Von der Landwirtschaft in die Fabrik

Stefan Suter

Riehen war trotz der Nähe zur Basler Industrie nie ein eigentliches Arbeiterdorf. Dennoch hatte es im 19. Jahrhundert auch hier ansässige Fabrikarbeiter. Ihre Anstellungen fanden sie jedoch vorerst nicht in Basel.

 

Es ist das Schicksal der meisten Menschen, für ihr Erwerbseinkommen arbeiten zu müssen. In früheren Jahrhunderten handelte es sich in ländlichen Gegenden hauptsächlich um körperliche Arbeit in der Landwirtschaft, teilweise auch im Gewerbe. Obwohl seit Menschengedenken immer gearbeitet wurde, gibt es den Begriff des «Arbeiters» im alemannischen Sprachrauni erst seit dem 2. Quartal des 19. Jahrhunderts. Dies liegt vorab daran, dass es sich beim Begriff des «Arbeiters» um ein deutsches Lehnwort handelt. Im hiesigen Dialekt verwendet man die Bezeichnung «schaffe» und nicht «arbeiten». Der Begriff des «Arbeiters» hat sich deswegen als eigentliches Fremdwort mit der Industrialisierung auch hierzulande ausgebreitet. Gemeinhin wurde damit der ungelernte Lohnarbeiter verstanden, der in einem festen, aber abhängigen Arbeitsverhältnis in der Industrie beziehungsweise einer Fabrik tätig war.

Unmittelbare Nähe zur Basler Industrie

Die heutige Bedeutung Riehens hängt mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Stadt und Agglomeration Basel zusammen. Die Ursprünge der Basler Industrie liegen in der seit 1600 entstandenen Band- und Farbenindustrie. Das «know-how» hierzu brachten zum grossen Teil französische Flüchtlinge (Hugenotten) mit. Die Bandindustrie veränderte die wirtschaftliche und soziale Struktur der Basler

Landschaft, weil etwa seit 1670 mit der Einführung des Kunststuhles die so genannten «Passementer» in Heimarbeit die Basler Firmenbesitzer bedienten. Von diesem Erwerbszweig war indessen hauptsächlich das Waldenburgertal, teilweise auch das Laufental betroffen. In Riehen waren Webstühle zwar auch, aber deutlich weniger vertreten. Das mag vielleicht mit zu hohen Produktionskosten oder den in der Landwirtschaft besseren Bedingungen zusammengehangen sein.

 

Die arbeitende Bevölkerung in Riehen blieb bis ins 19. Jahrhundert hauptsächlich im Agrarbereich und in kleinerer Form im Gewerbe verwurzelt. Aber auch diese Sektoren kannten seit alters Lohnarbeiter, die allerdings als Tagelöhner oder «Landmann» bezeichnet wurden. Einzelne dieser Personen hatten zusätzlich eine selbstständige Erwerbseinkunft aus Kleinstlandwirtschaft. Im Tagelohn stellten sie sich den besitzenden Landwirten gegen Lohn zur Verfügung. Im 19. Jahrhundert kamen als Angestellte zahlreiche Steinbrecher hinzu, welche in den hiesigen Steinbrüchen Schwerstarbeit verrichteten. Eigentliche Arbeiter waren diese Personen allerdings nicht, wenngleich nicht ausgeschlossen werden kann, dass der eine oder andere Tagelöhner auch in den Basler Indienne-Manufakturen gelegentlich tätig war.

Einer der ersten Riehener, der sich Fabrikarbeiter nannte, dürfte Johann-Jakob Schultheiss gewesen sein. Anlässlich der Volkszählung 1837 war Schultheiss zwar bereits betagt und sein Vermögen hatte er verpfründet, doch gab er an, ein «gewesener Fabrikarbeiter» zu sein. Die Volkszählung weist als Geburtsjahr 1772 aus, was mit den Daten der Kirchenbücher nicht übereinstimmt. In welcher Fabrik Schultheiss gearbeitet hat, ist nicht belegt. Vieles spricht jedoch dafür, dass er gar nicht in den aufstrebenden Basler Band- und Farbenfabriken, aus denen später die chemische Industrie hervorgegangen ist, arbeitete, sondern in Lörrach.

Die Koechlin-Manufaktur in Lörrach

Der Riehener Simon Link (geboren 1812 als Sohn eines Farbdruckers) zog vermutlich mit einigen weiteren Dorfgenossen als Fabrikarbeiter in die in Lörrach domizilierte Manufaktur Koechlin. Dieses auf das Jahr 1752 zurückgehende Unternehmen, welches noch heute unter der Bezeichnung Koechlin, Baumgartner Et Cie. (KBC) floriert, war und ist im Textildruck tätig. Die Firma wurde im 18. Jahrhundert von dem aus Bern stammenden JohannFriedrich Küpfer geführt und ging dann ab 1808 in den Besitz der Mühlhauser Industriellenfamilie Koechlin über. Der Entscheid von Simon Link und weiterer Personen, in der in Lörrach domizilierten Manufaktur Koechlin zu arbeiten, mag vorab aus geographischen Gründen nahe liegend gewesen sein. Der tägliche Fussmarsch nach Lörrach war immer noch deutlich kürzer als in die vorindus triellen Quartiere Basels. Wobei anzumerken ist, dass die Lörracher Firma mit den Basler Handelshäusern ohnehin eng verknüpft war.

Simon Link erwartete bei Arbeitsantritt bei der Firma Koechlin den Eintritt in eine weltweit verknüpfte, man möchte fast sagen globalisierte Welt. Die zu bedruckende Baumwolle stammte etwa aus den noch Sklaven haltenden US-Staaten Georgia und Louisiana. Das Cotton-Bourbon kam von der anderen Seite der Welt, von der Insel La Réunion. Auch die Basisprodukte der Farben wurden aus der ganzen Welt herbeigeliefert: arabischer Gummi, Senegal-Gummi, Campèche-Holz aus Mittelamerika. Ferner wurde Russ, Indigo, Krapp (Färberöte), Safflor, Galläpfel, Granatäpfel, Alkanawurzel, Curcumawurzel, Eisenvitriol und Kupfervitriol als Färbemittel eingesetzt. Die Bleicherei setzte die Nähe des Wassers voraus, weswegen der nahe Fluss Wiese mitbestimmend für die Gründung der Manufaktur war. Die Drucktechnik erfolgte durch handgeschnitzte Vorlagen, welche von Fachleuten auf die zu bedruckenden Textilien angebracht wurden. Es handelte sich um Muster mit exotischen Blumen, Insekten und Vögeln. Noch heute besitzt die KBC einen unermesslichen Schatz an Beispielen bedruckter Textilien aus dem 19. Jahrhundert.

Schattenseiten

Doch auch in diesem Fall war die Lohnarbeit in der Fabrik für die Arbeiter trotz dem Kontakt mit neuen Stoffen und Techniken keineswegs befriedigend. Bereits 1794 hatte es deswegen in Basel einen Streik der Indienne-Arbeiter gegeben. Von der Lörracher Koechlin-Manufaktur ist Derartiges nicht bekannt. Im Jahre 1889 wurden in Offenburg allerdings die rückständigen Zustände für die Arbeiterschaft von einem anonym bleibenden Arbeiter publiziert. Er beklagte, die Arbeitszeit betrage zwölf Stunden und die Firma Koechlin-Baumgartner lasse auch in der Winterszeit allabendlich bis zehn Uhr nachts produzieren. Zehn überstunden würden als ein zusätzlicher Tag angerechnet. Trotzdem gäbe es viele Arbeiter, die froh seien, lange arbeiten zu können, da sie mit dem kleinen Verdienst die notwendigen Lebensbedürfnisse kaum bestreiten könnten.

Besonders beklagt wurde, dass den Frauen keine Zeit und Erlaubnis gegeben wurde, nach Hause zu gehen, um das Mittagessen zuzubereiten. Aus diesem Grunde müssten sie bereits in der Nacht zuvor das Essen vorbereiten, um es am anderen Tag aufzuwärmen oder «nur mit einem schnellen Kaffee vorlieb nehmen». Eindrücklich sind auch die vom Autor kritisierten Arbeitsumstände: Die 14-18-jährigen jungen Leute würden ihren Körper total ruinieren. Es gäbe Lokale, in welchen vom entsetzlichen Gestank der Farben und Säuren die Luft verunreinigt sei. In denjenigen Hallen, in denen die Tücher gebleicht und gewaschen werden, müsse in Nässe gearbeitet werden. Beim Schnelltrocknen herrsche im Gegenteil eine enorme Hitze. Besonders beeindruckend ist die Beschreibung der «rücksichtslosen Strenge auf pünktliches Einhalten der Arbeitszeit». Wer nur kurze Zeit zu spät komme, fasse eine empfindliche Strafe.

Das führte dazu, dass viele von auswärts Kommende schon um vier Uhr aufstehen mussten, um um sechs Uhr pünktlich in der Fabrik zu sein. Geradezu klassenkämpferisch mutet die Feststellung an, wonach die «Herren» noch zwei bis drei Stunden im weichen Federbett liegen konnten, währenddessen die Arbeiter schon unterwegs waren. Wer es nicht glaube, könne sich selber überzeugen: «Der stelle sich einmal morgens um 6 Uhr bei dem Thore gegen Neustetten auf, da kann man sich davon überzeugen, dass sie fast athemlos daher gerannt kommen, weibliche und männliche, wie gehetztes Wild bei einer Treibjagd. Wehe dem, der schlag 6 Uhr nicht in der Nähe des Thores ist, da steht der grimmige Thorhüter schon unter der Thüre auf der Lauer, bewaffnet mit Bleistift und Notizbuch um erbarmungslos Jeden zu notieren, der einige Minuten zu spät kommt.» Der Stundenansatz sei bei 50 Pfennig gelegen. Diese Zustände scheinen dem Riehener Simon Link nicht behagt zu haben. Er ist deswegen im Jahre 1851 mit seiner Ehefrau Magdalena Stücklin nach Amerika (Wellsboro/Pennsylvania) ausgewandert.

Wegzug nach Basel

Diverse Arbeiter sind ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Kanton Baselland nach Riehen gezogen, um vermutlich vorerst ebenfalls in der Lörracher Firma Koechlin tätig zu sein. Sie haben aber später Riehen Richtung Basel wieder verlassen. Zu ihnen gehörten beispielsweise die 1845 geborene Maria Spielhofer (Fabrikarbeiterin) und der 1841 geborene Rudolf Merz. Im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es aber auch vor, dass Riehener Bürger, die offenbar in der Landwirtschaft kein Auskommen finden konnten oder wollten - auch nicht als Tagelöhner -, in die neu entstandenen Basler Quartiere übersiedelten. Zu den wegziehenden Personen ist neben vielen andern Simon Schmid (1831-1902) zu zählen. Er zog an die Bachlettenstrasse 19 in Basel und arbeitete ab 1858 in einem Basler Industriebetrieb. Diese Stelle hat er aber offenbar verloren, denn 1865 figurierte er auf einer Liste von «brotlosen» Arbeitern, welche sich für Erdarbeiten bei einem Hilfskomitee gemeldet hatten. Simon Schmid war verheiratet und hatte vier Kinder. Anlässlich dieser Arbeitslosigkeit erwähnte Simon Schmid, auch er beabsichtige, nach Amerika auszuwandern. Er hat diesen Vorsatz aber nicht in die Tat umgesetzt.

Arbeiterwohnungen in Riehen

Durch die Bebauung der Lörracherstrasse, teilweise auch durch das spätere Erstellen von Häusern in den Habermatten und dem Niederholz-Quartier, haben Arbeiter aus Basel in Riehen Wohnsitz nehmen können. Der stets bescheidene Arbeiteranteil in Riehen hat sich somit erst erhöht, als entsprechende Wohnungsangebote zur Verfügung gestellt wurden. Doch auch die Lörracherstrasse hatte sich nicht zu einem reinen Arbeiterquartier entwickelt. Fabrikarbeiter siedelten sich zwar in den neu entstandenen Häusern an, blieben aber stets in der Minderheit gegenüber den gelernten Handwerkern und Angehörigen des Zollpersonals.

Das Grüne Dorf

Die Entwicklung Riehens steht nahe liegend in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung, die die Stadt Basel seit dem 19. Jahrhundert durchgemacht hat. Während einst die begüterten Land- und Fabrikherren in Riehen Villen bezogen haben, sind ihnen später einzelne Arbeiter und Angestellte gefolgt und viele Einfamilienhäuser von Chemikern haben im 20. Jahrhundert das Bild abgerundet: eines aus der Landwirtschaft entstandenen und geprägten Gebietes, welches das Privileg hatte, von der wirtschaftlichen Entwicklung zu profitieren, ohne die Industriebetriebe selbst auf eigenem Boden beherbergen zu müssen. Die soziale Durchmischung hat dazu geführt, dass Riehen nicht zum reinen Villenvorort Basels mutierte, sondern eine Bevölkerungsstruktur aufweist, welcher verschiedene gesellschaftliche Schichten angehören. Im historischen Kontext spielen deswegen die Fabrikarbeiter in Riehen zwar nicht eine sehr bedeutende, aber im Hinblick auf die Bevölkerungsanteile doch nennenswerte Rolle.

Quellen

StABS Volkszählung E5, 1837/StABS Volkszählung F4, 1847/StABS Volkszählung H5, 1860/ StABS Handel und Gewerbe MM3 (1821-1903) Basler Adressbuch, Historisches Grundbuch Riehen, Archiv der KBC Manufaktur Koechlin, Baumgartner ft Cie. GmbH, Lörrach, Stefan Suter, in: RJ 1993, Bauboom und multikulturelle Bevölkerung

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2002

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