Stätten der Geborgenheit

Albert Schudel

In seiner Radioansprache zum «Tag der Kranken» im Jahre 1965 erzählte Bundesrat Prof. Dr. Fritz Wahlen von einer Mutter, die sich von ihrem Peterchen nicht stören lassen wollte. Statt ihm die gewünschte Geschichte zu erzählen, sagte sie, er solle doch die Märchenplatte auf den Grammo legen, diese erzähle viel besser als sie. Worauf sie vom Kleinen die Antwort bekam: «Die Platte nimmt mich nicht auf den Schoss, wenn sie erzählt, Mutter.» — Bundesrat Wahlen verwies dann darauf, wie sehr nicht nur Peterchen, sondern auch Peter der Geborgenheit in der Familie und in der menschlichen Gemeinschaft bedarf. «Davon hat aber die moderne Gesellschaft immer weniger zu geben, weil sich in unserer technisierten Zeit die Bande von Mensch zu Mensch lockern», sagte der bedeutende Staatsmann.

Glücklicherweise gibt es aber immer noch verantwortungsbewusste Bürger, die weder Zeit noch Mühe scheuen, um die so nötigen Berührungspunkte von Mensch zu Mensch zu schaffen, aus denen echte Mitmenschlichkeit und Geborgenheit wachsen können.

Riehen ist reich an Werken christlicher Nächstenliebe — Diakonissenanstalt, Taubstummenanstalt — um nur die zwei bekanntesten zu nennen, die zum Teil schon vor über 100 Jahren gegründet wurden. Aber nicht nur unsere Vorfahren wussten um ihre Verantwortung den schwächeren Mitmenschen gegenüber. Es leben unter uns nicht wenig Frauen und Männer, die auch heute noch soziale Aufgaben erkennen, sich für deren Realisierung einsetzen und dafür Opfer zu bringen bereit sind. Es ist mir eine Freude, über zwei solcher Werke aus neuer Zeit berichten zu dürfen.

Das Lehrtöchterheim

Wenn wir von sozialen Werken sprechen, so hat das zunächst nichts mit Politik zu tun, wohl aber mit sozialem Verantwortungsbewusstsein, und dieses scheint im Evang. reform. Frauenverein Riehen schon seit Jahren wach und lebendig gewesen zu sein. Eine schöne Frucht, die daraus erwachsen durfte, ist das Lehrtöchterheim Riehen, in dem 21 junge Töchter ein Zuhause finden und hier eben jene Geborgenheit erleben dürfen, von der eingangs gesprochen wurde.

Doch blenden wir zunächst etwas zurück auf die Entstehungsgeschichte dieses Heimes. Da stossen wir auf den Namen Arthur Rufener, den Heimleiter der «Guten Herberge», der im Frühjahr 1965 über die Not klagte, die seinem Heim entwachsenen Mädchen unterbringen zu können. Der Vorstand des Frauenvereins hat sie gehört. Als man der Frage weiter nachging, erwies es sich, dass ein ausgesprochener Mangel an Lehrtöchterheimen überhaupt bestand. Das dem Waisenhaus angeschlossene Lehrtöchterheim in Basel musste wöchentlich vier Anfragen abweisen! Einige Riehenerfrauen erkannten hier eine Aufgabe und wurden darin durch einen Vortrag des damaligen Vorstehers der Vormundschaftsbehörde unterstützt und ermuntert. Am 5. Juni 1966 beschloss die Jahresversammlung des Frauenvereins Riehen, ein Lehrtöchterheim zu schaffen. Der daraufhin gebildete Arbeitsausschuss musste jedoch erleben, welch harter und weiter Weg bis zur Realisierung zu gehen sei.

Wohl hatten die Behörden ihre Unterstützung und Mitwirkung zugesagt, sie sorgten dann aber während der nächsten Jahre für manche Bremsen und Verzögerungen, die unsere eifrigen Initiantinnen oftmals fast «aus den Socken jagten».

Während nun einerseits mutig der Bettelstab ergriffen und überall Geld gesammelt, ein Konzert veranstaltet und ein grosser Bazar durchgeführt wurde, waren andererseits unsere Frauen unermüdlich auf der Suche nach einem geeigneten Haus. Nichts zeigte sich, das für das geplante Heim geeignet gewesen wäre. Da war es ein grosser Lichtblick, als die «Bischoff-Stiftung» der Gemeinde Riehen eine Bauparzelle an der Schlossgasse zu einem sehr günstigen Baurechtszins anbot. Das war im Frühjahr 1968. Damit war grünes Licht für die Planung eines Neubaus gegeben.

Zu schnell sind wir nun aber an einem für die Sache des Lehrtöchterheimes bedeutsamen Markstein vorbeigegangen, dem Bazar vom Januar 1967. Er zeigte anschaulich, was eine frisch-fröhliche Begeisterung vermag. Die von ihrem Plan überzeugten Riehenerfrauen brachten das halbe Dorf auf die Beine. Es war einfach erstaunlich, was da an einem Tag im alten Gemeindehaus zusammenkam, was alles geboten und angeboten wurde. Mit viel Phantasie und einsatzfreudiger Liebe ist gearbeitet und gebastelt worden, und die Riehener kamen und freuten sich mit. Schliesslich schaute nicht nur ein respektabler Reingewinn heraus, sondern der Gedanke des Lehrtöchterheimes fasste in unserer Gemeinde festen Fuss.

Deutlich kam das Züglein nun in einer bestimmten Richtung in Fahrt. Die Frauen des Arbeitsausschusses berieten und planten, die Köpfe rauchten, der Architekt zeichnete und Briefe flogen auf ämter und in Büros. Aber da tauchten auch schon die ersten roten Signale auf. Waren wirklich Weichen falsch gestellt? Sollte das Heim für 12 oder für 22 Mädchen gebaut werden? Da das «Privat-Bähnlein» ja nicht aus eigener Kraft zum Ziele kommen konnte, mussten stärkere Maschinen vorgespanntwerden, und mit ihnen mehrten sich auch die roten, von Monsieur le Büro aufgesteckten Lampen. Bis der Zug alle «ämtlein-Stationen» durchfahren hatte, wurde er ungezählte Male hin und her geschoben, von einem Bahnhöfli zum andern, und wenn die wackeren Riehenerinnen nicht immer wieder tüchtig Dampf aufgesetzt hätten, wäre er wohl auf einem Nebengeleise schliesslich stehengeblieben. — Es hagelte gesunde und andere Kritik. Endresultat der zahlreichen Rangiermanöver war eine zeitliche Verzögerung, die rund eine Viertelmillion gekostet hatte.

Endlich, im Frühjahr 1971 konnte der Bau begonnen und unter der straffen Leitung der Architekten Bischoff & Rüegg ein Jahr später bezogen werden. Die inzwischen gewonnenen Hauseltern Th. und E. FreiUhlmann, zwei Helferinnen und drei Lehrtöchter zogen im April 1972 ein. Als das Haus sich zu bevölkern begann, waren Handwerker noch lange darin tätig und daneben putzten freiwillige Helfer nach Kräften und trugen dazu bei, das Heim wohnlich zu gestalten.

Ob die erwarteten Lehrtöchter wohl kommen werden? Diese anfängliche Sorge belastete die Hauskommission nicht lange. Schon Ende April waren es zehn Mädchen, und im Oktober war das Haus besetzt. Drei Daten aus dem ersten Betriebsjahr sind erwähnenswert: Die offizielle Eröffnungsfeier mit Behörden und Gästen, die Hausräucke mit den Nachbarn zusammen und schliesslich der «Tag der offenen Tür», alle drei im Juni 1972.

Das Leben im Heim ist gekennzeichnet durch eine herzlich-warme, ausgesprochen fröhliche Atmosphäre. Immer wieder ist das Haus erfüllt von frohem Lachen, von Musizieren und Singen. Es war ein grosses Fest, als dem Heim nebst vielen andern Gaben auch noch ein Klavier geschenkt wurde. Der gute Geist im Lehrtöchterheim ist wohl auch darum möglich, weil es die Hausmutter geschickt versteht, die Töchter zur Einhaltung einer klaren Hausordnung anzuhalten. Zum Teil kommen die Mädchen aus recht schwierigen, ungeordneten Verhältnissen. Aussprachen helfen Generationenprobleme oder Berufsschwierigkeiten abzubauen und Gespräche in kleineren oder grösseren Kreisen bewegen sich um Probleme von Sex, Rauchen, Drogen, Alkohol und was immer die heutigen Jungen umtreibt. — Vor allem aber sollen die Mädchen viel Zeit haben zu froher Gestaltung der Freizeit, zum Basteln oder Nähen, zum Musizieren oder auch nur zu gemütlichem Plaudern. Man spürt, die Mädchen sind an der Schlossgasse wirklich daheim.

Gerade dieses sich Geborgenwissen war es, das den Initiantinnen des Heimes vorschwebte. Sie wissen: Unzählige junge Menschen entgleisen und verlieren den Boden unter den Füssen, weil ihnen das Gefühl der Geborgenheit, des Daheimseindürfens, fehlt. — In der Weihnachtszeit kam ein Mädchen verfrüht von zu Hause zurück mit der Begründung: «Ach, es war so langweilig, da dache ich, ich gehe lieber heim!» — Wie wohl mag das der gütigen Hausmutter getan haben.

In einem Lehrtöchterheim gibt es naturgemäss immer Bewegung. Es ist ein Kommen und Gehen. Erfreulich, wenn die Hausmutter nach dem zweiten Jahr sagen kann: «Wir sind froh um jedes Mädchen, das mit unserer Hilfe soweit gekommen ist, dass es nun selbständig im Leben stehen kann.»

Man darf wohl sagen: Ein schönes, gefreutes Werk echter Nächstenliebe hat da durch die mutige Initiative des Frauenvereins Riehen erstehen dürfen. Es wird weiterhin getragen von der Hilfsbereitschaft der Riehener Frauen, finanziell unterstützt von vielen Gebern, nicht zuletzt auch von der GGG und den Behörden von Riehen und Basel.

Ein wichtiges Motiv der Riehener Frauen war, hier ein soziales Werk aus Privat-Initiative erstehen zu lassen. Sie wollten zum Ausdruck bringen: Der Staat sind wir! Mir scheint, das sei ihnen in guter Weise gelungen.

Wir haben den Bericht mit einem Zitat von alt-Bundesrat Wahlen begonnen und möchten ihn, im Blick auf das eben Gesagte, mit einem solchen beschliessen. Er sagte am Kirchentag 1963 in Basel: «Wir sollten uns bestreben, die Grenzen der staatlichen Tätigkeit zu erkennen und einen möglichst grossen Teil der Sozialmassnahmen, wenn auch mit staatlicher Hilfe, den vorstaatlichen Gebilden zu überlassen, der Familie, der Gemeinde, den Körperschaften.» Mit der Schaffung eines Lehrtöchterheimes hat der Frauenverein Riehen ein Beispiel gegeben, das Dank und Anerkennung verdient.

Das Lehrlingsheim

Eines der schönsten noch bestehenden Bauernhäuser Riehens ist die stadtwärts dem neuen Wettsteinhaus vorgelagerte Liegenschaft Baselstrasse 24. Das behäbige Bauernwohnhaus, dessen freundliche Giebelfront jedem aufmerksamen Dorfbesucher wohltuend auffällt, ist schon über 200 Jahre alt und gehört seit Generationen dem alten RiehenerGeschlecht der Fischer. Das zu geruhsamem Verweilen einladende barocke Haus, in typischem Riehener Baustil, ist in den letzten eineinhalb Jahren vollständig umgebaut worden, wobei an seiner Fassade nichts geändert worden ist. Lediglich das hofseits angebaute alte Oekonomiegebäude musste abgerissen und durch ein Wohnhaus ersetzt werden.

Das baugeschichtlich und architektonisch so wertvolle, wohlproportionierte Haus war vom Abbruch bedroht und hätte möglicherweise dem Moloch Verkehr geopfert werden sollen. Glücklicherweise wehrten sich sowohl die Besitzer, als auch Mitglieder unserer Riehener Behörden, zusammen mit der Basler Denkmalpflege und dem staatlichen Heimatschutz erfolgreich für die Erhaltung des schönen, alten Bauernhauses. Im Jahre 1973 bewilligte sowohl das BIGA in Bern wie der Weitere Gemeinderat Riehen namhafte Beiträge zu einer vollständigen innern Umgestaltung und Renovation des Gebäudes.

Die Zusicherung grosser Summen öffentlicher Gelder war wohl begründet, denn die Besitzer der Liegenschaft, H. und V. Denzler-Fischer, wollen das Haus für eine wichtige soziale Aufgabe pachtweise zur Verfügung stellen. Es soll darin ein Lehrlingsheim errichtet werden. Träger dieses geplanten Heimes ist die Sektion Basel des «Schweiz. Vereins der Freunde des jungen Mannes». Dieser Verein will, wie es seine Statuten aussagen, «sich eines jeden jungen Mannes, der seine Hilfe wünscht, in christlicher Nächstenliebe mit Rat und Tat annehmen.» Entsprechend dieser Zielsetzung wird denn auch der Verein vorwiegend von Jugendlichen in Anspruch genommen, die über kein Elternhaus verfügen oder die wegen ihrer gestörten Beziehungen zur Familie in Schwierigkeiten geraten sind. Nun bestehen zwar in Basel einige Lehrlingsheime, es fehlt aber ein solches, das ausgesprochen führungsbedürftige Jugendliche aufnimmt. So wurde denn die Schaffung eines solchen Heimes von allen zuständigen Instanzen unseres Kantons als sehr dringend bezeichnet.

Leider mussten auch bei der Realisierung dieses sozialen Werkes die Initianten erfahren, dass die Basler Mühlen recht langsam mahlen. So lesen wir im Frühjahr 1973 in einem Schreiben des Vereins an den Regierungsrat, er möge doch endlich die Baufreigabe erteilen, nachdem die Baubewilligung vorlag und der Bau ausführungsreif nur noch auf diese Bewilligung wartete. Auch das Gesuch um Bewilligung einer kantonalen Subvention blieb 13A Jahre bei der Regierung liegen, bis schliesslich — eine ablehnende Antwort eintraf. Diese enormen Verzögerungen verursachten eine erhebliche Bauteuerung. Die «Freunde des jungen Mannes» liessen sich aber nicht entmutigen und so konnte denn im Sommer 1973 mit dem grossen Um- und Innenausbau begonnen werden. Im Herbst 1973 bestätigte das Erziehungsdepartement BaselStadt, dass die Liegenschaft in das Verzeichnis der geschützten Bauwerke aufgenommen worden sei. Damit verliert die noch immer mitten durch die Liegenschaft führende Baulinie ihren bedrohlichen Charakter.

Während diese Zeilen geschrieben werden, steht das Haus noch voll im Umbau. Wenn alles planmässig abläuft, dürfte jedoch bis zum Erscheinen des Jahrbuches das neue Lehrlingsheim bereits bezugsbereit sein.

In dem weiträumigen Gebäude soll für ungefähr 26 Jugendliche ein Zuhause geschaffen werden. Da finden wir zunächst im Erdgeschoss das Büro der Heimleitung, ein Lesezimmer und den Ess- und Aufenthaltsraum, daneben die gut eingerichtete Heimküche, Putz- und Wäscheräume, die Toiletten und schliesslich einen Velo- und Mopedraum mit Reparaturecke. — Eine Treppe führt in den riesigen, tiefen Gewölbekeller, wie man solche nur noch selten in alten Bauernhäusern findet. Dieser Keller wird den Jungen als Club- und Musikraum dienen und zweifellos gut frequentiert werden.

Im Obergeschoss entstehen zwei Vierer-, ein Dreier- und zwei Zweierzimmer nebst Toiletten und Duschen. Unter dem mächtigen Dach haben nicht weniger als drei Dachgeschosse Platz. Während im ersten Dachgeschoss noch acht Betten in je einem Dreier- und Zweier- und drei Einerzimmern samt Duschen und WC untergebracht werden können, finden wir im zweiten Dachgeschoss noch ein Dreierzimmer und einen Bastelraum, und schliesslich lässt sich unter dem spitzen Giebel eines dritten Dachgeschosses noch gut ein Aufenthaltsraum unterbringen, der z. B. als Fernsehstube dienen könnte.

Das angebaute Hinterhaus, das sich architektonisch gut einordnet, enthält fünf verschieden grosse Wohnungen. Die Erdgeschosswohnung wird den Heimleiter aufnehmen, während die übrigen Wohnungen vorwiegend für Mitarbeiter reserviert werden. Dieses Haus bleibt jedoch in Privatbesitz, wird also nicht in den künftigen Pachtvertrag miteinbezogen.

über die Finanzen sei nur kurz gesagt, dass mit Anlagekosten von rund 1,5 Millionen gerechnet werden muss, von denen etwa 800 000 Franken durch Beiträge gedeckt sind, die Hälfte allein von der Gemeinde Riehen. Bei der noch verbleibenden Belastung müsste der Verein mit einem jährlichen Pachtzins von 45 000 Franken rechnen. Zusammen mit den gesamten Personal- und Haushaltkosten wird der Betrieb des Hauses jährlich auf rund 200 000 Franken zu stehen kommen. Bei vollbesetztem Haus dürften die Pensionseinnahmen jedoch kaum mehr als 120 000 Franken betragen, so dass, selbst wenn der Verein noch einen namhaften Beitrag beisteuert, mit einem jährlichen Defizit gerechnet werden muss.

Noch hofft der Trägerverein auf einen namhaften Beitrag des Kantons Basel-Stadt, damit der Fremdkapitalbedarf verkleinert und damit der Pachtzins niedriger gehalten werden kann.

Im Zusammenhang mit obgenannten Zahlen stellt sich die Frage: Wird es — auf weite Sicht gesehen — den Kanton nicht doch viel billiger zu stehen kommen, wenn er hier vorbeugend dazu beiträgt, dass gefährdete Jugendliche die Klippen schwieriger Jahre überwinden und sich an ein geordnetes Leben gewöhnen, statt sie später jahrelang als Fürsorgefälle betreuen zu müssen? Wir meinen, das alte Sprichwort «Vorbeugen ist besser als heilen» habe noch immer seine Bedeutung.

Mit dem Lehrlingsheim an der Baselstrasse 24 wird unser Dorf eine weitere Stätte der Geborgenheit bekommen, in der im Laufe der Jahre viele Jugendliche ein echtes Zuhause bekommen. Mögen sie von da aus den Weg in ein gesundes, frohes Leben finden.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1974

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