Vom Tempel aus Stein zum Haus aus lebendigen Steinen

Paul Jungi, Hans J. Zahnen

Im Tempel oder Gotteshaus? In den Mensehen, die an ihn glauben? Zwei Texte über den Begriff «Haus Gottes».

Reden wir von einer Behausung Gottes, dann ist es von Vorteil, «Haus Gottes» in Anführungs- und Schlusszeichen zu setzen; denn es geht nicht darum, Gott einzufangen in ein Haus oder Gott in einem Hause wohnen zu lassen, sondern vielmehr ging es um die Ehrung Gottes zum Beispiel in der Stiftshütte oder im Tempel. über die Funktion eines Tempels gibt das Gebet zur Einweihung des Tempels, den König Salomon bauen Hess, Auskunft: «Der Tempel, ein Ort, auf den Gottes Augen und Ohren stets gerichtet sind, der Tempel ist kein Ort, in dem man Gott einschliessen könnte, können doch selbst der Himmel und aller Himmel Himmel Dich, Gott, nicht fassen.» Entsprechend antwortet ein Psalmwort: «Der Tempel ist der Ort, da die Ehre Gottes wohnt.» Wenn vom Haus Gottes die Rede ist, war das Bedürfnis der Menschen im Vordergrund, mit Gott in Kontakt zu kommen, ihm zu begegnen.

Die Stiftshütte, das tragbare Heiligtum, das Mose nach der Anweisung Gottes fertigen Hess und das die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste Sinai bis zur Landnahme in Kanaan begleitete, war Heiligtum und Hütte zugleich. Der Plan, nachdem die Stiftshütte gefertigt wurde, empfing Mose am Berg Sinai und diese wurde jeweils mitten im Lager aufgestellt. Um dieses Heiligtum herum lagerten sich zuvorderst die Priester und dahinter die zwölf Stämme Israels. Bis ins letzte Detail ist im zweiten Buch Mose beschrieben, aus welchen Materialien die zerlegbaren Teile zu fertigen sind und ein Vorhang an vier Akazienholzsäulen aufzuhängen sei, damit das Heilige vom Allerheiligsten abgetrennt ist. Im Bereich des Allerheiligsten stand die Bundeslade, ebenfalls nach Gottes Anweisungen gebaut, aus Akazienholz und ganz mit Gold überzogen. Der Deckel musste reines Gold sein.

Mose legte die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten in die «Lade Gottes». Sie galt als sichtbares Zeichen der Gegenwart Gottes und war wie die Stiftshütte selbst transportabel. Sie wurde auf den Wanderungen jeweils von den Leviten an der Spitze des Volkes getragen zum Zeichen, dass Gott vorherzieht. Die Stiftshütte, in deren Heiligtum der Räucheraltar und der Tisch für die Schaubrote und vor allem der siebenarmige Leuchter mitgeführt wurden, war letztlich nur eine vorübergehende Einrichtung. Nicht so die Bundeslade, die bekam einen festen Platz in Silo nach der Landnahme und Eroberung Kanaans. Die Philister überfielen die Israeliten und raubten die Lade, was zu einem der grössten Tiefpunkte in der Geschichte Israels führte. Erst als König David die Philister besiegen konnte und Jerusalem zur neuen Hauptstadt ernannte, liess David die Bundeslade nach Jerusalem bringen und stellte sie in einem Zelt nahe der Gionquelle auf. Sie blieb während der ganzen Regierungszeit Davids in diesem Zelt. Nur in Kriegszeiten wurde sie hinausgetragen, um die israelischen Truppen zu begleiten. König David nannte die Bundeslade «Schemel der Füsse unseres Gottes».

Als der Nachfolger Davids, König Salomon, den Tempel baute, bekam die Bundeslade einen festen Platz, wiederum im Allerheiligsten unter den Cheruben, entsprechend der früheren Stiftshütte. Nur der Hohepriester hatte Zugang zum Allerheiligsten. Behausungen Gottes, wo er «wohnen» und vor allem wo man ihm dienen sollte, waren im alten Orient weit verbreitet. Tempel Gottes, Tempel Jahwes oder Tempel des Herrn hat es im alten Israel mehrere gegeben. übers ganze Land verteilt enthielten sie verschiedene Darstellungen oder Zeichen der göttlichen Anwesenheit. Zweifellos war der Tempel Salomons der wichtigste und ging in die Geschichte ein als der Tempel.

Das Ansehen des Tempels in Jerusalem überragte alle anderen israelischen Heiligtümer und die Tatsache, dass er die Bundeslade beherbergte, führte zu hohen Ehren. Fast vierhundert Jahre später wurde bei der babylonischen Eroberung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. der Tempel zerstört und wahrscheinlich auch die Bundeslade. Es gibt vom Tempel Salomons keine archäologischen überreste und die Bundeslade wurde nie mehr aufgefunden. Das Gebet zur Einweihung des Tempels wurde wahr, es gibt keinen Ort, wo man Gott einfangen könnte.

Nach dem babylonischen Exil konnten die jüdischen Heimkehrer dank einem Erlass vom persischen König Kyros ihren Tempel wieder aufbauen. Nach verschiedenen Verzögerungen wurde der so genannte Tempel des Serubbabels 515 v. Chr. eingeweiht. Interessanterweise bekam diese Tempelanlage einen zusätzlichen Vorhof für die Frauen. Vorher hatten nur Männer Zugang. Dieser Tempel war bedeutend bescheidener in der Ausstattung als der von Salomon und weil die Bundeslade unauffindbar blieb, blieb künftig auch das Allerheiligste leer. In den folgenden fünfhundert Jahren wurde der Tempel mehrmals verschönert, aber auch geplündert und durch das Aufstellen heidnischer Götterbilder entweiht.

Im ersten Buch der Makabäer wird berichtet, dass Judas Makabäus um 160 v. Chr. den Tempel reinigte und neu weihte. 20 v. Chr. begann Herodes der Grosse mit einem völligen Um- und Neubau des Tempels, der in der jüdischen Geschichtsschreibung als der «zweite Tempel» bezeichnet wurde. Mit enormen Stützmauern vergrösserte Herodes das Areal des Tempelberges. Eine dieser Stützmauern ist die heutige Klagemauer auf der Westseite. Das eigentliche Tempelgebäude bestand wiederum - wie schon in der Stiftshütte vorgegeben - aus Vorhalle, Halle und Allerheiligstem. Das Allerheiligste war ebenfalls abgetrennt durch einen Vorhang und nur der Hohepriester hatte einmal im Jahr, am Versöhnungstag, Zutritt. Allen anderen war der Zutritt verboten und es war im Volksmund bekannt, man würde tot umfallen, wenn jemand verbotenerweise den heiligen Raum betritt. Die Wende in der Frage der Behausung Gottes trat ein, als in der prophetischen Literatur bereits Jeremia voraussagte, dass im Zeitalter des Messias von der Bundeslade nicht mehr die Rede sein wird. Nachdem die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil zwar die Bewilligung hatten, den Tempel wieder aufzubauen, wurde nie eine Anstrengung unternommen, die Bundeslade zu rekonstruieren, dazu wäre eine äusserst genaue Beschreibung in den Büchern Mose zu finden gewesen.

Jesus im Tempel In der messianisch neutestamentlichen Zeit wurde Jesus acht Tage nach seiner Geburt im Tempel beschnitten und bekam den Namen Jesus, was bedeutet: «Gott rettet». Weiter berichtet Lukas, dass der 12-jährige Jesus mit seinen Eltern - die jährlich zum Passahfest nach Jerusalem kamen - im Tempel verweilte, sich unter die Lehrer setzte und mit seinen Antworten alle in grosses Staunen versetzte. Der 30-jährige Jesus, der bei seiner Taufe von Gott hören durfte: «Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe», kam nach Jerusalem und suchte im Tempel die Auseinandersetzungen mit den Schriftgelehrten. Am bekanntesten ist jedoch die Tempelreinigung, als Jesus die Tische der Wechsler und Taubenverkäufer umstiess und in die Menge schrie: «Mein Haus soll ein Bethaus heissen.»

Später prophezeite Jesus in seinen Abschiedsreden die Zerstörung des Tempels. Und als Jesus am Kreuz starb, zerriss der Vorhang zum Allerheiligsten. Ein Zeichen dafür, dass der alte Bund zu Ende und der neue Bund begonnen hatte. Kein Tempel ist mehr nötig und 70 n. Chr. wurde auch der zweite Tempel von den Römern vollständig zerstört. Heute steht an der Stelle des Tempels der islamische Felsendotn. Anstelle des Tempels tritt Jesus Christus in seinem Leben, Sterben und Auferstehen, tritt das Evangelium, eine Kraft Gottes zum Heil einem jeden, der daran glaubt. Entsprechend versteht Paulus «Wo zwei oder drei sich in meinem Namen versammeln, bin ich mitten unter euch» die Verheissung Jesu. Die Gemeinde der Gläubigen als geistlicher Tempel und jeder einzelne ist Tempel des Heiligen Geistes.

Jesus Christus ist die Erfüllung und offenbart sich als der ewige Hohepriester der wahren Stiftshütte in den Himmeln. Demzufolge braucht es keine Bundeslade und keinen Tempel mehr auf Erden. Trotzdem versuchen Menschen auch in der christlichen Tradition, Gott eine Behausung zuzuweisen. So zum Beispiel der Tabernakel, das Sakramentshäuschen in der katholischen Kirche oder wie unsere Altvorderen vor sechzig Jahren am Bibelwort im Chor der Dorfkirche festhielten: «Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, es werde stille vor ihm alle Welt.»

Gott möchte mitten unter uns Menschen Wohnsitz nehmen. Kirche, das ist der Wohnsitz, das ist das Haus Gottes, dieses Gebäude aus Stein, in dem wir mehr oder weniger häufig zusammenkommen. Kirche - das sind aber auch die vielen Christen, die die Gemeinschaft des Hauses Gottes bilden. «Lasst euch (darum) als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen» (vgl. 1 Petr. 2, 4-9).

«Auf diese Steine können Sie bauen» - die unvermeidliche Werbung wird Ihnen, liebe Leser, bestimmt diesen Satz schon einmal zu Augen und Ohren gebracht haben. In dem Werbeslogan werden Verlässlichkeit und Sicherheit suggeriert. Stein steht für Festigkeit, Beständigkeit, Dauer.

Das Gehäuse aus Steinen will den nötigen Schutzraum dafür bieten. Damit das Gebäude hält, was die Bauleute versprechen, muss es gut geplant und gebaut werden, müssen die Materialien stimmen. Steine gelten normalerweise als Inbegriff lebloser Schwere, als totes Material.

Der Briefschreiber im zitierten 1. Petrusbrief setzt da einen neuen Akzent. Mit dem Bild vom «lebendigen Stein» provoziert er seine Leser und Hörer zum Nachdenken über den lebendigen Stein, den die Bauleute als vermeintlich unbrauchbar verwarfen, zum Nachdenken über Jesus Christus, Gottes Sohn, den Auferstandenen. Dieser «tote Stein» wurde in einen lebendigen verwandelt, nach seiner Verwerfung und Tötung durch Gott wieder auferweckt zum Leben. Der Briefautor lädt ein, zu diesem «Stein» zu kommen, auf diesen Stein könne man bauen. Die Eingeladenen sollen ebenfalls als «lebendige Steine» fungieren für das Haus Gottes, das «geistige Haus» der Gemeinschaft der Glaubenden. Nur mit allen zusammen wird es einen Bau geben, der ein wohnliches Zuhause bieten kann.

Wenn ich sonntags zum Gottesdienst gehe, kann ich etwas von dieser Lebendigkeit erfahren: Andere Menschen, die sich genauso als lebendige Steine fühlen, kommen auch zum Beten und Singen zusammen und wollen im Hause Gottes Gemeinschaft erfahren. Ich kann in und um das Haus Gottes vielleicht viele andere lebendige Christen entdecken. Vielleicht gibt es Kinder- und Jugendgruppen, die sich einmal wöchentlich treffen. Und dann sind dort auch die älteren Christen, die sich im Pfarreirat engagieren, in der Caritas, in der Jugendarbeit, die Gottesdienste mit vorbereiten, im Kirchenchor singen, die Kinder und Jugendliche auf Erstkommunion und Firmung vorbereiten und vieles andere mehr.

Gott möchte sich ja in seiner Wohnung wohl fühlen, «daheim» sein, heimisch fühlen, damit es auch seinen Mitbewohnern «wohl» ist, damit auch wir uns geborgen und heimisch fühlen. Wir tragen also selbst dazu bei, dass wir im Hause Gottes, dem aus Stein gebauten und geistigen, zu Lebzeiten einander ein Zuhause bieten, Eltern ihren Kindern, Freunde ihren Freunden, Gastgeber ihren Gästen, Menschen anderen Menschen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2003

zum Jahrbuch 2003