszahlen zu Rückblicken. Und so schauen wir auf die letzten hundert Riehener Jahre zurück. Für jedes Jahrzehnt steht ein einzelnes und auch im Bild vorgestelltes Ereignis. Aus der Fülle dessen, was sich nach 1900 im Dorf zugetragen hat, ist subjektiv als wichtig Empfundenes ausgewählt worden. Als Resultat liegt ein buntgewobener Teppich vor uns: Riehen hat sich in den letzten hundert Jahren mehr verändert als in tausend Jahren zuvor. Fast alles, was unser heutiges Leben bestimmt, geht auf diese Zeit zurück. Und nur weniges ist riehentypisch. Das meiste erinnert an Entwicklungen, wie sie auch andere Agglomerationen in Europa erlebt haben; und manches weist auf das 21. Jahrhundert hin, die Geschichte geht weiter, Fragestellungen der jüngeren Vergangenheit werden neu aufgenommen. Das vergangene Säkulum brachte Riehen grosses Wachstum auf verschiedensten Gebieten, dann aber auch die Erfahrung der Grenzen dieses Wachstums. Die Gemeinde bewies in beidem einen gesunden und nachhaltigen Sinn. Vieles würde man trotzdem wohl anders machen wollen, anderes könnte heute allerdings auch schlechter gelingen.
Riehen und der öffentliche Verkehr: die Eröffnung der Tramlinie Basel-Riehen D ie Geschichte des öffentlichen Verkehrs in Riehen beginnt zwar nicht erst 1908, doch wurde mit dem Bau der Tramlinie das bis heute populärste Angebot geschaffen. Den Weg zwischen Stadt und Dorf legte man in vergangenen Jahrhunderten auch schon zu Pferd oder gar in der Kutsche zurück, meist jedoch ging man zu Fuss, Marktfrauen etwa mit einem Korb auf dem Kopf. Die 1827 eingeführte Postkutschenverbindung Basel-Lörrach oder die 1862 eingeweihte - effizientere - Bahnlinie Basel-Schopfheim und auch die neue Strassenbahn konnten nur von einem zahlungskräftigen Publikum benutzt werden. Erst mit der Zeit wurden die Farife sozialer. Ohne den öffentlichen Verkehr hätte sich Riehen nicht zu einer bevorzugten Wohngemeinde in der Agglomeration der Stadt Basel entwickeln können. Ursprünglich waren Wohn- und Arbeitsort identisch sowie die meisten Menschen in der Landwirtschaft tätig. Das nahm als Folge der sozialen Entwicklungen seit 1850 auch in Riehen ab. Berufstätigkeit in der Stadt zwang oft zur städtischen Wohnsitznahme. Dank Bahn und Lram konnte man nun aber nicht allein in Riehen bleiben, sondern viele in Basel Wohnende und Arbeitende Hessen sich nun in Riehen nieder. Deswegen wuchs die Bevölkerung bis 1965 erstaunlich und ausserordentlich.
Riehen und die Hebung der Schulbildung: der Bau des Burgschulhauses
Ältester - schon 1623 bezeugter - Schulstandort in Riehen ist das heutige Erlensträsschen. Der vielfältige und nicht immer mit Erfolg belohnte Einsatz für eine gute Schule zieht sich wie ein roter Faden durch die Dorfgeschichte. Zuletzt musste man aber aus finanziellen Gründen kapitulieren und 1891 das Schulwesen an den Kanton abtreten. Die Schülerzahlen stiegen nicht allein wegen des Bevölkerungswachstums, sondern weil die Zahl der obligatorischen Schuljahre erhöht wurde. Deswegen baute man das Schulhaus an der Burgstrasse (1911). Als Architekt beliebte der damalige Gemeindepräsident Otto Wenk (1872-1935). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg folgten die grossen Schulhauskomplexe im Niederholzquartier, während der erste teilkommunale Kindergarten aus dem Jahr 1873 (Schmiedgasse 46) und der erste kantonale 1927 (Siegwaldweg 9) datiert. Das Burgschulhaus sah ursprünglich Klassenzimmer für 48 Schülerinnen und Schüler vor. Nicht nur das hat sich geändert. Die Rückübernahme der Schulen durch die Gemeinden wird heute ernsthaft diskutiert. Angesichts des Stellenwerts des Schulbesuchs für die menschliche Biografie stellen Schulhausbauten und die politische Verantwortung für das Schulwesen zentrale Themen dar. Ein neues kantonales Bildungsgesetz will dem Rechnung tragen.
Die realisierte Gartenstadtidee: Heimstättengenossenschaft Gartenfreund
Kein bisheriges Jahrhundert brachte Riehen so viele Veränderungen wie das Zwanzigste. In erster Linie aus der nahen Stadt zogen Leute zu und überrundeten mit der Zeit die Zahl der Alteingesessenen. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs trug das Seine zu dieser Entwicklung bei. Die Geschichte des Villenvororts Riehen begann zur Hauptsache 1522 mit dem übergang an Basel. Sie hat bis heute kein Ende gefunden. Aber auch wer sich keine Villa leisten konnte, kam nach Riehen. Um 1875 wurde in England die Gartenstadtidee entwickelt: Gesundes Wohnen im Grünen sollte auch dem Mittelstand erschwinglich sein. So entstanden im Umkreis grosser Zentren Gartenstädte. In Riehen waren das erst die Heimstättengenossenschaft Niederholz (1921/23) am Bluttrainweg, der Schäfer- und der Römerfeldstrasse, dann die Heimstättengenossenschaft Gartenfreund mit 54 Häusern, vor allem an der Mory- und Kornfeldstrasse, sowie die Siedlung des Gemeinnützigen Wohnungsbaus Basel (1924/26) In den Habermatten. In den Jahren nach 1945 folgten Wohngenossenschaften in grosser Zahl. Obwohl manche später auf den ursprünglichen Genossenschaftscharakter verzichteten, so ist Riehen mit einem Anteil von rund 15 Prozent Genossenschaftswohnungen auch in dieser Hinsicht bemerkenswert.
Basels Tote ruhen in Riehen: der Zentralfriedhof am Hörnli
Im Jahrhundert zwischen 1870 und 1970 wuchs die Bevölkerung von Stadt und Kanton Basel enorm. Bald einmal verfügte Basel nicht mehr über für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben nötigen Flächen. Da die Stadt innerhalb des eigenen Staatsgebietes fast nur nach Riehen ausweichen konnte, realisierte sie viele Projekte in ihrer nahen Landgemeinde, so das Wasserschutzgebiet Lange Erlen (ab 1882), die Schulheime Gute Herberge und Zur Hoffnung (1905) sowie den am Hörnli gelegenen und mit über 48 Hektaren flächengrössten Friedhof der Schweiz: Er wurde ab 1926 angelegt und 1932 eingeweiht. Riehen besass aber immer einen eigenen Gottesacker, der heutige wurde 1899 im Grienboden eröffnet. Gewiss kamen die kantonalen Unternehmungen auch der Riehener Bevölkerung zugute. Trotzdem zeigt ein auch nur oberflächlicher Blick auf die Gemeindekarte, dass Riehen sich baulich anders entwickelt hätte, wäre die Kantonstrennung nicht 1833 vorgenommen worden. Eine Folge besteht etwa darin, dass die Nachbargemeinde Basel grösste Landbesitzerin in Riehen ist. Auf der anderen Seite bildet der Friedhof am Hörnli die bedeutendste Parkanlage in der an solchen Gebieten ja nicht armen Gemeinde. Ein kantonales Projekt für Riehen allerdings scheiterte nach 1920: der Bau eines Rheinhafens.
Die Gefahr ist vorbei: der Grenzübergang Weilstrasse am 8. Mai 1945
Riehen ist eine Grenzgemeinde par excellence: Fast zwei Drittel der Banngrenze sind auch Landesgrenze. Zu Friedenszeiten mag das einfach bemerkenswert sein; in Kriegszeiten, und diese herrschten in den letzten Jahrhunderten oft, empfand man diese Auslandsnähe auch als Bedrohung und Bedrückung. Schon der Erste Weltkrieg (1914-1918) hatte tief in das Leben des Dorfes eingegriffen. Waren damals Flüchtlinge meist in der Schweiz aufgewachsene deutsche Deserteure, so kamen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung (1933) erst politisch Verfolgte und später Juden: Nicht immer stand ihnen die Grenze offen, was manche mit dem Leben bezahlten. Während des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) empfand man in Riehen Ausgeliefertsein und Isolation. Das im Norden gepflegte Gedankengut verschlechterte die ursprünglichen guüiachbarlichen Beziehungen empfindlich, und es brauchte nach 1945 viele Jahre, bis sie wieder Vorkriegsqualität erreichten. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung sympathisierte mit den Alliierten. Die Freude war gross, als die Franzosen Ende April 1945 die Grenze erreichten. Die Bedeutung der Grenze blieb für den Rest des Jahrhunderts erhalten, wenn auch in ganz anderem Sinn: Der Gedanke der regionalen Zusammenarbeit fiel auf guten Boden.
Multikulturelles Riehen: die Einweihung der römisch-katholischen St. Franziskuskirche Nach der Reformation (1528/29) blieben Riehen und Bettingen rein evangelische Gemeinden. Noch 1811 bekannte sich lediglich ein Prozent der Bevölkerung zur katholischen Konfession. Im Jahre 1970 wurde mit 30 Prozent der bisherige Höchststand erreicht. Ein erster Kapellenbau erfolgte 1914 auf dem Areal des heutigen Dominikushauses. Nach langer Vorbereitung konnte 1950 die St. Franziskuskirche an der Aeusseren Baselstrasse 170 eingeweiht werden. Ihr Architekt war Franz Metzger (1898-1973); Pfarrer zur Zeit ihrer Weihe der mit diesem nicht verwandte Hans Metzger (1910-1976). Die Wahl des Kirchenpatrons hatte damit zu tun, dass die Riehener Katholiken ursprünglich mehrheitlich sozial unauffällige Einwanderer waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten die Kirchen noch einmal wesentliche gesamtgesellschaftliche Bedeutung. In Riehen äusserte sich das in einer regen Bautätigkeit. Neben der St. Franziskuskirche wurden auf evangelisch-reformierter Seite das Andreashaus am Keltenweg 41 (1957) und die Kornfeldkirche an der Kornfeldstrasse 51 (1964) errichtet. Geistliches Leben regte sich auch sonst. Neben konkurrierender Vielfalt zeigte es auch Bemühen um Einheit: Ein erster ökumenischer Gottesdienst von Katholiken und Evangelischen fand 1968 in der St. Franziskuskirche statt.
Riehens Dorfkern verändert sein Gesicht: das Webergässchen wird zur Flanierzone
Die moderne Bauentwicklung Riehens ging zunächst am Dorfkern vorbei. Erste Sanierungsprojekte wurden durch den Zweiten Weltkrieg verhindert. Dann folgten der Bau des Landgasthofes (1951) und des neuen Gemeindehauses (1961). Die Strassennamen Webergässchen, Schopfgässchen und Winkelgässchen schildern das ursprüngliche Aussehen dieser Dorfgegend: Alles war eng zusammengelegt und ohne durchdachte Planung errichtet. Hatte es noch Platz, so stellten die damaligen Bauern nach Bedarf einen Stall, ein Häuschen oder einen Schuppen hin. Eine Kommission des Gemeindeparlamentes beschäftigte sich 1961/62 mit dem zukünftigen Aussehen des Webergässchens. In den Jahren 1965/66 erfolgten grosse Abbrucharbeiten und 1966/67 - siehe Bild - enorme Bauarbeiten; es entstanden unter anderem die Migrosfiliale am Webergässchen 8 und das Coop-Center an der Schmiedgasse 7/9. Es folgten 1968 das Geschäftshaus Schmiedgasse 15/Webergässchen 5 (Kantonalbankfiliale, Parfümerie und Bäckerei Sutter) sowie 1973 dasjenige am Webergässchen 4/6 (Apotheke zum Wendelin, Sportgeschäft Cenci). Die Umwandlung des Webergässchens in eine Fussgängerzone wurde 1977 mit einem Dorffest gefeiert. Der Strasse den Namen gab der fast unbekannte Weber Johannes Horn-Höner (1811-1881).
Siedlungstrenngürtel erhalten: Volk fordert Bäumlihofareal als Grünzone
Es begann 1970: Das Bäumlihofareal sollte weitgehend überbaut und das diesem Vorhaben im Weg stehende Klein-Riehen-Gut aus dem 17./18. Jahrhundert abgerissen werden. Doch nun erwies es sich, dass Grenzen des Wachstums erreicht worden waren. Was in den 25 Jahren vorher problemlos geschah - ständige überbauung freier oder durch Abbruch alter Bausubstanz frei gewordener Flächen -, stiess nun auf erbitterten Widerstand. Zwei Volksinitiativen wurden eingereicht, die eine wollte das Verschwinden des alten Basler Landsitzes, eines für Riehen charakteristischen Siedlungstyps, verhindern. Bei der Sammlung der Unterschriften hatte sich aber gezeigt, dass die Bevölkerung auch die Freifläche zwischen Riehen und Basel als Siedlungstrenngürtel erhalten wollte. So wurde ein zweites Volksbegehren eingereicht: Der Souverän entschied 1982 in seinem Sinn, was für die Gemeinde Riehen mit einer Kostenfolge von über fünf Millionen Franken für die Grünzonenentschädigung verbunden war. Da auch an anderen Siedlungsrändern der Ruf nach Freihaltung ertönte, wurden Planungsideen, die für Riehen beispielsweise eine Verdoppelung seiner Einwohnerzahl vorgesehen hatten, zu Makulatur. Die Bautätigkeit auf dem Bäumlihofareal konnte trotzdem leider nicht ganz verhindert werden.
Verändertes Energiebewusstsein: Geothermie-Wärmeverbund der Gemeinde
Gedanken des Umweltschutzes im Allgemeinen und der Luftverschmutzung im Speziellen begannen um 1980 die Gemüter in Riehen zu beschäftigen. Der Gemeinderat setzte sich in diesem Sinn energiepolitische Ziele. Eine Analyse alternativer Energiequellen wurde 1980 in Auftrag gegeben. Ein geologisch unterstütztes Resultat bestand in der Nutzung der Erdwärme (Geothermie): Gemeinde und Kanton bewilligten 1987 je einen Kredit von 2,75 Millionen Franken, ab 1988 wurde gebohrt und dabei eine Tiefe von 1547 Metern erreicht. Der Wärmeverbund entstand durch intensive Bautätigkeit vor allem 1989. Bis zur Nutzung der Erdwärme dauerte es allerdings noch fünf Jahre: Die offizielle Einweihung erfolgte 1994. Der Riehener Geothermie-Wärmeverbund ist der einzige in der Schweiz. Er hat über die Grenze hinaus Eindruck gemacht, weswegen der Lörracher Stadtteil Stetten-Süd ihm angeschlossen wird. Diese Art des Heizens erspart Riehen pro Jahr 160 Lanklastzüge Erdöl. Sie ist die augenfälligste, keineswegs aber die einzige Massnahme auf diesem Gebiet: Weitere Wärmeverbünde, Solaranlagen, Sanierungen und Holzschnitzelheizungen runden das Bild ab. Der Gemeinde Riehen ist deswegen 1999 das Energielabel zuerkannt worden. Die Nachbarstadt Lörrach eifert nach und bemüht sich auch darum.
Riehen als Kulturdorf Europas: Fondation Beyeler und «Wrapped Trees»
Es ist zu Recht als ein kultureller Quantensprung für Riehen bezeichnet worden, als der Kunstsammler Ernst Beyeler (* 1921) sich entschied, seine weltberühmte Fondation mit Bildern der klassischen Moderne in Riehen anzusiedeln. Dazu mussten erst verschiedene Hürden überwunden werden; so wurde gegen die Verträge der Gemeinde mit der Fondation Beyeler das Referendum ergriffen. Nach dem positiven Ausgang der Abstimmung (1993) stand der Ausführung des vom italienisch-amerikanischen Architekten Renzo Piano (* 1937) entworfenen Baus nichts mehr im Wege, und 1997 konnte die Einweihung sodann begangen werden. Beyeler gewann das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude (Jawatschew; beide * 1935) für die künstlerische Baumverhüllung «Wrapped Trees» im Dezember 1998: Sie lockte Hunderttausende nach Riehen, was ihr vor Ort nicht nur Freunde schuf. Die Erinnerung an das grossartige Event in Herbstgrau und Schnee hat sich jedoch eingeprägt. Bäume zeigten auch, dass der Mensch im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert die Natur nicht völlig im Griff hat: Die Orkane «Vivian» (1990) und «Lothar» (1999) führten zu eminenten Waldschäden. Bäume wurden wie Zündhölzer geknickt. Dass dies zum letzten Mal wenige Tage vor dem Millennium stattfand, trägt Symbolcharakter.