Sommernachtsspuk im Wettsteinhaus

Eduard Wirz

Es war eine ausnehmend schöne Sommernacht. Ein leichter Ostwind strich über das Tal und das Dorf Riehen. Der Vollmond stand am klaren Himmel. Man hätte alle Straßenlampen auslöschen können, damit sich der stille Genießer wieder einmal an dem anmutigen Spiel zwischen Licht und Schatten, wie es nur eine solche Nacht zu schenken vermag, hätte erfreuen können. Aber leider dachte keine Amtsstelle daran, denn die Nacht ist zum Schlafen und nicht zum Denken da. Das focht drei sonderbare Gesellen wenig an, die um Mitternacht vor dem schönen Gittertor des alten Wettsteinhauses standen. Der eine von ihnen, ein Büblein, ein richtiger Dreikäsehoch, nur mit einem Leibchen und kurzen Höschen bekleidet, hielt in der einen Hand einen Papierdrachen, indes er mit der andern ohne Erfolg am Schloß des Tores rüttelte. Hinter dem Büblein warteten zwei Männer. Der eine, der schon in den Jahren war, trug ein gegürtetes Wams, das mit einer Halskrause abschloß. Daraus ragte ein bärtiger Kopf, in dem zwei lebhafte, verschmitzte äuglein blitzten. Der Mund war genießerisch geöffnet, als stehe ihm im nächsten Augenblick eine ganz besondere Köstlichkeit bevor. Neben ihm hielt sich ein dickes Männchen mit einem artigen Bäuchlein. Es stand mit leicht gebeugten Knien. Ein Schwalbenschwanzröcklein umschloß die rundliche Leibesfülle. Das Röcklein war mit zwei großen Knöpfen geziert. Auf dem Kopf aber saß ein hoher Gugelhut. Da das Büblein noch immer vergeblich an dem Tor rüttelte, schob ihn der Mann mit der Halskrause beiseite und sagte:

«Laß es, ich habe noch einen Schlüssel bei mir. Wenn sie das Schloß nicht geändert haben, wird er wohl noch passen.»


«Au, das ist fein, Hans! Du kennst dich ja hier am besten aus!» jubelte das Büblein.


«Halt dich still, sonst hören sie dich drüben auf der Wacht, wenn sie noch hinter dem Krug sitzen, und rücken aus.»


Er hatte den Schlüssel ins Schloß gesteckt, murkste und versuchte ihn zu drehen, und endlich bewegte er sich. Der Mann stieß das Tor vorsichtig auf. Aber es kreischte dennoch in den Angeln. Er schupfte seine Begleiter in den Hof, schloß das Tor zu und führte sie hinter das Gartenhäuschen in das Dunkel.


«Schnell! Schnell! Hört ihr, sie kommen!»


Sie vernahmen Schritte, die sich in gemessenem, sozusagen amtlichem Tempo näherten. — «Rührt euch nicht!»


Die Schritte hielten vor dem Tor. Die Drei vernahmen ein Rütteln und dann ein Brummen.


«Du hast wieder einmal am heiterhellen Tage Gespenster gesehen oder gehört.»


Die Antwort kam alsogleich: «Zum ersten ist es nicht Tag, sondern Nacht, und zum andern habe ich etwas gehört.»


«Ja, Gespenster.»


«Gespenster lärmen nicht.»


Eine Weile blieb es still, dann erkannten die drei Versteckten erneut die erste Stimme.


«Komm, es ist nichts! Es ist schade um den Jaß.»


«Ja, du hast Stock gewiesen», fiel unmittelbar die zweite Stimme ein. Darauf entfernten sich die Schritte in gemessenem Tempo. Die Drei traten aus ihrem Versteck.


«Ihr bleibt hier», befahl der Halskrausenmann.


«Wo willst du hin, Hans?»


«Ich muß erst im Keller nachsehen», lautete die kurze Antwort, und schon war der Bärtige verschwunden.


Als er nach geraumer Zeit wieder in den Hof trat, saß das Männlein mit dem Gugelhut auf dem Rand des Brunnens, der in der Stille der Nacht plätscherte, indes sich der Mond in seinem Wasser spiegelte. Das Männlein hielt eine kurze Rute in den Händen, die sich in zwei ästchen gabelte. Die Spitzen des Schwalbenschwanzröckleins tauchten in das Wasser; aber das achtete das Männlein nicht.


«Was suchst du Wasser?» fuhr ihn der Krausenmann an. «Hat es hier nicht genug?!»


«Das schon, aber es ist eben meine Gewohnheit. Und du, Hans, hast du gefunden, was du suchtest?»


«Gefunden! Gefunden!» brummte der Bärtige. «Ganze zwei Fässer sind im Keller, ganze zwei Fässer, und ich mochte daran pochen und klopfen soviel ich wollte, oben und unten, sie waren leer, leer.»


«Dann hältst du dich also doch lieber an das Wasser, Hans.»


Der Gefoppte antwortete nicht. Erst nach einer Weile meinte er: «Wenn das mein Herr noch erlebt hätte!»


«Der Herr Bürgermeister?»


«Heja, der Wettstein.» «Hat er dir nicht etwa das Trinken abgewöhnen wollen, Hans?»


«Aber leere Fässer hätte er in seinem Keller nicht geduldet! Das nicht!»


«Was machen wir jetzt?»


Der Krausenmann gab keine Antwort, sondern zupfte seinen Gefährten am ärmel: «Dort! Sieh!»


Das Büblein stand mitten im Hof und hielt die Schnur in der Hand und blickte in den Himmel. Und jetzt sahen die beiden Männer, wie sich hoch oben der Drache wiegte, hoch über allen Dächern. Wie ein schwarzer Vogel schaukelte er hin und her, aber manchmal, wenn er sich drehte, blitzte er einen Augenblick wie Silber. Die Männer staunten.


«Das ist schier wie ein Wunder, bei diesem leichten Wind.»


Der Krausenmann trat zu dem Knaben: «Wie hast du das fertig gebracht?»


«He, ich bin ein wenig gerannt, und dann ist er eben gestiegen.»


«Wie ein Wunder!»


«Warum sollte es nicht ein Wunder geben, in dieser schönen Mondnacht? Warum nicht? Wenigstens bei uns und für uns», sagte das Gugelhutmännchen und lächelte, und dann fragte es: «Und jetzt? Gehen wir in das Haus, wie du es uns versprochen hast, Hans?» Es hüpfte vom Brunnenrand hinunter und ging auf die Türe des Turmes zu.


«Nein, nicht hier», wehrte der Krausenmann, «das ist für die Herrschaft. Komm!»


Er ging über den Hof und hielt vor der hintern Turmtreppe.


«Da war ich daheim.»


Sie standen unter der Türe.


Das Büblein sah und hörte nichts. Es blickte unverwandt nach seinem Drachen, der nun still wie ein dunkler Stern am mondhellen Himmel stand.


«Komm! Komm!»


«Schon?»


«Es ist Zeit, Fritzli.»


«Aber es ist doch so schön! Sieh nur!»


«Muß ich dir den Hosenboden spannen und dich dann hier allein lassen, daß du den Heimweg nimmer findest?» drohte der Bärtige.


«Schade», sagte das Büblein und fing an, die Schnur einzuziehen.


Dann stiegen sie die finstere Treppe hinauf.


«Da hinten ist meine Kammer.»


Der Krausenmann stieß eine Türe auf. Er trat über die Schwelle, und die beiden folgten ihm. Das Licht der Nacht fiel in das kleine Gemach und fiel auf ein Bild, dessen Linien und dunkle Farben nach und nach deutlich wurden.


«Das bist ja du, Hans!» rief auf einmal das Gugelhutmännlein.


Hans nickte.


«Wie du leibst und lebst. Und gut lebst du, Hans, gut! Brot und Käse und Wurst, und natürlich, der Schlipfer fehlt nicht.»


«Ja ja.» Mehr sagte der Krausenmann nicht.


Das Männlein im Schwalbenschwanzröcklein aber drängte nicht weiter mit Fragen. Es mochte seinen Freund nicht stören. Das Büblein stand stumm daneben und preßte sein Spielzeug an sich.


Plötzlich fuhr der Krausenmann aus seinem Träumen auf: «Was ist

das?! Habt ihr nichts gehört?» Er trat in den Gang und blickte durch das Fenster in den Hof. «Sie kommen!» — «Wer?»


«Die von der Wache!»


Das Gugelhutmännlein stand neben ihm: «Ja, es sind ihrer zwei. Und jetzt?»


«Kommt! Wenn wir Glück haben, können wir durch den Garten entwischen.»


Sie rannten die Treppe hinunter. Gottlob, die Türe war nicht zugeriegelt. Einen Augenblick hielt der Krausenmann inne. So hatte er den Garten in Erinnerung. Er war voller großer, ausladender Sträucher, und mächtige Bäume ragten in die Höhe, und ihre Kronen wölbten sich gleich einem Dach, durch dessen Lücken und Ritzen jetzt das Silberlicht nur spärlich in das dunkle Geviert rieselte. Die Flüchtenden sahen die Schönheit des nächtlichen Parkes nicht, sie hörten nur, wie die Verfolger ihnen dicht auf den Fersen waren. Der Krausenmann eilte voraus. Er wußte, in der hintern Mauer war ein Törlein. Der Herr hatte oft gescholten, wenn er vergessen hatte, es abzuschließen. Vielleicht stand es auch in dieser Nacht offen. Hinter dem Krausenmann stolperte das Büblein, beide Hände schützend über den Drachen gelegt, damit das Gestrüpp ihn nicht verletze. Das Gugelhutmännlein folgte.


Und jetzt, jetzt hörte Hans ein helles Lachen. Darauf ein Plätschern, wie wenn jemand unvermutet in eine tiefe Wasserlache tritt oder gar hineinplumpst. Dann vernahmen sie ein ärgerliches Fluchen. Es war die Wache.


«Was ist das?» fragte der Krausenmann, der nun schon am Törlein angelangt war, am Törlein, das nicht verriegelt war und seinem Druck nachgab. «Was ist das?»


«Du hörst es ja, das Wasser.»


«Ich habe kein Wasser gesehen.»


«Begreiflich nicht, es war auch keines da. Aber du kennst ja meinen Beruf. Und wenn man so viele Jahre müßig dagestanden, kann man wohl einmal etwas Tüchtiges tun. Ich habe einen ordentlichen Weiher aus dem Boden springen lassen.»


«Das ist ja wie ein Wunder.»


«Ich habe es dir schon gesagt, warum sollte es in dieser schönen Mondnacht kein Wunder geben? Gibst du nun zu, daß das Wasser mehr wert ist und Besseres leistet als dein Wein?»


Darauf erhielt er keine Antwort.


Die Drei eilten im Schatten der Hecken und Häuser davon.


Am Morgen aber, als über dem Chrischonawald die ersten Sonnenstrahlen blitzten, stand jeder an seinem Platz, rührte kein Glied und verzog keine Miene, als ob nichts geschehen wäre, der Wassersehmekker mit seinem Rütlein am Lachenweg, der Giggishans mit Krug und Becher am Wasserstelzenweg und das Drachenbüblein in seiner Nische in den Habermatten.


Die Männer von der Wache aber, als sie bei Tageslicht den Park des Wettsteinhauses von neuem nach allen Richtungen durchsuchten, fanden kein einziges Tröpflein Wasser mehr. Der Boden war überall trokken und hart, selbst im tiefsten Schatten der Bäume, denn es hatte lange Wochen nicht geregnet.


«Es waren doch Gespenster.»


«Es war Johannisnacht, ich habe im Kalender nachgesehen.»


«Und?»


«Da sei früher allerhand geschehen.»


«Früher! Früher! Aber nicht heute!»


«Du, ich glaube, es ist am gescheitesten, wir sagen keinem Menschen etwas davon und den Rapport schicken wir nicht ab. Sonst lachen sie uns noch aus.»


So ist es gekommen, daß über diesen Sommernachtsspuk kein Sterbenswörtlein in den Akten steht.


Und die beiden Männer und das Büblein? Sie werden sich hüten, davon etwas auszuplaudern. Doch ob sie nicht wieder einmal in einer Vollmondnacht ausziehen, das ist nicht sicher. Denn bekanntlich locken verbotene Ausgänge.


Abdruck aus dem soeben erschienenen Buch von E. Wirz, «Der Lällenkönig», Pharos-Verlag, Basel.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1962

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