Von der ‹Kinderhüte› zur Spielgruppe

Rolf Spriessler

Heute sind die Spielgruppen im Kanton Basel-Stadt Teil des offiziellen Bildungssystems und erfüllen eine wichtige Aufgabe mit dem Deutschunterricht für fremdsprachige Kinder im Vorschulalter. Die ersten Riehener Spielgruppen, die vor über 40 Jahren entstanden sind, waren Pioniertaten. Im Juni 2021 musste die älteste Riehener Spielgruppe, das ‹Spatzenäschtli›, den Betrieb einstellen.

Am 24. Juni 2021 war Schluss: Ein letztes Mal waren die Kinder im Lokal am Langenlängeweg und spielten gemeinsam, einige führten vor den anderen Kindern ein Tänzchen auf und die Stimmung war locker und fröhlich – zumindest bei den Kindern. Bei Isolde Eitz-Kopp hingegen war die Stimmungslage eine ganz andere: Die Leiterin der Spielgruppe ‹Spatzenäschtli› war von Wehmut erfüllt, von Wut und Unverständnis. Nach 41 Jahren am selben Ort musste die Spielgruppe ihr langjähriges Stammlokal verlassen, weil die Gemeinde Riehen den Mietvertrag nicht mehr erneuert und Eigenbedarf angemeldet hatte. So unterzog die Gemeinde das Lokal in den Sommerferien einer sanften Renovation und Auffrischung und eröffnete hier auf Beginn des neuen Schuljahrs am 16. August 2021 einen neuen Kindergarten – eine Folge der im Niederholzquartier nach wie vor steigenden Kinderzahlen. Gleichzeitig wurde auch im Kornfeldhaus des CVJM Riehen an der Kornfeldstrasse eine zusätzliche Kindergartenklasse eröffnet. Weil jedoch für das ‹Spatzenäschtli› keine neue Bleibe gefunden werden konnte, die geeignet und auch bezahlbar gewesen wäre, musste der Betrieb aufgegeben werden.

Eigentlich war die Spielgruppe ‹Spatzenäschtli› eine Erfolgsgeschichte. Obwohl zuletzt keine jüngeren Kinder mehr aufgenommen wurden, sodass bei der Schliessung 2021 möglichst viele Kinder das Kindergartenalter erreicht hatten und für möglichst wenige eine neue Spielgruppe gefunden werden musste, besuchten zuletzt immer noch 45 Kinder das ‹Spatzenäschtli›. Es hatte sich schon lange in der frühen Deutschförderung fremdsprachiger Kinder engagiert und war auch gerne von der Gemeinde angefragt worden, wenn es ‹schwierige Kinder› zu vermitteln galt, erzählt Isolde Eitz-Kopp nicht ohne Stolz. In Spitzenzeiten besuchten über 60 Kinder das ‹Spatzenäschtli›. Für sie persönlich hätte die Zeit im ‹Spatzenäschtli› im Sommer 2021 so oder so ein Ende gefunden, da sie in Pension ging, aber ihre Mitarbeiterinnen hätten das ‹Spatzenäschtli› gerne weitergeführt.

MARGRIT ZAUGGS KINDERHÜTEDIENST
Erst seit relativ kurzer Zeit ist der Betrieb von Spielgruppen reglementiert und unterliegt Qualitätskontrollen. Deshalb ist die Geschichte der Spielgruppen in Riehen nicht einfach zu fassen. Es dürfte immer wieder Frauen gegeben haben, die regelmässig Nachbarskinder oder Kinder aus dem Freundeskreis ihrer eigenen Kinder beaufsichtigten. Genau so entstand das ‹Spatzenäschtli›. Margrit Zaugg, geboren 1926, lebte als Mutter und Hausfrau an der Hörnliallee, als sie von zwei jungen Müttern gefragt wurde, ob sie nicht einen Morgen pro Woche auf ihre Kinder aufpassen könne, weil sie einen Teilzeitjob gefunden hätten. «Kein Problem!», sagte die gelernte Kindergärtnerin und beaufsichtigte die Kinder fortan in ihrer Wohnung.

Bald habe es allerdings weitere Anfragen gegeben, erzählt Margrit Zaugg, und für mehr Kinder war die Wohnung zu klein. Also machte sie sich auf die Suche und fand im Freizeitzentrum Landauer einen Bastelraum, den sie nutzen konnte. Wann genau das war, weiss Margrit Zaugg nicht mehr, aber es dürfte wohl im Jahr 1977 gewesen sein. Und nun wollte sie mehr.

Zwar gab es schon seit längerer Zeit Tagesheime. Bereits am 8. Februar 1946 war in der ‹Riehener Zeitung› ein gemeinsamer Aufruf von Frau Pfr. Brefin, Frau Dr. Im Hof und Herrn Pfr. Dr. Metzger erschienen, wonach sich «Mütter, denen es erwünscht wäre, ihre Kinder tagsüber gut versorgt zu wissen», baldmöglichst für einen Platz anmelden sollten. Nachdem in der Stadt sogenannte ‹Kinderkrippen› geschaffen worden waren, befasste sich im August 1951 der Vorstand des Reformierten Gemeindevereins zum Landauerkirchli erstmals mit der Frage, ob in Riehen eine solche eröffnet werden sollte. Es folgte die Gründung eines Vereins, die Sache ging ihren politischen Weg und Ende Juni 1956 wurde an der Ecke Keltenweg–In den Neumatten eine Kinderkrippe mit Tagesheim eröffnet, die bis heute besteht. 1973 eröffnete die Kommunität Diakonissenhaus Riehen die Kinderkrippe ‹Rägeboge›.

Während es in diesen Institutionen um die längerfristige Unterbringung der Kinder tagsüber ausserhalb der Schulzeiten ging – heute übernehmen Kindertagesstätten (Kitas) diese Aufgabe –, um es Müttern zu ermöglichen, in grösseren Teilzeit- oder in Vollzeitpensen zu arbeiten, ging es Margrit Zaugg mehr um das stundenweise Kinderhüten an einzelnen Tagen und darum, Kinder im Vorschulalter sinnvoll zu beschäftigen und in ihren Fähigkeiten weiterzubringen.

Das Interesse sei bald so gross gewesen, dass sie sich nach einem «richtigen» Lokal für ihre ‹Kinderhüte› umgeschaut habe, erzählt Margrit Zaugg, und so sei sie auf den zweiten Kindergartenpavillon am Langenlängeweg gestossen, der damals leer gestanden habe, während nebenan Fräulein Peer, wie die erfahrene Kindergärtnerin Isolde Peer im Quartier liebevoll genannt wurde, einen staatlichen Kindergarten führte. Nach längerem Hin und Her erhielt Margrit Zaugg von der Gemeinde die Zusage – in der Zwischenzeit hatte sie vorübergehend in einem Bastelraum des Alterswohnheims ‹Basler Dybli› am Gstaltenrainweg Unterschlupf gefunden – und im Jahr 1980 konnte sie schliesslich den früheren Kindergartenpavillon am Langenlängeweg 24a mieten und beziehen. Mit viel Unterstützung von Eltern und anderen Wohlgesinnten gelang es Margrit Zaugg, die Infrastruktur stetig zu verbessern sowie Spiel- und Bastelmaterial zu beschaffen. Bald einmal besorgte sie sich einen Plattenspieler. «Ich habe mit den Kindern viel Musik gehört, wir haben getanzt, Bewegungsspiele gemacht, geturnt. Ich habe auch viel klassische Musik gespielt. Das hatten die Kinder ausserordentlich gerne. Hauptsächlich Mozart und Haydn. Das ging den Kindern rein», erzählt sie. Bald einmal begann sie, Kinder zu fördern, die nicht gut Deutsch konnten. Sie sprach ganz bewusst fremdsprachige Familien an, ob sie ihre Kinder nicht in die Spielgruppe schicken möchten, und gewann so auch Mütter als Helferinnen, die sie dabei unterstützen konnten, Arbeiten im Lokal zu erledigen.

Im Jahr 1992 wurde das ‹Spatzenäschtli› als Verein organisiert und Isolde Eitz-Kopp übernahm die Leitung. «Das ursprüngliche Konzept von Margrit Zaugg haben wir im Grundsatz nie geändert», erzählt sie, und im Lauf der Zeit sei dann das Bedürfnis entstanden, die Arbeitsweise in Spielgruppen irgendwie zu fassen. Denn bis zu jenem Zeitpunkt habe es ganz verschiedene Auffassungen gegeben, wie Spielgruppen zu funktionieren hätten.

ELISABETH THOMPSON – VOM ‹SCHNÄGGÄHÜSLI› ZUM ‹ZOTTELBÄRLI›
Das bestätigt eine weitere Pionierin in der Riehener Spielgruppenlandschaft, Elisabeth Thompson. «Wir wussten ja seinerzeit nicht, ob das, was wir taten, auch wirklich richtig war, und so schrieb ich Frauen an, die ebenfalls Spielgruppen leiteten. Es begann ein Austausch und wir merkten, wie unterschiedlich wir das machten. Es gab ausgebildete Kindergärtnerinnen, die mit den Kindern über mehrere Wochen an einer Bastelarbeit dranblieben. Wir Nicht-Kindergärtnerinnen waren der Meinung, dafür seien unsere Kinder noch zu jung, und wir wollten an dem Vormittag, an dem die Kinder da waren, eine Sache beginnen und auch fertig machen», erzählt sie. Die meisten Kinder hätten ja dann eine Woche keine Spielgruppe mehr gehabt und wären mit mehrwöchigen Projekten überfordert gewesen.

Für Elisabeth Thompson, die zunächst als Kinderkrankenschwester im Spital gearbeitet, dann aber aufgehört hatte, da sie als Mutter keine Nachtschichten mehr machen konnte, begann die ganze Geschichte mit einem Inserat. Auf diesem Weg suchte der Frauenverein Riehen in den frühen 1980er-Jahren eine Person, die eine Spielgruppe aufbauen sollte. Elisabeth Thompson erzählt, sie habe vorher ab und zu bei sich zu Hause Kinder gehütet und sich gemeldet: «Der Frauenverein suchte damals ganz bewusst keine ausgebildete Kindergärtnerin oder Lehrerin, sondern einfach jemanden, der gerne mit Kindern zusammen ist. Es ging um ein Kinderhüten in der Gruppe.» Sie bekam den Job und hatte freie Hand, in dem Gebäude an der Oberdorfstrasse, wo der Frauenverein damals noch ein Töchternheim betrieb, einen Spielgruppenraum einzurichten. 

Elisabeth Thompson begann mit zwei Morgen à zwei Stunden, doch da sich das Angebot sehr schnell herumsprach, habe sie die Zeiten bald erweitern müssen. Für das ‹Schnäggähüsli›, wie die Spielgruppe damals hiess, konnte sie zwei Mütter als Mitarbeiterinnen gewinnen, die je einen halben Tag übernahmen. Nach rund drei Jahren erfolgreicher Tätigkeit löste sich Elisabeth Thompson mit ihren zwei Mitarbeiterinnen vom Frauenverein los und begann selbstständig eine Spielgruppe zu führen, die sie ‹Zottelbärli› nannte. Ständig sei sie auf der Suche nach einem geeigneten Lokal gewesen. Das 10-Jahr-Jubiläum als selbstständige Spielgruppe feierte das ‹Zottelbärli› im September 1996 am Gatternweg 50 – das Gebäude wurde in der Zwischenzeit abgerissen und durch einen Neubau ersetzt – und danach zog das ‹Zottelbärli› an die Baselstras-se 1a. Auch dieses Gebäude gibt es nicht mehr. An jenem Ort stehen heute eine Tierarztpraxis und Wohnhäuser. Das ‹Zottelbärli› zog schliesslich weiter ans Schopfgässchen 8 in die ehemaligen Speditionsräume der Druckerei Schudel, die kurz zuvor ihre Tätigkeit eingestellt hatte. Dort ist die Spielgruppe bis jetzt geblieben.

Heute ist Elisabeth Thompson pensioniert, doch das ‹Zottelbärli› befindet sich nach wie vor in Familienhand. Elisabeth Thompsons Tochter Jessica Thompson, die die Spielgruppe praktisch von klein auf kennt und schon als Kind kleine Aufgaben übernahm, ist ihre Nachfolgerin geworden. Sie führt das «Herzensprojekt» ihrer Mutter mit derselben Liebe weiter, zusammen mit fünf engagierten Mitarbeiterinnen. Wie ihre Mutter arbeitete Jessica Thompson ursprünglich im Spital, als Intensivpflegefachfrau, und erst später eröffnete sich ihr die Perspektive, die Spielgruppe selbst einmal zu leiten. Der Übergang fand fliessend statt. Jessica Thompson absolvierte die Ausbildungen zur Spielgruppenleiterin sowie für Migration und Sprachfrühförderung und trat die Leitung des ‹Zottelbärli› offiziell im Februar 2017 an. 

Inzwischen hat sich viel geändert. Waren die Kinder früher in der Regel dreieinhalb- bis vierjährig, als sie in die Spielgruppe kamen – also ein Jahr vor dem Kindergarteneintritt – nimmt man heute schon Zweijährige in die Spielgruppen auf. Und mit der Zunahme von Familien mit wenigen Kindern oder Einzelkindern hat auch der Aspekt an Bedeutung gewonnen, dass die Kinder in den Spielgruppen mit gleichaltrigen Kindern zusammenkommen. So wird denn auch Wert darauf gelegt, dass die Kinder lernen, sich in Gruppen zurechtzufinden, sich mit anderen auseinanderzusetzen, Rücksicht zu nehmen, zu helfen, etwas zusammen zu machen, Regeln zu befolgen und Konflikte auf eine gute Art zu lösen. Auf der institutionellen Ebene wurde eine reglementierte Ausbildung zur Spielgruppenleitung geschaffen und es gibt Qualitätsstandards, die eine Spielgruppe zu erfüllen hat.

Mit dem ‹Kinderhuus zum Glugger›, das Silvia Brändli mit Unterstützung von Margrit Zaugg als Ergänzung zur reinen Spielgruppe initiiert hatte, besteht in Riehen ausserdem ein Kinderhort mit flexiblen Betreuungszeiten, der ebenfalls eine Spielgruppe und Deutschförderung anbietet. 

SPIELERISCHER DEUTSCHUNTERRICHT VOR DEM KINDERGARTEN
Enorm an Bedeutung gewonnen haben die Spielgruppen im Kanton Basel-Stadt durch den Start der ‹Frühen Deutschförderung› als Pilotprojekt des Erziehungsdepartements. Seit dem Schuljahr 2013/14 müssen Kinder mit ungenügenden Deutschkenntnissen im Jahr vor dem Eintritt in den Kindergarten ein familienexternes Angebot besuchen, um dort Deutsch zu lernen. Diese Möglichkeit besteht in den Spielgruppen, wenn diese über speziell geschultes Personal verfügen. In Riehen waren es vier Spielgruppen, die zu Beginn des Projekts die integrierte Sprachförderung anboten, nämlich das ‹Spatzenäschtli›, das ‹Zottelbärli› sowie die Spielgruppe ‹Hampelmaa› im Freizeitzentrum Landauer und die Waldspielgruppe ‹Troll› an der Lörracherstrasse. Inzwischen bieten auch die Spielgruppe ‹Wirbelwind› in Bettingen und die 2020 neu gegründete Spielgruppe ‹Muggeli› im Andreashaus die Frühe Deutschförderung an.

Es gibt auch mehrere Spielgruppen ohne Frühe Deutschförderung. Die Fachstelle Tagesbetreuung der Gemeinde Riehen zählt dazu aktuell die Spielgruppen ‹Chäfereggli› am Landhausweg in Bettingen, die ‹Arche Noah› im Pfarrsaal Riehen-Dorf an der Kirchgasse, die ‹Zwärgevilla› in der Kornfeldkirche und die Spielgruppe ‹Prisma› des Vereins Prisma Schulen sowie die Waldspielgruppen ‹Tannezäpfli› am Erlensteg und ‹Waldzwärgli› auf dem Spielplatz Mohrhalde.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2021

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