Taten, nicht Worte

Lukrezia Seiler-Spiess

Riehen hat sich in den letzten Jahren ganz gewaltig vergrössert. Um den alten Dorfkern, in dem sich die Familien seit Generationen kannten, wurden immer neue Quartiere gebaut, und aus der ganzen Schweiz, ja aus aller Herren Länder sind neue Bewohner in unsere Gemeinde eingezogen. Noch nennen wir Riehen liebevoll «Dorf», schätzen wir uns glücklich, beinahe ländlich zwischen Gärten, Wäldern und Wiesen leben zu können - aber sind wir auch wirklich noch eine Dorîgemeinschaft? Kennen wir unsere Nachbarn, die Leute, die drei Häuser weiter wohnen? Ahnen wir, dass in der nächsten Strasse eine überlastete Mutter ihre Arbeit kaum mehr bewältigen kann, ein einsamer Mensch in völliger Isolation lebt?

Solche und ähnliche Fragen beschäftigten vor nun bald acht Jahren einige Frauen der evangelischen Kirchgemeinde Riehen. Angeregt durch Herrn Pfarrer Hanhart fanden im Winter 1963/64 im Kornfeldbezirk Gruppengespräche statt, die um das Thema «Beziehungen zum Mitmenschen» kreisten. Eine Gruppe diskutierte die Frage: «Wie können wir einem Mitmenschen im Notfall helfen?» Bald wurde allen Beteiligten klar, dass wir sehr oft unserm Nächsten nicht helfen können, weil wir ihn ganz einfach nicht kennen. Wie viel versteckte Not findet sich auch in einer wohlhabenden Gemeinde - und wie viel Helferwille liegt brach, weil dem Hilfsbereiten die Notsituationen in seiner Umgebung nicht bekannt sind.

Aus diesen Ueberlegungen heraus schlössen sich sieben Frauen spontan zur Aktion «Gegenseitige Hilfe» zusammen. Sie setzten sich zum Ziel, eine möglichst grosse Zahl von Gemeindegliedern zu aktivieren, um bedrängten Hausfrauen und Müttern, Einsamen, Betagten und Kindern zu helfen, und zwar durch ganz persönliche Kontakte, durch eine Hilfe von Mensch zu Mensch.

Auf einen ersten Aufruf, den sie im April 1964 an alle reformierten Einwohner von Riehen und Bettingen richteten, erklärten sich 117 Frauen und 9 Männer bereit, unentgeltlich ihre Zeit und Kraft der Gegenseitigen Hilfe zur Verfügung zu stellen.

Mit diesen freiwilligen Mitarbeitern wurden fünf verschiedene Dienste aufgebaut, die allen Einwohnern von Riehen und Bettingen zur Verfügung stehen sollten: Hütedienst für Kinder Pflegeplätze für Kinder Besuche bei Betagten Haushaltdienst Autodienst Anderthalb Jahre später, im Oktober 1965, wurde die Gegenseitige Hilfe als Verein konstituiert. Sie stellte eine eigene Fürsorgerin an und wurde von diesem Zeitpunkt an von der Gemeinde durch eine jährliche Subvention unterstützt. Zu den bereits genannten traten nun noch neue Aufgaben hinzu, nämlich : Uebernahme von Vormundschaften Uebernahme von Schutzaufsichten Hilfe bei Lohnverwaltungen übernahme von Aufgaben, die spezielle fürsorgerische Kenntnisse verlangen.

In reger Zusammenarbeit mit der Fürsorgerin und mit der Gemeindehelferin konnte die Tätigkeit der Gegenseitigen Hilfe, die 1969 auf oekumenische Grundlage gestellt wurde, stark ausgebaut werden. Jeder Dienst wurde der Leitung von zwei bis drei Frauen anvertraut, welche, zusammen mit einer Anzahl Mitarbeiterinnen, die an sie gestellten Aufgaben zu lösen suchen.

Wie viele Anliegen, grosse und kleine, konnten in diesen Jahren betreut, wie viel persönliche, mitmenschliche Hilfe geleistet werden! Wie diese Hilfe im Einzelnen aussieht, möchten wir an einigen Beispielen zeigen. Natürlich sind diese Beispiele leicht verändert, um die Privatsphäre der Beteiligten nicht zu verletzen, im Grundgehalt aber stimmen sie mit der Wirklichkeit überein.

Frau M. steht am Fenster und hält Ausschau nach ihrem Besuch. Sie hat sich sorgfältig frisiert und ihre hübscheste Bluse angezogen, denn heute kommt, wie jeden Donnerstag, Frau B. aus Riehen zu ihr. Die betagte Frau M. stammt aus Riehen, lebt aber seit Jahren in einem Altersheim in Basel. Bevor die Gegenseitige Hilfe auf sie aufmerksam wurde, war sie sehr einsam; sie fühlte sich fremd in der Stadt, kannte keinen Menschen im Heim und sprach kaum mit jemandem. Dann, vor bald fünf Jahren, besuchte Frau ß. von der Gegenseitigen Hilfe sie zum erstenmal. Frau M. war skeptisch; wie sollte ein wildfremder Mensch ihr in ihrer Einsamkeit helfen können? Aber Frau B. kam immer wieder, jede Woche, sie ging mit Frau M. spazieren, begleitete sie zu Einkäufen und nahm sie auch öfters zu sich nach Hause mit. Nach und nach entstand aus der «Hilfeleistung» eine wirkliche Freundschaft, die das Leben von Frau M. ungemein bereichert, und heute freut sie sich jede Woche von Herzen auf ihren Besuch aus Riehen.

Auf ähnliche Weise betreut der Dienst Besuche bei Betagten eine ganze Reihe von einsamen und betagten Menschen. Invalide werden im Rollstuhl ausgefahren, alte Leute, die krank sind oder kaum mehr ausgehen können, erhalten regelmässig Besuch, oft werden auch Einkäufe für sie besorgt oder im Haushalt mitgeholfen. Auch in den Pflegeheimen «Moosrain», «Humanitas» und im ChrischonaPflegeheim werden Patienten immer wieder besucht. Andere Hilfesuchende brauchen mehr psychische Hilfe; der regelmässige Besuch eines wohlmeinenden, gütigen Menschen hilft ihnen, ihr Leben leichter zu bewältigen. Mit viel Fingerspitzengefühl muss die Leiterin dieses Dienstes aus ihren Mitarbeiterinnen jeweils jene aussuchen, die am ehesten den Kontakt zu einem neuen Schützling finden könnte. Oft erstrecken sich solche Kontakte über Jahre hinweg und werden zu echten menschlichen Beziehungen. Neben der persönlichen Betreuung von alten und einsamen Menschen finden im Alters- und Pflegeheim «Moosrain» auch regelmässige BeschäftigungstherapieNachmittage statt. Unter Anleitung einer Mitarbeiterin der Gegenseitigen Hilfe stricken, sticken und weben die Patientinnen. Eine andere Mitarbeiterin veranstaltet im «Moosrain» regelmässig kleine Feste und Unterhaltungen - Schülertheater, kleine Konzerte, Lichtbildvorträge und ähnliches - die in das eher eintönige Leben der Patientinnen eine erfreuliche Abwechslung bringen.

Frau N. lebt erst seit wenigen Monaten mit ihrer Familie in Riehen. Noch gibt es für den neu eingerichteten Haushalt alles mögliche in der Stadt zu besorgen - doch wer soll in dieser Zeit den anderthalbjährigen Enrico hüten? Eltern, Verwandte und Freundinnen leben weit weg in der Heimat, und ihre neuen Nachbarinnen kennt sie noch kaum. So nimmt sie denn den Kleinen mit in die Stadt. Haben Sie jemals versucht, mit einem Anderthalbjährigen ein Warenhaus zu besuchen? Enrico reisst drei Tassen und sieben Pullover zu Boden und verschwindet schliesslich völlig vom Erdboden; erst nach längerem Suchen wird er zwischen zwei Gestellen voll Maxiröcken wieder gefunden. Völlig erschöpft kehrte Frau N. nach Hause zurück. Die Kinderhütestube in der Kornfeldkirche, auf die sie bald darauf aufmerksam gemacht wird, erscheint ihr wie ein rettender Engel, und jeden Freitag bringt sie nun ihren Kleinen in die liebevolle Obhut von zwei Müttern, die abwechslungsweise die Hütestube betreuen.

Der Hütedienst für Kinder hat im Kornfeld- und im Andreasbezirk je eine Hütestube eingerichtet, in der an je einem Nachmittag in der Woche Kinder gegen eine kleine Entschädigung (für Miete und Spielsachen) betreut werden. Für viele Mütter bedeutet das eine grosse Erleichterung, denn viele Dinge, wie zum Beispiel Arzt-, Zahnarzt- und Coiffeurbesuche oder grössere Einkäufe lassen sich mit kleinen Kindern kaum bewältigen. So sind denn die beiden Hütestuben auch stets gut besucht; zwölf bis zwanzig Kinder, meist einbis dreijährige, tummeln sich dort jeden Dienstag- oder Freitagnachmittag. Gelegentlich werden auch einzelne Kinder, besonders behinderte, von Mitarbeiterinnen zu Hause gehütet; dies erlaubt den betreffenden Müttern, sich von ihrer besonders schweren Aufgabe etwas zu erholen.

Auch der Dienst Pflegeplätze für Kinder erfüllt eine grosse Aufgabe: er sucht für Kinder, deren Mütter zu einem plötzlichen Spitaloder Erholungsaufenthalt die Familie verlassen müssen, ein freundliches Heim, wo die Kleinen die Zeit bis zur Heimkehr der Mutter glücklich verbringen können. Oft ist es nur dank dieses Dienstes möglich, einer überlasteten Mutter den dringendst nötigen Erholungsaufenthalt zu ermöglichen.

«... und hier noch die Leintücher und sechs Hemden - so, das wär's wieder für diese Woche!» Erleichtert seufzt Frau S. auf. Wieder einmal hat sie ihren wöchentlichen Wäscheberg bei Frau H. abgeliefert - und in zwei Tagen wird sie ihn, fein säuberlich gebügelt, zurückerhalten. Fünf Kinder ganz allein, ohne Hilfe aufzuziehen, das ist keine Kleinigkeit. Frau S. hat ihre Aufgabe stets mit Begeisterung angepackt - aber wenn ihr die ungebügelten Wäscheberge jeweils über den Kopf zu wachsen drohten, war sie doch der Verzweiflung nahe. Vor vier Jahren hatte sie sich bei der Gegenseitigen Hilfe gemeldet mit der Bitte, ob ihr vielleicht gelegentlich jemand beim Glätten helfen könnte. Ein Mitglied stellte sich zur Verfügung - und bügelt nun seit vier Jahren unentwegt, Woche für Woche für Frau S. und ihre Familie. Aus der grossen Dankbarkeit, die Frau S. ihrer Helferin entgegenbringt, ist ein herzlicher Kontakt von Frau zu Frau, von Familie zu Familie entstanden.

Der Haushaltdienst, der sich zur Aufgabe stellt, für überlastete Mütter oder Betagte zu waschen, zu bügeln und zu flicken, wird relativ selten in Anspruch genommen, und es haben sich auch nicht viele Mitarbeiterinnen für diesen Dienst zur Verfügung gestellt. In einzelnen Fällen aber leistet er ausserordentlich wertvolle Hilfe. So wurde zum Beispiel monatelang einem behinderten Ehepaar die ganze Wäsche gewaschen, gebügelt und geflickt.

«Und zweimal wöchentlich müssen Sie zur Therapie ins Bürgerspital», so erklärte der Arzt seiner Patientin. Die behinderte Frau S. seufzte, wie sollte sie wohl von Riehen ins Bürgerspital gelangen? Mit Tram und Bus konnte sie die lange Fahrt unmöglich bewältigen. So blieb nur ein Taxi übrig. Doch wie sie am Ende des ersten Monats eine Rechnung von mehreren Hundert Franken erhielt, wusste sie weder aus noch ein. Die Fürsorgerin machte sie auf den Autodienst der Gegenseitigen Hilfe aufmerksam, und schon am nächsten Montag stand zur gewünschten Zeit eine Mitarbeiterin der Gegenseitigen Hilfe mit ihrem Wagen vor der Tür, brachte Frau S. zum Spital und führte sie eine Stunde später wieder nach Hause zurück. Das war vor dreieinhalb Jahren - seither wird Frau S. wöchentlich zweimal ins Spital und wieder zurück gefahren.

Unzählige Beispiele dieser Art liessen sich erzählen, denn der Autodienst ist der weitaus am meisten beanspruchte Dienst der Gegenseitigen Hilfe. Neben vielen gelegentlichen Fahrten werden Behinderte und kranke Kinder zum Teil seit Jahren regelmässig allwöchentlich zur Behandlung oder Therapie gebracht. Ueber vierhundert Fahrten wurden in einem einzigen Jahr ausgeführt, wobei diese Zahl eigentlich verdoppelt werden könnte, da jede Fahrt aus einer Hin- und, nach einer gewissen Wartezeit, einer Rückfahrt besteht. Viele Patienten werden immer wieder von den gleichen Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen gefahren und manch herzliches, persönliches Verhältnis hat sich im Laufe der Jahre angebahnt. Damit die sich zur Verfügung stellenden Fahrer geschützt sind, werden täglich zwei Wagen versichert, und einige vom Polizeidepartement zur Verfügung gestellte Schilder mit der Aufschrift «Ausnahmebewilligung für Gehbehinderte» erleichtern das Parkieren. Der Autodienst ist der einzige Dienst der Gegenseitigen Hilfe, der nur für Bedürftige, die die hohen Auslagen für Taxifahrten nicht bezahlten können, zur Verfügung gestellt wird.

Diese wenigen Beispiele zeigen, was für eine immense fürsorgerische Arbeit die « Gegenseitige Hilfe Riehen-Bettingen» bewältigt. Wenn man bedenkt, dass all diese Arbeiten - auch Organisation und Administration, mit Ausnahme der hauptamtlich eingestellten Fürsorgerin - völlig freiwillig und unentgeltlich geleistet werden, so kann man nur staunen ob diesem grossen Einsatz von Zeit und menschlicher Kraft. Es braucht sehr viel Durchhaltewillen, nicht nur einmal, sondern jahrelang die einmal übernommene Aufgabe im Dienste eines Mitmenschen durchzuführen.

Doch das ist nur der eine Aspekt. Für sehr viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeutet ihre Tätigkeit für die Gegenseitige Hilfe eine grosse menschliche Bereicherung. Immer wieder werden zwischen Helfenden und Hilfesuchenden persönliche Kontakte geschaffen, die beide bereichern und ihnen helfen, in ihrer Wohngemeinde auch wirklich daheim zu sein.

Wenn Sie sich für die Arbeit der «Gegenseitigen Hilfe Riehen-Bettingen» interessieren, so wenden Sie sich bitte direkt an die Präsidentin des Vereins. Adresse s. S. 126.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1971

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