Verzauberte Welt

Lukrezia Seiler-Spiess

Wissen Sie, lieber Leser, dass mitten in Riehen ein kleines Paradies existiert? Nein? Dann kommen Sie mit mir — weg vom Lärm und vom hektischen Verkehr der Baselstrasse. Ein kunstvolles Tor öffnet sich, und wir betreten einen stillen, friedlichen Platz. Zwei Brunnen rauschen, ringsum schliessen sich wohlproportionierte Gebäude mit dunklen Fachwerkbalken zu einem harmonischen Ganzen. Ja, Sie haben es erraten, wir stehen im Hof des neu restaurierten Wettsteinhauses. Welche Ruhe strömt dieser Platz aus, wie geborgen fühlt man sich hier!

Das Spielzeugmuseum

Doch nicht vom Wettsteinhaus wollte ich Ihnen erzählen, sondern von all den zauberhaften Dingen, die es seit einigen Monaten beherbergt. Wer durch die Tür des Vorderhauses tritt, auf dem mit grossen Buchstaben «Spielzeugmuseum» steht, dem öffnet sich eine ganz besondere, verzauberte Welt, — ein Paradies der Kinderträume und der Kinderwünsche. All die Spielsachen, die wir als Kind besassen oder ersehnten, von denen unsere Eltern erzählten und deren Beschreibung in alten Büchern unsere Phantasie beflügelte, finden sich hier in vielfältiger Pracht.

In den schön restaurierten Stuben und Kammern des Wettsteinhauses, die mit ihren Kachelöfen, den herrlichen Türschlössern und reichverzierten Balkendecken einen Eindruck ehemaliger Wohnkultur vermitteln, sind heute unzählige Schätze ausgestellt, die einst ein Kinderherz beglückten. Wie stolz muss jener Toggenburger Bub gewesen sein, dessen Vater den grossen, soliden Stall baute, der in seinem Giebel die Jahrzahl 1847 trägt. Man möchte am liebsten selber damit spielen, die hölzernen Kühe und Schweine durch die verschiedenen Tore ein- und ausspazieren lassen und die Hühnerleiter mit Federvieh bevölkern. Der alte, noch sehr gut erhaltene Stall ist mit all seinen Tieren im Rösslizimmer des Erdgeschosses ausgestellt. «Rösslizimmer» nenne ich diesen Raum, weil hier unzählige Pferde mit ihren Gespannen stehen — buntbemalte Pferdchen mit kleinen Zweiradkarren aus Portugal und Polen, vierspännige Postkutschen und naturgetreue Fuhrwerke, ein braver Schimmel auf Rädern, der so gross ist, dass man bequem darauf sitzen könnte, und ein selbstgebauter Pferdestall aus dem Hause La Roche in Riehen, in dem von den Futterkrippen bis zur Sattelkammer kein Detail fehlt.

Die Eisenbahnen, die im nächsten Zimmer gezeigt werden, lassen auch heute noch manches Bubenherz höher schlagen. Da dampft etwa eine kleine Loki (Märklin Spur 1) mit mindestens fünfzehn bunten Wägelchen um eine Miniaturstadt, und im prächtigen Bahnhof herrscht reger Verkehr. Auch echte Oldtimer und erste Flugzeugmodelle finden sich hier, kurz all die «Blechspielzeuge», die vor dem Plastikzeitalter die technische Welt ins Kinderzimmer brachten.

Was für die Buben Eisenbahnen, Tiere und Wagen, das waren für die Mädchen seit jeher Puppen, Puppenhäuser und Puppenküchen; die Welt der Mutter erlebten sie hier im Kleinen. In der ehemaligen Küche im ersten Stock des Wettsteinhauses sind heute sinngemäss Puppenküchen, Kochherde und Puppengeschirr ausgestellt. Was für Herrlichkeiten gibt es da zu bestaunen! Eine Miniaturküche aus Basel (um 1850) hat es mir ganz besonders angetan. Kleine Kupferpfannen stehen auf dem Holzherd, an der Wand hängen blitzblanke Messingkellen, winzige Gugelhopfformen und Käseraffeln. Ganze Gestelle voll irdener Töpfchen und Schüsseln laden zum Ein- und Ausräumen, und in der Ecke steht — oh Kindertraum! — ein Schüttstein mit richtigem Wasserreservoir. Sehnsüchtig steht man vor dieser kleinen Welt und wünscht seinen Kindern, dass sie einmal, nur einen einzigen Nachmittag lang, damit spielen dürften.

Auch die Puppenhäuser, die im nächsten Zimmer stehen, bergen eine fast unglaubliche Fülle kleiner, der Wirklichkeit liebevoll nachgebildeter Einrichtungsgegenstände. Sie werden dadurch zu einem lebendigen Spiegel des Wohn- und Lebensstils vergangener Epochen. In einem vielstöckigen Puppenhaus, das aus dem Württembergerhof in Basel stammt und vor genau 100 Jahren entstand, lässt man seine Augen entzückt von Raum zu Raum spazieren, von den glanzvoll eingerichteten Salons zum reichgedeckten Esszimmertisch, vom Kinderzimmer mit seinen winzigen Spielsachen zum kleinen Vorgarten, in dem weder die Hundehütte noch der Goldfischteich fehlen.

Neben den herrlichen, vielstöckigen « Doggetekänschterli» habe ich in einer Vitrine des gleichen Raumes noch eine andere Art «Puppenstube» entdeckt: ein selbstgeklebtes und gemaltes Heft, das auf jeder Doppelseite ein Zimmer darstellt mit gemalten Tapeten und Fenstern, aufgeklebten Personen und Einrichtungsgegenständen, die wohl aus Journalen und Katalogen stammten. Welch glänzende, auch heute noch durchführbare Idee! Das müsste ein Spass sein für jedes Kind, aus Prospekten und Inseraten eine komplette Wohnung zusammenzukleben.

Ein ganzes Zimmer des Museums ist dem Thema «Aufstellspielzeug» gewidmet. Was für ein Paradies für spielfreudige Kinder! Aus unzähligen Häuschen und Figuren sind hier Städte und Dörfer zusammengestellt, ganze Märkte und Menagerien, Hafenanlagen und Jagdszenen. Viele der buntbemalten Holzfiguren stammen aus dem sächsischen Erzgebirge, wo seit Jahrhunderten eine eigentliche Spielzeugindustrie besteht. Da gibt es winzig kleine Baukasten in Zündholzschachteln, aus deren Bestandteilen sich alle möglichen Formen bauen liessen. Ein Prunkstück ist jene Arche Noah, die beinahe hundert wunderschön bemalte Tiere beherbergt. Es ist eine Welt der Miniaturen, unerschöpflich für die Phantasie des Kindes, das immer neue Kombinationen, immer neue Spiele mit diesen Figuren erfinden kann.

Im Kellergewölbe, das man über eine alte, steile Holztreppe erreicht, habe ich einen Gegenstand entdeckt, dessen geheimnisvoller Name mich von Kind an faszinierte: die «Laterna magica». So also sieht sie aus, die Urahnin des heutigen Projektionsapparates! Eine ganze Sammlung von Bildstreifen gibt uns einen Begriff davon, was für Bilder damals mit Hilfe von Petrollampe und Vergrösserungslinse auf weisse Wände gezaubert wurden. Besonders reizvoll in diesem Kellergewölbe ist auch die Sammlung alter Papierpuppentheater.

Eine der interessantesten — wenn auch nicht spektakulärsten — Abteilungen des Museums trägt den Titel «Primitives Spielzeug». Hier liegen neben ganzen Reihen von Heimberger Pferdchen, buntbemalten Vögeln aus Polen oder schwedischen Strohtieren jene allereinfachsten Spielsachen, wie sie vor allem auf Bauernhöfen gefunden wurden — ein Stück Holz mit Schnur stellt eine Ziege dar, grössere und kleinere Knochenstücke sind Hirt und Herde, eine Handvoll Schneckenhäuser die Geflügelschar. Da wird einem wieder bewusst, wie einfach ein Spielzeug sein kann, wie wenig es braucht, um die Phantasie des Kindes anzuregen. Diese kaum geformten Dinge können in den Augen des Kindes jede beliebige Form annehmen und werden dadurch zum immer wieder v/andelbaren, immer neuen Spielgegenstand.

Der Besucher, der beglückt und überrascht die Ausstellungsräume durchstreift, wird sich fragen, woher diese äusserst vielseitige und vollständige Sammlung, die in ihrer Reichhaltigkeit nur noch vom Nürnberger Spielzeugmuseum übertroffen wird, wohl stammt. Eine Tafel am Eingang weist darauf hin, dass das Riehener Spielzeugmuseum aus der Zusammenarbeit unserer Gemeinde mit dem Schweizerischen Museum für Volkskunde in Basel entstand, indem sich dieses Institut bereit erklärte, seine reichhaltigen Spielzeugbestände dem Riehener Museum dauernd auszuleihen. Dr. Robert Wildhaber, der langjährige Leiter des Museums für Volkskunde, war der erste Initiant und tatkräftige Mitgestalter des Spielzeugmuseums.

Wer die ausgezeichnet beschriftete Sammlung aufmerksam durchforscht, wird auch immer wieder auf den Namen Hans Peter His stossen. Dieser begeisterte Sammler und Kenner alter Spielsachen hat nicht nur einen grossen Teil seiner reichhaltigen Sammlung dem Museum geschenkt, sondern sich auch in monatelanger Arbeit am Aufbau der Ausstellung beteiligt. Wie viele hölzerne Städtchen hat er aufgebaut, Marktstände und Puppenstuben liebevoll eingerichtet und Puppen in «Szenerien» ausgestellt — vielleicht nicht so zufällig und unorganisiert, und dadurch vielleicht auch nicht so spielgerecht, wie ein Kind es getan hätte, dafür aber voller Liebe zum verspielten Detail.

Das Dorfmuseum

Im ersten Stock des Spielzeugmuseums führt eine Türe ins Dorfmuseum und damit in eine ganz andere, und doch auch wieder so ähnliche Welt. Ganz anders, weil wir hier die Kinderwelt verlassen und in den Alltag der Erwachsenen treten — ähnlich aber, weil die gleiche Art der Erinnerung über all diesen Dingen liegt, Erinnerungen an die frühe Kindheit, an Ferien auf dem Lande und Besuche im grosselterlichen Haus.

Die offene Laube, die das Vorderhaus mit dem Hinterhaus verbindet, beherbergt Arbeitsgeräte aus dem bäuerlichen Alltag. Riehen war noch vor einem halben Jahrhundert ein ausgesprochenes Bauerndorf, und so sind hier Pflug und Egge, Hauen und Hacken, Sicheln, Sensen, Heugabeln und Dreschflegel als Zeugen alltäglicher Arbeit ausgestellt. Interessiert betrachtet der Städter die vielfältigen Geräte, um plötzlich festzustellen, dass sie nicht nur zweckmässig, sondern auch ausgesprochen schön sind. Die «Gute Form» ergab sich damals wie zufällig unter den Händen des Handwerkers; von den fünf ausgestellten Heugabeln zum Beispiel ist keine gleich wie die andere; eine jede, aus Holz gefügt und geformt, ist wieder ein neues Werk des Rechenmachers, dessen Arbeitsbank auch hier steht.

Durch einen kleinen Vorraum, der mit verschiedenen Geräten des Weinbaus und mit dem prächtigen Schild des ehemaligen Wirtshauses Dreikönige daran erinnert, dass der «Schlipfer» einst ein weitherum berühmter Tropfen war, betreten wir den festlichen Saal, der fast das ganze Obergeschoss des Hinterhauses einnimmt. Von beiden Seiten strömt Licht in den Raum, der mit seiner gemalten, marmorierten Balkendecke zu den schönsten des Wettsteinhauses gehört. Hier finden wir, auf Podesten und in Vitrinen sehr schön präsentiert, all die Geräte, die zum arbeitsreichen Alltag unserer Grossmütter gehörten. Das Butterfass steht da und das Spinnrad, die schweren Kupferpfannen — welche Arbeit, sie jeweils wieder auf Hochglanz zu bringen! — und die schön geformten Kaffeemühlen. Ein Hauch aus Grossmutters Küche liegt über all diesen Dingen und macht sie dadurch so liebenswert.

In den letzten beiden Räumen des Obergeschosses sind Spielsachen ausgestellt, die aus Riehen stammen; hier findet sich auch das Wandbild des «Hanns Jäckhlin v. Basel, genannt Giggishans, 1654», dem Edi Wirz in seinen Erzählungen ein unvergessliches Denkmal gesetzt hat. Im Parterresaal begeistern Ofenkacheln, schön geschwungene Beschläge von Türen und Fenstern, bemalte Schüsseln und Gugelhopfformen. Kerzenständer, Gläser und Glasflaschen den Besucher durch die Harmonie ihrer Formen.

Hier ist es an der Zeit, von jenem Mann zu erzählen, der als erster die Idee erwog, im Wettsteinhaus ein Dorfmuseum einzurichten: Paul Hulliger. Mit seinem unbestechlichen Sinn für das Echte und Schöne trug er Jahrzehnte hindurch Gegenstände zusammen, die aus dem alten Riehen oder dessen nächster Umgebung stammten und die einen Eindruck der dörflich-bäuerlichen Kultur vermitteln und erhalten sollten. Leider durfte er die Realisierung seiner Idee nicht mehr miterleben; seine Sammlung wurde von Eduard Meier in mühevoller, sorgfältiger Arbeit gesichtet und in der heutigen schönen Form als «Gedächtnisausstellung Paul Hulliger» präsentiert.

Der Rebkeller

Müde vom Betrachten all der schönen Dinge im Spielzeug- und im Dorfmuseum steigt der Besucher die vielen Treppenstufen zum Rebkeller hinunter — und wird hier gleich noch einmal in Bann geschlagen. Der 5 m tiefe, geräumige Keller, der Jahrhunderte hindurch als idealer Lagerort für die grossen Weinfässer diente — sowohl Rudolf Wettstein als auch seine Vor- und Nachfahren waren ja Besitzer ausgedehnter Rebberge — ist heute zu einem sehr schönen, stimmungsvollen Rebbaumuseum ausgebaut worden. Vor den weissgekalkten Wänden und unter der dunklen Balkendecke kommen die Ausstellungsgegenstände gut zur Geltung, vor allem die prächtige Trotte aus dem 18. Jahrhundert, die der Gemeinde Riehen gehört. Der grösste Teil des Ausstellungsgutes ist wiederum eine Leihgabe des Museums für Volkskunde Basel, dessen ehemaliger Leiter Dr. Robert Wildhaber dem Rebkeller seine heutige schöne Gestalt verlieh. Alle Geräte, die zur Pflege des Rebbergs, zur Traubenernte und zur Verarbeitung des Weins gebraucht werden, wurden hier ausgestellt. Faszinierend sind die grossen Ledersäcke, die im Wallis früher zum Transport der Trauben auf dem Maultier verwendet wurden. Bei den Rebmessern bewundert man die Schönheit der einfachen Formen, vom grossen, breiten Messer aus dem Peloponnes bis zum kleinsten, fein geschwungenen Werkzeug aus Carena im Tessin.

Quer durch den Raum steigt eine alte, steile Treppe aus massiven Balken auf, über die einst die Weinfässer mit Hilfe einer Seilwinde in die Tiefe des Kellers gelassen wurden. Sie gibt dem Raum ein ganz besonderes Gepräge, obwohl sie viel zu halsbrecherisch ist, um von den Museumsbesuchern benützt werden zu können. Gleich hinter der Treppe finden wir die «Wirtshausecke» mit Fässern, Fasszapfen und reich geschnitzten Fassriegeln. Was für herrliche Feste liessen sich da unten wohl feiern, am langen hölzernen Tisch, unter alten Wirtshausschildern und Weinflaschen aus aller Herren Ländern!

Unser Rundgang durch das Wettsteinhaus ist beendet. Wie viel Schönes wurde in seinen Räumen zusammengetragen und liebevoll ausgestellt! Die nicht leichte Aufgabe, drei verschiedene Museen unter einem Dach zu vereinen, ist von der Museumskommission des Riehener Gemeinderates unter der Leitung von Dr. Jakob Frey glänzend gelöst worden.

Wie gross die Anziehungskraft der Museen ist, beweisen die Besucherzahlen: allein in den ersten sechs Monaten, von Januar bis Juni 1972 haben über 30 000 Personen aus der Schweiz, aus Deutschland und aus verschiedenen andern Ländern das Wettsteinhaus besucht. Sie zeigten sich begeistert von der Schönheit der restaurierten Gebäude und von der Reichhaltigkeit der Museen.

Für uns Riehener aber sind die Museen das grösste Geschenk des Jubiläumsjahres. Kein Regensonntag wird uns nun mehr verdriessen, denn das Wettsteinhaus wird uns zu immer neuen Besuchen verlocken und uns mit seinen Schätzen stets aufs neue begeistern.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1972

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