Riese, Lenzen und Kaiser

Gaby Burgermeister

Jede Gemeinde hat ihre Flurnamen, welche Felder, Waldstücke, Täler oder Hügelkuppen bezeichnen, die zum Gemeindebann gehören. Sie tauchen auf Wanderweg-Schildern auf, in Strassenbezeichnungen neuerbauter Quartiere, im Gespräch mit Alteingesessenen. Die Herkunft vieler dieser Namen ist auch Jür den Laien leicht verständlich, andere aber bleiben für ihn völlig unerklärlich. Die Flurnamenforschung macht es sich zur Aufgabe, mit Hilfe von alten Belegen und einschlägiger Fachliteratur den Ursprung möglichst vieler Flurnamen zu erhellen. Häufig geht dies nicht ohne detektivische Kleinarbeit, und nicht immer führt die Suche zu einem befriedigenden Ergebnis.

Gaby Burgermeister hat im Rahmen ihrer germanistischen Lizentiatsarbeit die Flurnamen der Gemeinde Bettingen erforscht. Im folgenden zeigt sie Herkunft und Bedeutung einiger ausgewählter Namen, berichtet über die Methoden der Flurnamenforschung und deren Bedeutung in unserer Zeit. Eine ähnliche Arbeit über Riehener Flurnamen ist im Entstehen; wir hoffen, bei Gelegenheit auch darüber im Riehener Jahrbuch berichten zu können.

Die Redaktion

 

Herkunft der Flurnamen

«eine halbe iucharten holz am kirchweg jetzt an der rysin genannt [...] nidsich den viehweg», beschreibt anno 1786 der «Brennerische Berain in Bettingen» ein Waldstück oberhalb der heutigen Hauptstrasse. Auch heute, rund 200 Jahre nach dieser urkundlichen Erwähnung, ist dieser Flurname in Bettingen noch durchaus geläufig, obwohl Vertreter der jüngeren Generation seine ursprüngliche Bedeutung kaum mehr kennen.

Unter einer «Riese» versteht man allgemein eine «in der Richtung des stärksten Gefälls gerade abwärts verlaufende Rinne, durch welche Wasser und Geröll niedergeht»1). Man benutzte das Wort aber auch zur Bezeichnung einer Holzrutschbahn oder eines jähen Waldweges, durch welchen man Holz hinabgleiten lässt. In Bettingen muss es zunächst mehrere derartige (natürliche oder künstliche) Wasser-, Holz- und Geröllrutschen gegeben haben. Denn der Begriff taucht bereits vor 1786 auf, wird aber - um Verwechslungen mit andern Riesen zu vermeiden - noch genauer lokalisiert, so etwa 1594: «ein viertel holtz zwyschen den riesen im berg». In dieser Quelle ist offensichtlich von mindestens zwei «Riesen» die Rede, deren Standort überdies nicht einmal notwendigerweise mit demjenigen der heutigen Riese übereinstimmen muss. Das Wort wurde damals noch appellativisch verwendet, d.h. es bezeichnete einfach die Sache. Erst als nur noch die eine rysi zum Abgleiten von (gefälltem) Holz in Betrieb war, musste sie in den Akten nicht mehr durch eine genaue Beschreibung der Ortlichkeit definiert werden: Das Appellativum war zum Flurnamen geworden, der schliesslich seine Gültigkeit auch nach dem Verschwinden der Sache - behielt. Dies dürfte für die Bettinger Riese irgendwann zwischen 1594 und 1739 der Fall gewesen sein. In jenem Jahr (1739) kommt nämlich der Name a uff der risse in der «Specificattion oder Verzeichnis aller unser knädigen Herrn Waldung im Bettinger Bann» bereits ohne nähere örtlichkeitsangabe aus.

Rund 70 Flurnamen sind auf dem Gebiet der Gemeinde Bettingen gegenwärtig noch in Gebrauch (siehe Karte und Tabelle Seite 177). Für einige von ihnen, wie an der Riese, in der Stelli, im Tal und im Winkel lassen sich sichere Deutungen finden. Von vielen Bettinger Flurnamen hingegen ist die Bedeutung der ursprünglichen Bezeichnung zumin dest zweifelhaft (z.B. an der Hand, im Lenzen, in der Pfitze und im Strick), während schliesslich die Herkunft einer dritten Gruppe von Namen rätselhaft und ihr Inhalt umstritten bleibt (im Kaiser, im Speckler).

Während die Deutung von Flurnamen wie im Tal und im Winkel selbst dem Laien keine Schwierigkeiten bereitet (im Tal ist tatsächlich ein Tal; der Winkel zwischen der Gemeindegrenze Riehen/Bettingen und der Landesgrenze führte zum Flurnamen im Winkel), erfordert die Interpretation von Namen wie an der Hand, im Lenzen, in der Pfitze, im Strick und im Suttenacker bereits mehr Phantasie und Fachwissen.

Der Lenzen, auch heute noch den meisten Einwohnern Bettingens ein Begriff für die gegen Grenzach hin abfallende Höhe, geht wahrscheinlich auf den Familiennamen Lenz zurück, der seinerseits die Kurzform des Taufnamens Lorenz ist. Zwar liesse sich der Flurname elegant herleiten vom mittelhochdeutschen Wort lenzen-velt = «zur Sommerfrucht bestelltes Feld». Doch handelt es sich beim Bettinger Lenzen um ein altes Rebgebiet, so dass diese Erklärung hier unpassend erscheint. Das Gebiet hiess und heisst jenseits der Gemeinde- und Landesgrenze ebenfalls Lenzen und war dort ursprünglich auch Rebgebiet - ein schönes Beispiel dafür, dass Flurnamen «grenzüberschreitend» gültig sein können, insbesondere dann, wenn der Name vor der Grenze da war.

Ebenfalls noch in Gebrauch, wenn auch weniger geläufig, ist in Bettingen der Flurname in der Stelli. Als «eingeklagte Schweineweide» hatte der gegen Nordwesten abfallende Waldrand zwischen Fünfeichen- und Wyhlenweg im Jahre 1950, als ihn die Nomenklaturkommission in ihrem «Namenverzeichnis von Riehen und Bettingen» erfasste und erklärte, allerdings längst ausgedient.

Als Sammelname für das ganze südöstlich des Dorfes gelegene Hügelplateau ist das Buchholz jedem Bettinger bekannt, während die untergeordneten, differenzierenden Bezeichnungen im Verschwinden begriffen oder schon ausgestorben sind. Eines dieser Teilgebiete des Buchholzes hiess noch bis 1885 / 99 in der Pfitze, in der Pfitzi oder in der Pfütze. In jenen Jahren sammelte der damalige Pfarrer von Riehen und Bettingen, Gottlieb Linder, systematisch die Flurnamen der Landgemeinden Riehen, Bettingen und Kleinhüningen und versah die meisten mit eigenen Kommentaren. So notierte er in diesem Fall: «lebend: in der pfitzi». Auch rund 100 Jahre später, als ich das Inventar für meine Arbeit aufnahm, ist mir der Flurname von Gewährspersonen noch genannt worden. Für seine Herkunft gibt es grundsätzlich zwei mögliche Erklärungen: Ein vom althochdeutschen Wort bizuni über das mittelhochdeutsche bizune, biziune = «umzäuntes Grundstück» stammendes, in der Mundart weiterlebendes bitzi bezeichnet einen «Einschlag zur Anlegung von Kulturen auf dem sonst als Stoppelweide dienenden Brachfeld»2). Diese Bedeutung lässt sich nicht immer mit Sicherheit von der zweiten trennen, die den Namen auf das schweizerdeutsche Wort Bützi = «Tümpel»3) zurückführt. Die gefundenen urkundlichen Formen (z.B. im 17. Jahrhundert: in der pfützi; 1786: in der pfütze) lassen auch einen Zusammenhang mit dem neuhochdeutschen Pfütze vermuten. In der Tat werden diese Hinweise auf feuchtes Gebiet unterstützt durch den benachbarten Flurnamen Suttenacker, ebenfalls ein Teilgebiet des Buchholzes. Dieser Name lässt sich wiederum zurückführen auf das mittelhochdeutsche Wort sute, sutte = «Lache, Pfütze» und bildet somit ein weiteres Indiz für lehmigen Erdboden in der Gegend des Dinkelberges. Aufgrund der heutigen Bodenbeschaffenheit ist es allerdings kaum mehr möglich, den Nachweis dafür zu erbringen, so dass der Deutungsversuch von Iselin/Bruckner in ihrer «Geschichte des Dorfes Bettingen» (S. 22) zwar etwas weit hergeholt erscheint, jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann: Die Autoren des Buches führen den Flurnamen auf den 1503 urkundlich belegten Personennamen Hans Suten zurück. (Diese Interpretationsart hat durchaus ihre Berechtigung, wurden doch früher zahlreiche Flurnamen vom Besitzer abgeleitet, um so zu kennzeichnen, wem das Gebiet gehörte.) Viel Kopfzerbrechen bereitete mir während meiner Forschungsarbeit der Kaiser. Vielleicht gerade weil er so unerklärbar anmutet, ist dieser Flurname in Bettingen nicht nur der älteren Generation vertraut. Die Nomenklaturkommission begnügte sich 1950 mit der wenig befriedigenden Herleitung vom Eigennamen Kaiser. Zwar ist das Wortelement Kaiser in Flurnamen seit der Stauferzeit (12. Jahrhundert) in diesem Sinne üblich, aber - und dieses Detail ist nicht unwichtig - nur in Zusammensetzungen. Nicht viel überzeugender ist der Deutungsversuch eines älteren Bettingers als Kurzfassung von Kaiserwald. Der Wald, der an jener Stelle seit Menschengedenken stehe, habe einmal irgend einem Kaiser gehört; allmählich sei dann wohl der zweite Wortteil entfallen. Anhand des aufgefundenen Belegmaterials, das vorläufig bis ins Jahr 1752 zurückreicht, lässt sich diese Interpretation weder eindeutig beweisen noch widerlegen. Aber es gibt noch zwei Deutungsvarianten, die es hier in Betracht zu ziehen gilt: Im Hinblick auf die örtlichen Gegebenheiten erscheint die Herleitung von einer Umdeutung des - nicht mehr verstandenen - mittelhochdeutschen Tätigkeitswortes kiesen = «prüfend sehen, wahrnehmen, erkennen» zumindest vertretbar. In der Fachliteratur wird in diesem Zusammenhang ein niederdeutscher Flurname der Kaiser zitiert, «der wohl einen Ort zur Ausschau in der Landwehr bezeichnet»4). Flurnamenbildungen mit Kaiser und König dienen schliesslich aber oft nur zur «symbolischen» Hervorhebung für besonders dominante Punkte (vgl. Kaiserstuhl, Königsstuhl). Der Bettinger Kaiser ist ein markanter Bergrücken, der das Dorf dominiert und von allen bewohnten Teilen der Gemeinde aus gesehen werden kann. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten neige ich daher dazu, dieser letzten Deutungsvariante den Vorzug zu geben.

Vorgehen und Hilfsmittel der Flurnamenforschung

Um zu der benötigten Fülle von Informationen zu gelangen, sind in der Flurnamenforschung mehrere Arbeitsgänge erforderlich, die zum Teil recht aufwendig sind: Am Anfang jeder Flurnamensammlung stehen Gespräche mit sogenannten Gewährspersonen: Dazu wählt der Flurnamensammler mit Vorteil ältere Leute, die praktisch ihr ganzes Leben in der Gemeinde verbracht haben. Sie haben eine Beziehung zum Ort, und im Laufe der Jahre haben sie den Wandel miterlebt, den das Dorf und mit ihm sein Flurnamenbestand erfahren haben. Während diesen Gesprächen, denen ein Gemeindeumgang vorausgeht, begleitet von einer «Reise mit dem Finger auf der Landkarte» durch das Dorf, «entlockt» der Flurnamenforscher seinen Gewährsleuten die Namen aller Hügel, Täler, Wälder, Felder, Verkehrswege und so weiter, die zur Gemeinde gehören, und notiert sie sich in Mundart möglichst lautnah mit einer Spezialschrift.

So entsteht ein vollständiges Korpus der (noch) bekannten Flurnamen in ihrer jüngsten Form. Dieser Feldarbeit folgt die systematische Suche nach älteren Belegen in schriftlichen und darstellenden Quellen. Dieses Quellenstudium, vorwiegend in alten Archivbeständen (Urbare, im oberrheinischen Gebiet «Beraine» genannt, Zins- und Zehntenverzeichnisse, Inventare von Grundbesitz, Kataster, ältere Namensammlungen und -Verzeichnisse sowie Pläne), hat zum Ziel, einen Flurnamen so weit zurück als möglich zu verfolgen und aufgrund des Spektrums der gefundenen Formen gleichsam die Geschichte des Namens von seinen Ursprüngen bis in die heutige Zeit aufzurollen.

So wird von den ältesten Zeugnissen bis in die Gegenwart eine sichere Grundlage für die Deutung und das Verständnis des Namens geschaffen. Einer Studienabschlussarbeit, wie sie diesem Artikel zu Grunde liegt, ist eine Frist von fünf Monaten vorgeschrieben. Das Quellenstudium musste daher beschränkt werden, so dass die untersuchten Handschriften und Pläne höchstens bis ins 16., einzelne bis ins 15. Jahrhundert zurück reichen. Zugunsten einer möglichst lückenlosen Abdeckung dieses gesamten Zeitraumes vom 15. /16. Jahrhundert bis zur Gegenwart wurde auf die Suche nach noch älteren Belegen bewusst verzichtet.

Nach Abschluss der Materialsammlung wird die Auswertung in Angriff genommen. Diese hat in erster Linie zum Ziel, die gefundenen Flurnamen zu deuten. Festgehalten werden aber auch sprachliche Charakteristiken und lautliche Phänomene. Dazu sind sprachgeschichtliche Studien notwendig, die mit Hilfe von Namensammlungen, Wörterbüchern sowie Fachliteratur zu Namenforschung und Geschichte durchgeführt werden. Im Idealfall ist am Schluss dieses Arbeitsganges ein Flurname «entschlüsselt», d.h. ein heute nicht (mehr) verstandener Begriff wird verständlich. In manchen Fällen lassen sich allerdings nur Hypothesen über die Bedeutung eines Flurnamens aufstellen, und ganz unbefriedigend ist das Resultat, wenn nach all der Arbeit ein Name sein Geheimnis nicht preisgibt, sondern unverstanden bleibt.

Sinn der Flurnamenforschung

Während meiner Beschäftigung mit den Bettinger Flurnamen bin ich hie und da auf kopfschüttelndes Unverständnis gestossen. «Flurnamen? Kurios. Aber wen interessiert das schon?» Diese Frage wurde mir aus meinem Bekanntenkreis unter mitleidigem Lächeln mehr als einmal gestellt, bis ich mich selbst zu fragen begann, wie sinnvoll oder sinnlos Flurnamenforschung eigentlich sei.

Man kann den Sprach- und Namenforschern vorhalten, was sie da treiben sei - wenn überhaupt - höchstens von akademischem Interesse, zum wirklichen Leben hätte ihre Arbeit keinen Bezug. Dass dem nicht unbedingt so ist, lässt sich meiner Meinung nach am Beispiel Bettingens darstellen:

Beispiel einer Karteikarte aus der Flurnamensammlung. Der Name wird in enger Transkription möglichst genau erfasst, so wie die Gewährsperson ihn ausgesprochen hat (in Klammern nach dem standarddeutschen Titel). Die Belege werden chronologisch geordnet und 7nit der Abkürzung der jeweiligen Quelle versehen (hinter dem Beleg in Klammern).

 

Auf eine lange Tradition als Bauerndorf zurückblickend (Rebbau, Milchwirtschaft, Ackerbau), hat sich Bettingen vorab im 19. und 20. Jahrhundert zum modernen Villenvorort Basels entwickelt. Eine Rebenkrankheit um 1900 mag diesen sozialen Wandel begünstigt haben, indem sie zahlreiche Bauern zwang, sich der weniger lukrativen Milchwirtschaft zu widmen, während andere in den Staatsdienst oder in die Industrie und das Geschäftsleben in der Stadt wechselten. Als Folge davon ging die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe stark zurück.

Mit dem Verschwinden der Landwirtschaft ist auch die Bewahrung der alten Flurnamen gefährdet. Während sie einst zum bäuerlichen Alltag gehörten, hat heute kaum jemand mehr ein vitales Interesse daran. Waren in früheren Jahrhunderten, ehe Grund und Boden genau vermessen und jedes kleine Landstück mit Hilfe des Katasters geometrisch genau nachgewiesen werden konnte, die Flurnamen von grösster Wichtigkeit als Eigentumsbezeichnungen, so stehen heute die Lage und der Quadratmeterpreis für Bauland im Vordergrund. Mit der überbauung aber ist das Weiterleben eines Flurnamens nicht mehr gewährleistet. Selbst wenn eine Strasse oder ein Weg in der neu erstellten Siedlung nach dem überbauten Grundstück benannt wird, bleibt der Name «tot», weil er bald hinsichtlich seiner Herkunft und Bedeutung undurchschaubar wird; die Form erstarrt und wird zum Fossil.

Sinnentleerte oder gar tote Gegenstände befremden uns aber und laufen damit einem unserer Grundbedürfnisse zuwider: unsere Umgebung mit Sinn zu füllen, indem wir die «Dinge beim Namen nennen». Um sich zurecht zu finden, benennt eine menschliche Gemeinschaft grundsätzlich je den markanten «Punkt in der Landschaft», jede örtlichkeit, die in ihrer nächsten Umgebung von Bedeutung für sie ist. Was keinen Namen hat, bedeutet ihr nichts (mehr). Flurnamenforschung stellt somit in unserer Zeit der drohenden Sinnentleerung und Beziehungslosigkeit nichts weiter als eine Konservierungsmassnahme - oder krasser ausgedrückt: einen Wiederbelebungsversuch - dar.

Hilfswissenschaft für Archäologen und Historiker

Andererseits geben «Fossile» dem Fachmann Aufschluss über die Vergangenheit der Fundstelle. Historiker, Anthropologen, Archäologen und Volkskundler finden in der Tat in Bettingen reichlich Stoff für ihre Tätigkeiten. Die Chrischonakirche steht beispielsweise auf ausserordentlich geschichtsträchtigem Bettinger Boden. Rudolf MoosbruggerLeu stiess bei seinen Ausgrabungen in der Chrischonakirche 1975 auf Indizien, die darauf hindeuten, dass es sich bei der Chrischonakirche ursprünglich um eine Brictiuskirche gehandelt haben könnte5).

Eine erste Kirchenanlage entstand auf St. Chrischona, so Moosbrugger, wahrscheinlich schon im Verlaufe des 7. Jahrhunderts. Die Chrischonalegende war aber nach Angaben der Autoren der «Geschichte des Dorfes Bettingen», L. E. Iselin und A. Bruckner (S. 37), frühestens im 13. oder 14. Jahrhundert ausgedichtet. Daraus folgt, dass das Heiligtum vor dieser Zeit wohl einem (oder einer) anderen Heiligen geweiht war. Moosbrugger griff hier auf den Flurnamenkomplex Britzigertal (heute: Chrischonatal), Britzigerboden und Britzigerberg zurück, der vom heiligen Brictius abgeleitet zu sein scheint. Der heilige Brictius gilt als Schutzpatron der Richter und Kinder, und seine Attribute sind glühende Kohlen und ein Wickelkind.

Im Gegensatz zur heiligen Chrischona ist die Figur des heiligen Brictius geschichtlich verifizierbar. Brictius lebte von 397 bis 444 und war als Nachfolger des heiligen Martin Bischof von Tours. Nach der Legende prophezeite Martin dem in seiner Jugend als frech geltenden Priester, dass er als Bischof viel Leiden werde erdulden müssen. Nach Martins Tod wurde Brictius unter Zustimmung der Bürger tatsächlich Bischof von Tours und besserte sich. Doch im 33. Jahr nach seiner Bischofsweihe wurde eine Nonne, die mit dem Waschen der bischöflichen Kleider beauftragt war, schwanger und gebar ein Kind. Das Volk sah im Bischof den Vater und wollte ihn steinigen. Ein Gottesurteil (glühende Kohlen) bewies zwar seine Unschuld, wodurch der Bischof mit dem Leben davon kam. Doch verstiessen ihn die Bürger von Tours aus der Stadt.

Hauptindiz für Moosbruggers Hypothese, die Chrischonakirche sei ursprünglich eine Brictiuskirche gewesen, bildet der Fund von 91 Gräbern unter der Chrischonakirche, von denen 56 - also mehr als die Hälfte - Kindergräber waren. Dieser Fund lässt sich mit der Chrischonalegende nicht in Verbindung bringen, wohl aber mit dem heiligen Brictius, dem Schutzpatron der Kinder. In Anbetracht der drei Brictiuskapellen im Umkreis von 30 Kilometern von St. Chrischona (bei Oltingen im Sundgau, in Dennach und bei Illfurt), die immer in unmittelbarer Nachbarschaft einer Martinskirche stehen, gewinnt Moosbruggers Theorie zusätzlich an Wahrscheinlichkeit. Der einzige Schönheitsfehler daran ist allerdings, dass die Grenzacher Mutterkirche der Chrischonakirche nicht dem heiligen Martin, sondern dem heiligen Leodegar geweiht ist. Doch Moosbrugger selbst, der sich dieses Widerspruchs bewusst ist, verweist auf die Martinskirchen in Riehen und Liestal.

Neben diesen mehr wissenschaftlichen Indizien zugunsten von Moosbruggers Theorie gibt es aber auch einige äusserliche Parallelen, etwa zwischen St. Brictius bei Illfurt und St. Chrischona bei Bettingen: Beide Kapellen liegen umgeben von Wald auf einem Hügelplateau in unmittelbarer Nähe historischer Gräberfelder (spätbronzezeitlichfrüheisenzeitliches Gräberfeld im Bereich des Britzigerberges); von beiden Hügelkuppen aus hat man eine herrliche Aussicht; und schliesslich waren beide Kapellen zeitweise Wallfahrtsorte.

Vor dem Hintergrund solcher interdisziplinärer Forschungsarbeit kann Flurnamenforschung als Hilfswissenschaft für Archäologen, Historiker und Volkskundler tatsächlich als von «bloss» akademischem Interesse betrachtet werden. In der Namengebung spiegelt sich jedoch häufig die geographische, wirtschaftliche und soziale Lage einer Gemeinde sowie ihre historische Entstehung und Entwicklung. Damit scheint mir der Bezug zum «wirklichen Leben» gewährleistet zu sein.

So lassen sich anhand der Flurnamen Bettingens zum Beispiel Aussagen über die Lage und Form eines Grundstücks («Linsberg», «im Tal»), über die Bodenbeschaffenheit («nasser Grund», «Leimgrube»), über die (frühere) Nutzung («Kuhstelli») und über Rechtsverhältnisse («Dinghof») machen. Schliesslich geben einige Bettinger Flurnamen Aufschluss darüber, wie sich das Dorf siedlungsgeschichtlich entwickelt hat (alle Namen mit «Rüt(t)enen»),

Anmerkungen

1) Id. VI.1369 f.

2) Id. IV.1993

3) Id. IV.2029

4) A. Steeger [ + F. Rütten]: «Studien zur Siedlungsgeschichte des rheinischen Tieflandes», in: Rhein. Viertelj.-Bll. 2 (1932), S. 278 ff. Zitiert nach: Bach, 11,1 § 221.1 d

5) vgl. Rudolf Moosbrugger-Leu: «Bettingen, St.Chrischona und das Brictius-Problem» in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Band 76, Basel 1976, S. 236-245. Ausführlicher wird das Thema abgehandelt in: Rudolf Moosbrugger-Leu: «Die Chrischonakirche von Bettingen. Archäologische Untersuchungen und baugeschichtliche Auswertung» in: Materialhefte zur Archäologie in Basel, 1985/Heft 1 FIrsg.: Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt und Seminar für Ur- und Frühgeschichte, Universität Basel.

 

althochdeutsch = Schreibsprache, die zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert in der überlieferung auftaucht.

 

mittelhochdeutsch = Sprachepoche des hohen und des späten Mittelalters (ca. 1150 bis ca. 1500).

 

neuhochdeutsch = unsere heutige Schriftsprache; entwickelte sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts aus dem Mittelhochdeutschen.

 

niederdeutsch = Deutsch des flachen (platten) Landes ( = Norddeutschland) = Plattdeutsch.

 

Literatur (Auswahl)

«Schweizerdeutsches Wörterbuch (Schweizerisches Idiotikon)», bisher Bände I-XIV, Frauenfeld 1881 ff. (Zit.: Id.) Adolf Bach: «Deutsche Namenkunde», in: Die deutschen Ortsnamen, Bände II, 1 und 2, Heidelberg 1953 f. (Zit.: Bach) L(udwig) Emil Iselin: «Geschichte des Dorfes Bettingen», Basel 1913, 21963

Gaby Burgermeister: «Die Flurnamen von Bettingen», unveröffentlichte Lizentiatsarbeit am Deutschen Seminar der Universität Basel, Basel 1986 Erhard Richter: <Die Flurnamen von Wyhlen und Grenzach in ihrer sprachlichen, siedlungsgeschichtlichen und volkskundlichen Bedeutung> in: Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte, Band 11, Freiburg B 1962

 

Ungedruckte Quellen im Staatsarchiv Basel-Stadt (Auswahl)

Bettingen und Wencken, 1449-1663 [Abschriften alter Pergamente] Berainbuch über die Zinse in den Ämtern, angelegt von Stadtschreiber Kaspar Schaller, 1534 [Bettingen: 1511] Bettinger Berain, 1594 und 17. Jahrhundert Waisenhausarchiv, Berain, 1388-18. Jahrhundert Kellersches Gut in Bettingen, 1661-1747 Specificattion oder Verzeichnis aller unser knädigen Herrn Waldung im Bettinger Bann, 1739 Grenzacher Pfarreizehnten in Riehen und Bettingen, 1530-1803 Inventare, Abteilungen, Erbsvergleiche und übergaben Riehen, Bettingen und Kleinhüningen, 1797-1885 Vermessungsamt: Lokalnamen, Flurnamen, 1939-1948 Gottlieb Linder: «Flurnamen von Riehen, Bettingen und Kleinhüningen» (Manuskript), Lausanne 1899 (Bibliothek des Staatsarchivs Basel-Stadt) Nomenklaturkommission: Namenverzeichnis der Gemeinden Riehen und Bettingen 1950 (Bibliothek des Staatsarchivs Basel-Stadt)

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1988

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