Ritter Georg und die Störche

Daisy Reck

Bei einem Streifzug durch die «Riehener Zeitung» des Jahres 1961 lässt sieh Unerwartetes, Tiefgründiges und Amüsantes entdecken.

Es war im Marz 1961, als eine 20 Tonnen schwere Sandsteinfigur vom Riehener Grenzacherweg weggeschleppt und zum Basler Münster befördert wurde: Der Baumeister Fritz Behret und sein Sohn Rolf hatten ihr auf der Wiese neben ihrem Atelier unter einem Plandach geschaffenes Werk vollendet. Vier Jahre zuvor war der dreieinhalb Meter lange, zweieinhalb Meter breite und ein Meter tiefe, damals noch unbehauene Brocken aus dem deutschen Maintal zu ihnen gekommen. Aus ihm hatten sie einen neuen Ritter Georg gemeisselt. Der alte, der über 600 Jahre an der Fassade der Kathedrale Wind und Wetter getrotzt hatte, war nun doch zu altersschwach geworden. Er wurde ins Klingentalmuseum gebracht. Der neue aber, in jugendlichem Rosa erstrahlend und mit der originalen Lanze in der Faust, das Symbol für die Tugend des Mutes, wurde jetzt teils bewundert, teils kritisiert. Der Drachentöter gefiel den einen wegen seiner neuen Interpretation. Die anderen aber störten sich an dem ihrer Meinung nach zu hellen Stein. Edi Wirz meinte zu diesem Zwist im Dorfblättli: «Ritter Georg, ein Riehener, weil er von dem in Riehen seit langen Jahren sesshaften Fritz Behret gestaltet worden ist, wird mit den Jahren gewiss noch nachdunkeln.»

Dieser Transport von Riehen nach Basel ist eine der vielen Episoden, die wir entdecken, wenn wir uns in den Sammelband der «Riehener Zeitung» zum Jahr 1961 vertiefen und nach hervorstechenden Geschehnissen in der Gemeinde suchen. Sie spielen sich ab vor der Kulisse bedeutender, weltpolitischer Ereignisse: beispielsweise dem Amtsantritt von Präsident John F. Kennedy, den Friedensbemühungen in Algerien, dem Attentat auf Charles de Gaulle, der missglückten Kuba-Invasion oder dem Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann. Und sie stellen sich an die Seite der Begebenheiten in der Stadt: beispielsweise der umstrittenen Berufung von Helmut Gollwitzer zum Nachfolger von Karl Barth, dem Brand des Pfalzbadhyslis oder dem Einzug von gleich 14 weiblichen Mitgliedern bei der ersten Frauenwahl in den Bürgerrat. Die meisten der dorfeigenen Schwerpunkte betreffen Bauliches: die Einweihung des neuen Gemeindehauses vorab, dann aber auch die Strassenänderungen im Webergässlein, die Wünschbarkeit eines Dorfmuseums, die Einweihung einer neuen Kirche im Diakonissenhaus, die Geleiseverlegungen bei der Haltestelle Bettingerstrasse und die neu aufgeflammte Diskussion um das erste Hochhaus von Richen im Hirshalm. Ja, bisweilen erhält man beim Blättern durch die Monate den Eindruck, dass damals allein dieses Bauliche das Jahr geprägt habe. Hans Krattiger, der in jener Zeit auf der Front des Journals unter dem Pseudonym «Bebbi» und unter den Titeln «Die Welt am Wochenende» und «Zwischen Wiese und Birs» wöchentlich mit einem internationalen und einem regionalen Beitrag leitartikelte, hielt in seiner Silvesterbetrachtung jedenfalls fest, in Riehen grassiere die Bauwut. «Man stolpere allerorten über Neues und nicht immer Erfreuliches».

Öffnet man indessen seine Augen und schaut über dieses Vordergründig-Konkrete, von Baulichem Geprägte hinaus, stösst man innerhalb der 52 Ausgaben auch auf anderes: auf Menschliches, Tiefgründiges und Amüsantes. Oft beschlägt es nur eine kleine Notiz, bisweilen ist es aber auch ein Thema, welches immer wieder auftaucht. So könnte man das Riehener Jahr 1961 zum Beispiel als das Jahr von Edi Wirz benennen: Denn der Heimatdichter taucht fast in jedem Monat auf irgendeine Weise in den Spalten auf. Weil im Februar der von allen geschätzte Mann, der während einer langen Zeit Tausende von Dorfkindern als Lehrer geprägt hatte und zugleich mit Reimen und Erzählungen über das, «was unser Leben ausmacht», an die öffentlichkeit getreten war, seinen 70. Geburtstag feierte, gab man seinen fein gedrechselten Worten noch öfter als sonst Raum. Am 1. August hielt er zudem auf poetische Weise die offizielle Rede. Und im Dezember konnte man dem Antrag, den geschätzten Bewohner zum Ehrenbürger zu machen, nur deshalb nicht stattgeben, weil das kantonale Recht das nicht zulässt. Alle waren darüber traurig; aber eine Gesetzesänderung wollte man denn doch nicht beantragen.

Ebenfalls während des ganzen Jahres findet man Hinweise auf das, was am Wochenende des 20. bis 23. Oktobers endlich im Dorfsaal des Landgasthofes zelebriert wurde. Im Vorfeld hatte man es zärtlich «die Riehener Mustermesse» getauft. In Wirklichkeit war es eine Grosspräsentation der Detailgeschäfte und Handwerker. Zum Anlass des zehnjährigen Bestehens der Interessengemeinschaft Riehen wollte man vor allem den Neuzugezogenen zeigen, dass sie nicht in die Stadt gehen müssen, um auf Gutes und Schönes zu stossen. «Wo wohnsch, de wohnsch doch z Rieche? Wo kaufseh, natürlich z Rieche!» Das war das Motto. Und der Bebbi schrieb in seinem Leitartikel, es sei «jedem Einwohner bei Strafe verboten, während dieses Anlasses die Gemarkung des Bannes Riehen zu verlassen».

Eine solche Strafe anzudrohen, war Anfang des gleichen Monats gar nicht nötig: Am 7. Oktober gab es wohl keinen Riehener, der nicht dabei sein wollte, als der Musikverein Riehen die Feier seines 100-jährigen Bestehens beging. Am grossen Fest «mit Konzert, Reden, Tanz, einem bunten Abend und einem währschaften Trunk» wurde immer wieder betont, dass Riehen nicht einfach ein Vorort von Basel sei, dass uneigennützige Arbeit während Generationen für Verbundenheit gesorgt habe und class auch heute, da solche Zusammengehörigkeit nicht mehr selbstverständlich sei, das «Vereinsschiff kein Leck aufweise und man die Stellung mühelos halten könne».

Weniger spektakulär zog man das Jubiläum von «Kunst in Riehen» auf: Schliesslich war man ja auch erst zehn Jahre alt. Aber die Saison wurde am 9. November doch mit einem Konzert von Joseph Bopp und Charles Dobler in den Inseraten aufsehenerregender angekündet als sonst. Womit wir bei den Inseraten jener Zeit wären. Sie im Sammelband der «Richener Zeitung» von 1961 zu betrachten, macht besonderen Spass. Ihre naive Gestaltung amüsiert. Wir, die wir an eine sachlich-moderne Grafik gewohnt sind, schmunzeln über diese schnörkelreiche Sprache und diese pompöse Aufmachung. Besonders stechen dabei die Hinweise auf die nur am Wochcnende stattfindenden Kinovorstellungen ins Auge. Zum Schmunzeln gesellt sich auf diesem Gebiet indessen die Bewunderung. Denn das Angebot war ein ausserordentliches. Es wurden Raritäten gezeigt wie «Der Schwan» mit Grace Kelly oder «Faust» mit Will Quadflieg und Gustav Gründgens.

Seit dem Beginn des Jahres 1961 fieberte man in Riehen dem Augenblick entgegen, da die neuen Gelenktriebwagen der BVB probeweise auf der Linie 6 eingesetzt werden sollten. Nachdem man den Prototyp durch eidgenössische Instanzen auf Herz und Nieren hatte prüfen lassen, fand endlich am 19. Mai die Jungfernfahrt statt. Das 20 Meter lange Ungetüm mit dem «Knax» in der Mitte wurde gefeiert. Und in der Folge stiegen viele Riehener vom Auto aufs Tram um. Sie wollten das «Wundertier» kennenlernen und Hessen sich auch durch seine Kinderkrankheiten nicht abschrecken. Es entgleiste nämlich immer wieder und wirkte, trotz seiner Luftfederung «wie ein Schüttelbecher». Doch es gab wenige, die das störte. «Man fühlte sich, fluoreszenzbeleuchtet und warmluftbeheizt, wie in der Pariser Metro.» Und war einmal mehr stolz darauf, dass die BVB die Strecke zwischen Basel und Riehen immer wieder dazu benützten, um Neues auszuprobieren. Fast gleichzeitig war man auch stolz, als die «Riehener Zeitung» darüber orientierte, dass man bei Grabarbeiten am Fusse des Grenzacherhörnlis einen Mammutzahn entdeckte hatte. Ganz Altes neben ganz Modernem: Das prägte das Tagesgespräch.

Noch vor den Sommerferien gab es zusätzlichen Stoff für Debatten: Unmittelbar neben dem Zoll war eine Milchbar für durstige Ferienreisende eröffnet worden. Und in den Spalten des Journals wurde darüber diskutiert, ob dies «eine Konkurrenzierung der Riehener Restaurants» bedeute. Doch die Gemüter beruhigten sich rasch. Nicht zuletzt deswegen, weil sich ein anderes Thema in den Vordergrund schob: Am 23. Juni waren Störche ins Nest auf dem Mattenhof eingezogen. Man hatte sie von Altreu her angesiedelt und hoffte nun, dass sie im Dorf heimisch würden und im nächsten Jahr, nach ihrer Afrikareise, wieder zurückkehrten. Man taufte sie, wie das «Blättli» berichtete, auf Emil, Heidi und Veronika und war im August sehr betroffen, als Heidi in einen Leitungsdraht flog und sich verletzte.

Gegen das Ende des Jahres hin schob sich der Abschied des während Jahren in Riehen tätig gewesenen Pfarrers Hans Rudolf Rothweiler in den Vordergrund von Zeitungsartikeln. Man hatte den Seelsorger wegen seiner leidenschaftlichen Auslegung der Schrift geschätzt und dankte ihm für seine unermüdliche Tatkraft. In allen Würdigungen wurde betont, wie er fähig gewesen war, «Menschen anzusprechen, die dem kirchlichen Leben eigentlich fernstanden». Seine Abschiedspredigt fiel mit dem dritten Advent zusammen. Und fand gerade noch an einem Sonntag statt, da man ungefährdet und auf trockenen Strassen in die Dorfkirche gehen konnte. Danach, so lesen wir in der letzten Ausgabe des Journals, wurde «die Situation prekär». Das Jahr verabschiedete sich mit Regen und Schnee. Die vereisten Strassen und Trottoirs führten zu einem Chaos. Und dies, nachdem das Wetter in den vergangenen zwölf Monaten sonst kaum für Schlagzeilen gesorgt hatte. Die Kirschblüte war nicht vom Frost bedroht und die Kirschernte nicht vom Hagel zerstört worden. «Alles im Mass», berichtet uns ein Rückblick auf die Witterung, der traditionell auch 1961 zur Silvesternummer der «Riehener Zeitung» gehörte.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2010

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