Vom Bämmertli Jerg, Stümpli Sämi und andere Bammert

Hans Schultheiss

In meiner Jugendzeit spielte der Bammert eine grosse Rolle - nicht nur in unserm Buben-Alltag, wo wir uns stets in acht nehmen müssten, bei unsern Streichen nicht von ihm erwischt zu werden, sondern für mich persönlich auch in meinem Dorfnamen. Ich wurde nämlich von den Leuten zum Teil noch «s' Bämmertli Jergis Fritzi Hans» genannt. Mein Grossvater, Hans Georg Schultheiss (1836-1911) war weit herum bekannt als «Bämmertli Jerg». Leider kann ich mich nicht mehr an ihn erinnern, denn ich war noch keine drei Jahre alt, als er 1911 starb. Aber mein Vater hat mir oft von ihm erzählt und von der harten, schweren Arbeit, die er leisten musste, um seine Familie durchzubringen. Das Amt des Bammerts übte er von 1876 bis 1886 aus. Später arbeitete er neben der eigenen Landwirtschaft als Taglöhner bei verschiedenen Bauern in den Reben, bald im Schlipf, bald im Hackberg, im Moos, am Gatternweg oder im Pfaffenloh. Das war harte, mühsame Arbeit. Manchmal übernahm er eine Ladung Sterholz zum Sägen; mit einer Gruppe von acht bis zehn Männern wurde das Holz mit langen Sägen zerkleinert und dann weiterverkauft. Auch am «Gmeiniwärch» war er oft beschäftigt. Die Gemeinde hatte damals keine fest angestellten Arbeiter, sondern stellte für die anfallenden Arbeiten Taglöhner an. So arbeitete mein Grossvater zum Beispiel beim Bau der grossen Wasserleitung, welche 1886 das Wasser in die Haushaltungen brachte. Zu seiner Tätigkeit als Bammert gehörte auch der Unterhalt der Wieseufer. Das war wohl eine der härtesten Arbeiten, musste man doch beim Flicken der Faschinen und der Uferverbauungen teilweise im eiskalten Wasser stehen. Der Brief, den mein Grossvater 1884 an die Gemeinde schickte (siehe Seite 158) spricht hier eine deutliche Sprache.

Hans Georg Schultheiss wurde 1836 in Riehen geboren. Er heiratete 1863 Maria Katharina Brunner und lebte dann mit seiner schnell wachsenden Familie bis 18 86 in seinem Haus an der Rössligasse 20, später in verschiedenen Liegenschaften im Dorf zur Miete. Er hatte etwas eigenes Land, wohl auch ein Stück Vieh, vor allem aber musste er sich und seine grosse Familie - wie so viele Leute damals in Riehen - mit Taglöhner- und Gelegenheitsarbeiten durchbringen, wobei natürlich auch die Kinder nach besten Kräften mitzuhelfen hatten. Es war eine harte Zeit; mein Vater, der drittjüngste der sechsköpfigen Kinderschar, wollte nie viel darüber berichten. Nur einmal erzählte er, dass er in einer sehr bescheidenen Wohnung mit seinen Brüdern in einer Kammer schlief, in welche der Wind im Winter den Schnee hineinblies, so dass am Morgen das Deckbett gefroren war.

Meine Grossmutter arbeitete neben ihrer grossen Familie auch noch als Hebamme. Sie sei eine strenge, gute Frau gewesen, hat mir meine Mutter oft erzählt, und sie habe mancher armen Riehenerin die Rechnung geschenkt. Grossmutter kam durch ihre Arbeit oftmals in Familien, in denen schreckliche Zustände herrschten und wo sie zuerst Ordnung machen, putzen und alles für die Geburt vorbereiten musste.

Trotz der bedrängten Verhältnisse und der vielen schweren Arbeit war es meinen Grosseltern das wichtigste Anliegen, ihre sechs Kinder zu tüchtigen Menschen zu erziehen. Ich staune immer wieder, wenn ich die Fotografie anschaue, die sie ums Jahr 1886 aufnehmen liessen: vor einem prächtig gemalten Hintergrund präsentieren sich Eltern und Kinder ernst und würdig im Sonntagsstaat. Wie viele gute Mütter legte auch meine Grossmutter grossen Wert darauf, dass ihre Kinder am Sonntag schön und sauber angezogen waren, dass jeder Bub ein gutes «Tschööpli» und ein schönes Hemd besass und jedes Mädchen ein festliches Sonntagskleid. Diese Kleider musste man dann das war auch in meiner Jugendzeit noch so - am Sonntag abend um sechs Uhr ausziehen, auslüften und putzen, und dann wurden sie wieder für eine Woche versorgt.

Alle Kinder des «Bämmertli Jerg» machten ihren Weg im Leben: mein Vater Fritz arbeitete bei der Bahn, sein Bruder Georg war Gärtner und arbeitete bei verschiedenen Herrschaften in Riehen, und der älteste Sohn Hans wurde Grenzwächter und stieg dort bis zum Visiteur auf. Die Tochter Marie lernte Schneiderin, und auch Emma übte diesen Beruf aus. Die älteste, Louise, arbeitete lange Jahre als tüchtige Vorarbeiterin in der Stoffdruckerei KoechlinBaumgartner in Lörrach.

Ich habe zuhause ein kleines messingenes Horn aufgehängt, ein «Bammerte-Hörnli», das zwar nicht meinem Grossvater gehörte, mich aber immer an ihn erinnert. Jeder Bammert trug ja verschiedene Gegenstände mit sich, die zu seinem Amt gehörten: den Bammertstock, das Bammert-äxtli und das Horn. Dieses hatte eine wichtige Funktion: wenn ein Bammert in Bedrängnis geriet - zum Beispiel durch Rebdiebe oder Wilderer - so blies er sein Horn. In der Stille, die damals über dem Dorf lag, war dieser Ton ohne weiteres vom Schlipf bis zum Hackberg zu hören, und so eilten die andern Bammert von allen Seiten herbei, um ihrem bedrängten Kollegen zu helfen. Aber auch wenn die Wiese über die Ufer trat, musse der Bammert «hiple» und Alarm schlagen.

Wenn ich mich also leider nicht mehr persönlich an meinen Grossvater, den «Bämmertli Jerg» erinnere, so sind mir dafür die Bammert, die in meiner Kindheit ihr Amt ausübten, in lebhafter Erinnerung. Aufgabe des Bammerts war es ja, darüber zu wachen, dass die Leute - und vor allem die Kinder - sich nicht an fremdem Gut vergriffen. Schon als kleine Kinder wussten wir genau, was erlaubt war und was nicht - dass man nicht das Gras zertreten, keine Früchte unter den Bäumen zusammenlesen oder gar ab den Bäumen pflücken durfte, dass aber anderseits Früchte, die auf der Strasse lagen, Allgemeingut waren. Stolz brachte ich jeweils als Kindergärtler jeden Apfel heim, den ich auf dem Schulweg fand, und meine Mutter schnitzelte und dörrte ihn für den Winter.

Als wir Buben dann aber grösser wurden, machte es uns natürlich besonderen Spass, die bestehenden Gebote zu umgehen. Wir waren richtige Lausbuben und hatten das Gefühl, die schönsten Birnen und saftigsten Zwetschgen rund ums Dorf gehörten uns. Wenn man dann «an d'Schneuggi» ging, musste man höllisch aufpassen, dass nicht plötzlich der Bammert auftauchte. Da gabs dann nur noch eines: davonrennen! Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Bammert sehr streng und ahndeten jeden Frevel hart, auch das Ausnehmen von Vogelnestern und das Forellenfangen in der Wiese. Besonders gefürchtet war der «Stümpli Sämi» (Samuel Stump), der im Oberdorf wohnte. Er hatte einen scharfen Hund, einen Spitz, der manchen Buben am Hosenboden aus den Kirschbäumen heruntergezerrt hat. Im allgemeinen verfuhr der Bammert streng mit den jugendlichen Sündern, verprügelte die Buben und jagte ihnen den Hund nach. So habe auch ich einmal einen kräftigen Schlag mit dem Bammertstock vom «Vögeli-Bammert» (Ernst Vögelin) erhalten, als ich auf der Zwetsch genmatte von Jonathan Wenk-Weber an der Bahnhofstrasse Zwetschgen schmauste. Und mein Vater, der gerade vorbei kam, sagte: «Du hast auf fremdem Land nichts zu suchen!» und gab mir noch eine kräftige Ohrfeige dazu.

Einer der bekanntesten Bammert meiner Bubenzeit war der «Brütsch Böpper» (Jakob Brütsch, siehe auch Seite 151), der an der Oberdorfstrasse wohnte, direkt neben dem «Stümpli Sämi», im Riegelhaus der Gärtnerei Wenk, das heute noch steht. Ich sehe ihn noch vor mir; er war ein grosser, stattlicher Mann, der uns Achtung einflösste. Vor dem «Bertschmann Joggi» (Jakob Bertschmann), der im Gasthaus Dreikönigen wohnte, hatten wir etwas weniger Respekt, denn er war klein, und es gelang uns meistens, ihm davonzurennen. In den Zwanziger jähren war es dann vor allem der «Vögeli-Bammert» und später der «KuenzeBammert» (Friedrich Kunz) und Otto Trächslin, die mit ihren Hunden durchs Dorf und über die Fluren zogen und für Ordnung sorgten. Ihnen folgte Karl Müller und als letzter Bammert Hans Sulzer.

Es ist nur zu begreiflich, dass in einer Zeit, in der die Familien so kinderreich und die Einkünfte so schmal waren, wo jeder Batzen zweimal umgedreht wurde und jeder Ap fei seinen Wert hatte, das Amt des Bammerts von grosser Wichtigkeit war. Die Früchte der Gärten, äcker und Felder bildeten den Verdienst und das Brot der Leute und müssten geschützt werden. Man kann es sich ja heute fast nicht mehr vorstellen, aber damals gab es viele arme Leute in Riehen - der Schlipfer spielte dabei keine geringe Rolle!

Alles Essbare wurde sorgfältig verwertet, sei es um einen Erlös daraus zu ziehen oder um den eigenen Speisezettel etwas aufzubessern. So erinnere ich mich noch gut, dass meine Grossmutter mütterlicherseits (Barbara Hechler-Vögelin) ihre Kirschen nicht nur auf dem Markt in Basel verkaufte, sondern die ersten Kirschen wurden «büschelet», das heisst zu zehn Stück zusammengebunden und dann von uns Kindern für zehn Centimes in den «besseren Quartieren» von Riehen, zum Beispiel an der Burgstrasse, von Haus zu Haus verkauft. Waren die Kirschen abgeerntet, fragte man einen Bauern, ob man auf seinem Land Kirschen zusammenlesen dürfe, und daraus kochte dann die Mutter Konfitüre. Auch die Kartoffeläcker müssten wir nach der Ernte nach vergessenen Kartoffeln absuchen und auf den Kornfeldern ähren lesen. All dies, wie auch das Holzsuchen im Wald, waren natürlich Arbeiten für uns Kinder. Wir müssten viel arbeiten, wirklich viel arbeiten als Kinder. Aber wir wussten, wie wichtig unsere Arbeit für die Familienfinanzen war und waren recht stolz auf unsero Beitrag. Umsomehr genossen wir dann die spärliche Freizeit, in der wir wirklich frei waren, in ganzen Banden im Dorf Versteckis machten, mit unsern Holzböden laut klappernd durchs Kännelgässli stürmten, mit unsern Böckli-Schlitten den steilen Weg von der Sonnenhalde hinuntersausten oder mit langen Bohnenstecken über die offenen Dorfbäche sprangen.

Heute ist das ja alles anders; es ist nicht mehr nötig, Früchte zu schützen, wenn ganze Ernten ungepflückt an den Bäumen hängen bleiben. Die Kinder haben heute alles, was sie wünschen, und fremde Früchte locken sie kaum mehr. Und so ist auch der Bammert aus unserm Dorf verschwunden. Aber, - ich möchte nicht mit der heutigen Jugend tauschen und denke trotz der vielen Arbeit und manchen Entbehrungen gerne an meine Kindheit im alten Dorf zurück - es isch e schöni Zyt gsy!

Hans Sulzer, der letzte Riehener Flurbannwart 1948 trat Hans Sulzer sein Amt als Flurbannwart an. Zusammen mit einem Kollegen, seit rund dreissig Jahren allein, machte er seinen täglichen Umgang im Riehener Bann. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit wurde noch recht viel gefrevelt, besonders zur Kirschenzeit; manchmal musste er in den Langen Erlen, unterhalb des Eisweihers, ganze Scharen von jungen Burschen aus den Kirschbäumen jagen - ein guter Hund war da stets der beste Begleiter! Auch die Wässeranlagen im Brühl und in den Bachtelenmatten unterstanden seiner Aufsicht - die Stellbretter müssten im richtigen Rhythmus geöffnet und geschlossen und das Putzen aller Gräben im Winter beaufsichtigt werden. Hans Sulzer hatte darüber zu wachen, dass auf den Feldern Ordnung herrschte, dass das Unkraut, etwa die Disteln, nicht überhand nahm. Es gehörte auch zu seinen Pflichten, unliebsame Vögel, zum Beispiel Nesträuber wie Elstern und Krähen, abzuschiessen.

Etwa ab 1960 veränderte sich die Arbeit des Flurbannwarts sehr schnell. Der Frevel hörte fast ganz auf, und durch die übergrosse Bautätigkeit schrumpften die Fluren und Felder immer mehr zusammen. Nun wurden Hans Sulzer ganz neue Aufgaben übertragen. Als Mitglied der Obst- und Rebbaukommission der Gemeinde und des Kantons führte er Krankheits- und Schädlingskontrollen durch und leitete seine Beobachtungen an die Eidgenössische Forschungsanstalt für Obst- und Weinbau in Wädenswil weiter, wo sie zu den wöchentlich im Radio veröffentlichten Schädlingsbulletins verarbeitet wurden. Es war die hohe Zeit der chemischen Schädlingsbekämpfung; regelmässig wurden Spritzpläne veröffentlicht, deren Einhaltung er überwachen musste. Weitere Aufgaben waren Ertragsschätzungen bei Obst und Reben für das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement, er war Feiter der Kantonalen Ackerbaustelle, Ortsgetreide-Stellenleiter und vieles mehr. Bei Landumlegungen und beim Strassenbau, dem viele Obstbäume weichen müssten, war es Hans Sulzers Aufgabe, den Wert der einzelnen Bäume zu schätzen, ebenso bei Schäden durch Hagelschlag. Auch die Milchmengenkontrolle in der Viehzuchtkommission gehörte zu seinen Pflichten; in den siebziger Jahren hatte er die traurige Aufgabe, die Findan-verseuchte Milch des Bäumlihofs und des Spittelmatthofs über ein Jahr lang in die Kehrichtverbrennungsanstalt zu bringen. In der letzten Zeit vor seiner Pensionierung im Jahre 1983 erlebte Hans Sulzer ein erneutes Umdenken: verschiedene Versuche zur biologischen Schädlingsbekämpfung unterstanden seiner Aufsicht.

Der tiefgreifende Wandel, dem Riehen in den letzten Jahrzehnten unterworfen war, lässt sich an Hans Sulzers 35jähriger Amtstätigkeit auf geradezu exemplarische Weise ablesen. L. S.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1989

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