Wettstein und Riehen – Annäherungen


Stefan Hess


Ohne öffentliches Gedenken verstrich am 12. April 2016 der 350. Todestag des Basler Bürgermeisters und Diplomaten Johann Rudolf Wettstein (1594–1666). Als Landvogt und später als Landgutbesitzer war Wettstein mit Riehen eng verbunden. Nach seinem Tode vergingen aber fast 250 Jahre, bis hier seiner erstmals öffentlich gedacht wurde.1


Heute begegnet man im Dorfkern von Riehen immer wieder dem Namen ‹Wettstein›: Die zentrale Baselstras-se säumen die Wettsteinhäuser mit einer Gedenktafel und der Landgasthof mit der Wettsteinstube, neben dem Gemeindehaus verläuft die Wettsteinstrasse und dahinter erstreckt sich die Wettsteinanlage. Wie kam es zu dieser auffallenden Präsenz, die sonst keiner anderen historischen Persönlichkeit in Riehen zuteil wurde?


((KASTEN))


Eine steile Karriere


Johann Rudolf Wettstein kam am 27. Oktober 1594 in Basel zur Welt als jüngster von fünf Söhnen des Johann Jakob Wettstein und der Magdalena, geborene Betzler, die aus Russikon im Zürcher Weinland zugewandert waren.2 Nach dem Besuch des Gymnasiums in Basel absolvierte er eine Kanzleilehre in Yverdon und Genf. 1611 eröffnete er in Basel ein Notariat und heiratete Anna Maria Falkner (1589–1647) aus einem alten baslerischen Patriziergeschlecht. Dieser Ehe entsprossen fünf Töchter und vier Söhne.


Während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) durchlief Wettstein in Basel eine Ämterlaufbahn, die ihn an die Spitze der Stadtrepublik führte: Seit 1620 vertrat Wettstein die Rebleutenzunft im Kleinen Rat, von 1624 bis 1626 wirkte er als Landvogt auf der Farnsburg und anschliessend in gleicher Funktion in Riehen. 1635 stieg er zum Oberstzunftmeister und 1645 zum Bürgermeister der Stadt auf.


Johann Rudolf Wettstein vertrat den Stand Basel zwischen 1630 und 1665 regelmässig an den eidgenössischen Tagsatzungen. Ende 1646 von den reformierten Orten an den Friedenskongress in Westfalen entsandt, erreichte er in zähen Verhandlungen, dass die wichtigsten west- und mitteleuropäischen Mächte im abschliessenden Friedensvertrag die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation anerkannten.


Im Bauernkrieg von 1653 nahm Wettstein als Basler Bürgermeister eine von der Vorstellung des Gottesgnadentums geprägte autoritäre Haltung ein und befürwortete drakonische Strafmassnahmen gegen die aufständischen Untertanen.


Am 12. April 1666 starb Johann Rudolf Wettstein in Basel und wurde drei Tage später in der Barfüsserkirche beigesetzt. Heute befindet sich sein Epitaph im Kreuzgang des Basler Münsters.


Die Bedeutung von Wettstein für Riehen


Wettstein ging erstmals eine Verbindung mit Riehen ein, als er 1626 zu dessen Landvogt (Obervogt) ernannt wurde.3 In dieser Funktion vertrat er in der Riehener Vogtei, die bei seinem Amtsantritt noch deckungsgleich mit der Gemeinde Riehen war, die Stadt Basel in deren umfassenden herrschaftlichen Rechten. Zu seinen Aufgaben gehörten das Führen von gerichtlichen Untersuchungen und die Finanz- und Militärverwaltung, insbesondere das Einziehen der Feudalabgaben. Daneben musste Wettstein in seiner Vogtei die von der städtischen Regierung erlassenen Mandate durchsetzen. 


Während seiner neunjährigen Tätigkeit als Riehener Landvogt ergriff Wettstein wiederholt Massnahmen, die auch der Dorfgemeinschaft zugutekamen. Als etwa im März 1628 zwei in Weil stationierte kaiserliche Soldaten in Riehen Unfug trieben, begab er sich ins Nachbardorf und intervenierte dort beim kommandierenden Oberstleutnant. Und im März 1633 setzte er durch, dass die fünf Basler Bürger, die in Riehen Haus und Güter besassen, sich am sogenannten Soldatengeld zur Finanzierung einer Wache von zwölf Berufssoldaten mit der monatlichen Zahlung eines Reichstalers beteiligen mussten. 


Als Landvogt war Wettstein aber primär Repräsentant der Stadt Basel. Als solcher setzte er sich nur für die Bedürfnisse der Gemeinde aktiv ein, soweit diese auch den städtischen Interessen entsprachen. Die meisten der von ihm getroffenen Vorkehrungen nützten jedoch hauptsächlich der Stadt, während sie für die Dorfbevölkerung belanglos waren oder ihr gar zum Nachteil gereichten. Als Wettstein gleich bei seinem Amtsantritt im Sommer 1626 die Verwaltung straffte, indem er das Bettinger Amt mit Riehen vereinigte und die Abrechnung vereinheitlichte, dürfte dies für die Riehener Bevölkerung zunächst keine nennenswerten Auswirkungen gehabt haben. Als er jedoch 1632 für die Wettinger Vogtei einen neuen Berain, also ein Verzeichnis über alle Besitzrechte, anlegte, um die geschuldeten Abgaben aus den 1540 vom Kloster Wettingen übernommenen Rechten ungeschmälert einziehen zu können, mussten alle Besitzer von zinspflichtigen Gütern fortan der Stadt Abgaben leisten und auch die aufgelaufenen Rückstände begleichen. Zudem hatte Wettstein als Landvogt gegen den Widerstand der Landbevölkerung von der Stadt eingeführte neue Bestimmungen durchzusetzen, wie etwa das Ratsdekret von 1628, das an Hochzeiten maximal vier Tische zu je zwölf Personen erlaubte und für jeden zusätzlichen Tisch eine Busse von zwei Gulden einforderte. 


Die Bedeutung von Riehen für Wettstein


Wettstein vertrat in Riehen aber nicht nur die Interessen der Stadt. Das Dorf spielte auch für seine persönlichen Belange eine wichtige Rolle. Zunächst war die rechtsrheinische Gemeinde für ihn ein Sprungbrett für höhere politische Aufgaben: Als er 1626 von der Landvogtei Farnsburg zur Landvogtei Riehen wechselte, war dies eine entscheidende Weichenstellung in seiner politischen Laufbahn. Das kleine Amt Riehen bot zwar bescheidenere Verdienstmöglichkeiten als das ausgedehnte Amt Farnsburg, erfreute sich aber bei ehrgeizigen Magistraten dennoch grosser Beliebtheit. Denn im Unterschied zu den übrigen Landvogteien bestand hier keine Residenzpflicht, sodass der Obervogt seine Ratsstelle und weitere Ämter in der städtischen Verwaltung behalten durfte. Wettstein konnte daher bereits ein Jahr nach seinem Riehener Amtsantritt eine weitere wichtige Stufe in der Ämterhierarchie der Stadt Basel erklimmen, indem er in den Dreizehnerrat, die engere Regierung der Stadt, gewählt wurde. Mit der Wahl zum Oberstzunftmeister im Jahr 1635 musste Wettstein die Landvogtei Riehen dann abgeben.


Dieses Aufrücken in ein Spitzenamt wirkte sich – wie erhaltene Steuerlisten und Vermögensverzeichnisse belegen – negativ auf seine wirtschaftliche Situation aus. Zwar erhielt Wettstein auch als Oberstzunftmeister und später als Bürgermeister sowie als Inhaber einer Vielzahl weiterer Ämter namhafte Entschädigungen in Geld und Naturalien. Gleichzeitig nahmen mit dem politischen Aufstieg aber auch die Ausgaben deutlich zu. Dafür war einerseits ein gestiegenes Repräsentationsbedürfnis verantwortlich, andererseits schmälerten die Kosten für eine standesgemässe Ausbildung und Aussteuer seiner Kinder die eigenen Ressourcen so empfindlich, dass Wettstein in seinem Vermögensverzeichnis von 1646 seinem Unmut über «die schröcklichen Ussgaben für die Khinnder» Luft verschaffte.4 Ohne Elternhaus im Hintergrund, das ihn bei Bedarf unterstützen konnte, war er neben den Vergütungen für seine öffentlichen Ämter auf zusätzliche Einnahmequellen angewiesen. Die grosse Zahl von Gesandtschaftsreisen, die Wettstein im Auftrag der Stadt Basel unternahm, schränkte hier den Spielraum allerdings erheblich ein. Eine wichtige Rolle innerhalb der auf zusätzlichen Verdienst angelegten Unternehmungen spielte Wettsteins Betätigung im Weingewerbe.5 Deren Schwerpunkt lag eindeutig in Riehen, wo er im Lauf der Jahre ein eigentliches Rebgut aufbaute. Den Grundstein dazu legte er schon in den 1630er-Jahren, als er im Gemeindebann seine ersten Reben kaufte. Dass diese gute Erträge abwarfen, dürfte den Kauf weiterer Reb-äcker begünstigt haben. Bei Wettsteins Tod bestand sein Rebbesitz in Riehen, Bettingen und den angrenzenden badischen Gemeinden aus über einem Dutzend Parzellen mit einer Gesamtfläche von rund 4,5 Hektaren. Überdies erwarb er in Riehen Weidland, Hanfbündten, Waldgrund, Fischweiher sowie Fischerei- und Schäfereirechte. Zur Verwaltung dieser Güter dienten ihm zwei um 1640 und 1662 erworbene, benachbarte Häuser im Riehener Dorfkern, die sogenannten Wettsteinhäuser (Baselstrasse 34 und 30).6 Als Ergänzung zu seinem Landbesitz konnte er 1661 von der Stadt die ehemals dem Kloster Wettingen gehörigen Einkünfte als Entschädigung für seine während der westfälischen Mission erlittenen Verluste zu einem Vorzugspreis erwerben.


Die Erträge seiner Rebgärten erlaubten es Wettstein, einen Weinhandel von beachtlichem Umfang aufzubauen. Der meiste Wein war für Basel bestimmt, wo Wettstein etwa das Gasthaus zum Storchen beim Fischmarkt belieferte. Einen kleineren Teil setzte er im Detailhandel in Riehen ab, wo er zeitweise auch eine Straussenwirtschaft betrieb. Um aus den damals grossen Preisschwankungen im Weinhandel Profit schlagen zu können, war die Anlage geräumiger Weinkeller unumgänglich. So liess sich bei guten Ernten ein Teil der Erträge einlagern, der dann in Fehljahren zu einem deutlich höheren Preis verkauft werden konnte. Bei seinem Tod verfügte Wettstein über insgesamt 433 Saum Wein, was fast 60 000 Litern entspricht. 259 Saum (gut 35 000 Liter) lagerten, verteilt auf 16 Fässer, in vier Weinkellern in Riehen, die er zum Teil selbst hatte anlegen lassen. 


Für Wettstein hatten seine Riehener Besitzungen vor allem eine wirtschaftliche Bedeutung. Ihre Erträge, namentlich aus dem Weinhandel, trugen massgeblich dazu bei, dass er sich einen Grossteil seiner Zeit den politischen Geschäften widmen konnte. Zudem bildeten Wettsteins Investitionen in seinen Riehener Land- und Häuserbesitz relativ sichere Kapitalanlagen, deren Wert er durch bauliche Verbesserungen und durch sorgfältige Bewirtschaftung noch vermehrte.


Darüber hinaus erfüllte Wettsteins Landsitz in Riehen auch eine repräsentative Funktion, die sich in der aufwendigen architektonischen und künstlerischen Ausgestaltung seiner Häuser ausdrückt. So ist bezeugt, dass der Basler Magistrat in Riehen vornehme Gäste empfing, wie etwa 1659 den früheren Urner Landammann Sebastian Peregrin Zwyer von Evibach (1597–1661), der sich in einem Brief für den «stattlichen, ja fürstlichen Empfang in Riehen» bedankte.7 Gleichzeitig nutzte Wettstein den repräsentativen Charakter der Anlage, um die soziale Distanz zu den Untertanen sichtbar zu machen – beinahe in der Manier eines absolutistischen Herrschers. 1657 zitierte er etwa einen Landschäftler Bauern, welcher der üblen Nachrede gegen ihn bezichtigt worden war, in sein Riehener Haus, wo sich dieser förmlich bei ihm entschuldigen musste.8


«Und wie sich Wettstein aufgeschwungen / zum Tempel der Unsterblichkeit»


Als Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein am 12. April 1666 in Basel verstarb, war er alles andere als eine unangefochten populäre Persönlichkeit. Als mächtiger Magistrat hatte er sowohl in der Stadt als auch auf der Landschaft zahlreiche Kritiker. Dies zeigt auch die Leichenpredigt, in welcher der Münsterpfarrer Lucas Gernler (1625–1675) die versammelte Gemeinde ermahnte: «man sehe mehr fürsich / als hindersich: man rede lieber von der sach / als dass man die Personen, die in dem Herren ruhen / und durch deren arbeit Gott unserem Vatterland viel gutes gethan / schimpflich durchziehen wolte.»9


Dass Wettstein seit seinem Tod in der öffentlichen Wahrnehmung von einer umstrittenen Figur zum ‹grossen Bürgermeister›, ja zu einem ‹grossen Schweizer› geworden ist, dafür sind nicht seine zweifellos vorhandenen Verdienste als Verwalter, sondern seine Rolle bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden verantwortlich, da der darin enthaltene Artikel zur Stellung der Eidgenossenschaft nachträglich als Anerkennung der vollständigen Unabhängigkeit vom Reich aufgefasst wurde. Den Anstoss für diese Interpretation gab der württembergische Jurist Johann Jacob Moser (1701–1785) in seinem Traktat von 1731 mit dem Titel ‹Die gerettete völlige Souverainete der löblichen Schweitzerischen Eydgenoßenschafft›. Kernpunkt seiner Argumentation bildete eine Eingabe Wettsteins an den Kaiser vom Februar 1647, die das Reichsoberhaupt dazu aufforderte, die eidgenössischen Orte fortan «bey Ihrem freyen, souverainen Stand und Herkommen fürbass ruhig und ohnturbirt zu lassen».10 Da der Kaiser in seinem Dekret, das zur Grundlage eines Artikels in den Friedensverträgen wurde, ausdrücklich auf Wettsteins Eingabe Bezug nahm, sah Moser den Nachweis erbracht, dass die Eidgenossenschaft mit dem Westfälischen Frieden die volle Souveränität erlangt habe, auch wenn dieser Begriff im fraglichen Artikel nicht genannt wird.11


Mosers Traktat wurde auch an der juristischen Fakultät der Universität Basel rezipiert. So definierte 1746 der Jurist und spätere Bürgermeister Daniel Mitz (1724–1789) in seiner ‹Dissertatio de libertate Helvetica› die Eidgenossenschaft als einen souveränen Staat, wobei auch er der genannten Eingabe von Wettstein eine grosse Bedeutung beimass.12 Im Anhang der Dissertation findet sich ein Lobgedicht auf Daniel Mitz, verfasst von Andreas Linder, Assessor (Gehilfe) der juristischen Fakultät, das zugleich das früheste datierte Zeugnis für die Wettstein-Verehrung darstellt:


Du zeigst, wie unsre Helden-Ahnen


Durch Tapfferkeit und klugen Raht


Den Weg zur edlen Freyheit bahnen,


Die alle Güter in sich hat.


Wie unsre Rechten durchgedrungen,


Trotz Bosheit, List, Verrath und Neid,


Und wie sich Wettstein aufgeschwungen


Zum Tempel der Unsterblichkeit.13


Aus etwa derselben Zeit stammt ein postumes Wettsteinporträt, das sich heute im Dorfmuseum der Gemeinde Riehen befindet: Es zeigt den Bürgermeister in schwarzer Magistratskleidung mit dem Gnadenpfennig um den Hals, den ihm Kaiser Ferdinand III. 1651 anlässlich einer Gesandtschaft nach Wien verlieh.14 An der Säule im Hintergrund rechts ist das Wappen der Familie Wettstein angebracht, zusammen mit einer lateinischen Inschrift, die unter anderem die Westfälische Mission erwähnt. Das auffälligste Element des Bildes ist jedoch ein aufgeschlagenes Druckwerk, das hinter Wettsteins linker Schulter an den Fuss einer Säule gelehnt ist und den Titel ‹Acta und Handlungen / Betreffend Gemeiner Eydgnosschafft Exemption› trägt. Dabei handelt es sich um eine Aktensammlung zu Wettsteins beiden Gesandtschaften nach Westfalen und Wien, die der Basler Bürgermeister 1651 auf Veranlassung der eidgenössischen Tagsatzung veröffentlichte und dank der Johann Jacob Moser Kenntnis von der fraglichen Eingabe an den Kaiser von 1647 hatte. Wettstein tritt uns somit als Verteidiger und Garant der eidgenössischen Souveränität entgegen. Diese Rolle machte ihn im 18. Jahrhundert überhaupt erst bildwürdig.


Der Auftraggeber des Gemäldes muss auf jeden Fall juristisch sehr beschlagen gewesen sein. In Frage kommt vor allem Daniel Mitz, der mütterlicherseits direkt von Wettstein abstammte und 1751 von seinem Vater das Alte Wettsteinhaus in Riehen erbte. Tatsächlich listet das Nachlassinventar seiner Witwe Anna Katharina Mitz, geborene Merian, «Vier Wettsteinische Portraits auf Tuch» auf, die dem Anteil ihrer mit dem Kaufmann Leonhard Heusler (1754–1807) verheirateten Tochter Agnes zugeschlagen wurden.15 Über deren Urenkelin Anna Katharina Heusler (1871–1957), der letzten privaten Besitzerin des Alten Wettsteinhauses, gelangte das erwähnte Bild schliesslich in den Besitz der Gemeinde Riehen.


Erinnerungspflege in Riehen


Obwohl sich in Riehen mit den sogenannten Wettsteinhäusern sichtbare Zeugen der Wirksamkeit des früheren Bürgermeisters befanden, blieb das Dorf lange Zeit von der Wettstein-Begeisterung unberührt, die sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Basel ausbreitete. Erst im 20. Jahrhundert begann auch die Landgemeinde, dem früheren Landvogt innerhalb der kommunalen Erinnerungskultur eine tragende Rolle einzuräumen. Dies wird erstmals fassbar im Jahr 1904, als auf Antrag des Gemeinderats der Zehnjuchartenweg in Wettsteinstrasse umbenannt wurde. Als dieser Strassenabschnitt 1935 der Bahnhofstrasse zugeschlagen wurde, erhielt die bisherige Glöcklihofstrasse den Namen Wettsteinstrasse.16 


Ins allgemeine Bewusstsein gelangte der Zusammenhang von Wettstein und Riehen aber erst anlässlich des 1923 gefeierten 400-Jahr-Jubiläums der Zugehörigkeit Riehens zu Basel. Für diesen Anlass verfasste der in Riehen wohnhafte Journalist und Politiker Albert Oeri (1875–1950) das Festspiel ‹Wettstein und Riehen›, zu dem Hermann Suter (1870–1926) die Begleitmusik schrieb und das in der Mustermessehalle siebenmal aufgeführt wurde.17 Daraus stammt der bis heute beliebte Wettsteinmarsch, dessen Originalmanuskript im Dorfmuseum von Riehen aufbewahrt wird. Der abwechselnd von einem Riehener und einem Basler verkörperte Wettstein trat damals nicht bloss in den Aufführungen des Festspiels in Kleinbasel, sondern auch im Festumzug in Riehen auf. Bezeichnenderweise erscheint erst damals der Name ‹Wettsteinhaus› für das erste der beiden von Johann Rudolf Wettstein im Dorfkern erworbene Gebäude, das bislang als ‹Heuslerhaus› bekannt war.18 Nach den Feierlichkeiten von 1923 wurde Wettsteins Andenken in Riehen weiterhin hochgehalten, wobei der Anstoss – wie letztlich auch beim Festspiel von 1923 – anfänglich von aussen kam. So stifteten die Basler Zünfte und Gesellschaften zum Gedenken an diese ‹Vereinigungsfeier› eine von Burkhard Mangold (1873–1950) entworfene Riehener Wappenscheibe mit Wettstein und einer symbolischen Riehenerin als Schildbegleiterin.19 1940 erhielt die Gemeinde von der eidgenössischen Kunstkommission überdies das grossformatige Glasgemälde ‹Wettstein und die Bürger von Riehen› von Charles Hindenlang (1894–1960).20 1948 – im Jahr des 300-Jahr-Jubiläums des Westfälischen Friedens – führte der Sekundarlehrer Eduard Wirz (1891–1970) an der Einweihungsfeier des Niederholzschulhauses zusammen mit einigen seiner Schülerinnen und Schülern das von ihm verfasste Spiel ‹Der Landvogt Wettstein› auf.21 Im selben Jahr gab die Gemeinde bei der Bildhauerin Hedwig Frei (1905–1958) eine Gedenktafel für Johann Rudolf Wettstein in Auftrag, die seit 1949 am Alten Wettsteinhaus angebracht ist.22 1951 wurde anlässlich der Einweihung des Hebelschulhauses erstmals das von Eduard Wirz verfasste ‹Riehener Lied› vorgetragen, in dessen siebter Strophe auch Wettstein die Reverenz erwiesen wird.23 Im folgenden Jahr fuhr Zimmermeister Ernst Späth am Riehener Winzerfest in einer Kutsche als Bürgermeister Wettstein vor.24 Einen weiteren Auftritt hatte der Basler Magistrat 1956 im Theaterstück ‹Sichellösi› von Eduard Wirz. Und 1961 schenkte der Kanton Basel-Stadt der Gemeinde Riehen für das neue Gemeindehaus eine weitere, diesmal von Otto Staiger (1894–1967) geschaffene Wettstein-Scheibe.25 


In den letzten fünfzig Jahren war man vor allem in Riehen selbst darum bemüht, das Andenken an den mit dem Dorf eng verbundenen früheren Landvogt und Bürgermeister hochzuhalten. Hier ein paar Beispiele: Der Riehener Konditormeister Christian Hagmann (1921–1985) vertrieb über Jahre hinweg ein Wettstein-Medaillon aus Schokolade26; 1976 erhielt der Park hinter den Wettsteinhäusern den Namen Wettsteinanlage und 1992 wurde zur Neueröffnung des Spielzeugmuseums, Dorf- und Rebbaumuseums ein Wettstein-Rundgang eingerichtet. Ein Jahr später stiftete der abtretende Riehener Gemeinderat Hans Schaefer (1926–2010) eine von Hanns Studer (* 1920) geschaffene Kabinettscheibe für das Basler Rathaus, in der Wettstein wiederum die Rolle des Schildhalters zugedacht ist.27 Am 27. Oktober 1994 beging die Gemeinde Riehen – wie eine Woche zuvor der Kanton – Wettsteins 400. Geburtstag mit einem öffentlichen Festakt und gab zu diesem Anlass eine Broschüre mit dem Titel ‹Johann Rudolf Wettstein 1594–1666. Seine Bedeutung für Riehen, Basel und die Schweiz› heraus. Und bis 2014 bot das im Alten Wettsteinhaus untergebrachte Museum jeweils am Sonntag nach Wettsteins Todestag eine Führung über den berühmtesten Riehener Landvogt an. Als Ersatz führte es 2016 am letzten Sonntag im September einen ‹Wettsteintag› mit Führungen für Kinder und Erwachsene durch.


Während in Basel Wettstein als historische Persönlichkeit im Lauf des 20. Jahrhunderts von der davon abgeleiteten topografischen Bezeichnung allmählich überlagert wurde, wandelte man in Riehen den einstigen Repräsentanten der städtischen Herrschaft im selben Zeitraum in eine eigene Identifikations- und Repräsentationsfigur um. Diese hat allerdings – wie der ‹vergessene› 350. Todestag zeigt – mittlerweile etwas Staub angesetzt.


1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 21. Mai 2014 im Kleinen Klingental in Basel gehalten wurde. Vgl. Stefan Hess: Johann Rudolf Wettstein und Riehen, in: Freunde des Klingentalmuseums. Jahresbericht 2014, S. 36–43.


2 Vgl. dazu Julia Gauss / Alfred Stoecklin: Bürgermeister Wettstein. Der Mann – das Werk – die Zeit, Basel 1953; Brigitte Meles (Red.): Wettstein – Die Schweiz und Europa 1648. Ausstellungskatalog Historisches Museum Basel, Basel 1998.


3 Zu Wettsteins Wirken in Riehen vgl. C[hristian] A[dolf] Müller: Johann Rudolf Wettstein und Riehen, in: Basler Jahrbuch 1959, S. 13–27; Albin Kaspar: Wettstein und Riehen, in: Gemeinde Riehen (Hg.): Johann Rudolf Wettstein 1594–1666. Seine Bedeutung für Riehen, Basel und die Schweiz, Riehen 1994, S. 11–21.


4 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Politisches Q 6.


5 Vgl. dazu Stefan Hess: Der Weinberg des Herrn Burgermeister. Johann Rudolf Wettstein als Weinproduzent, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 98 (1998), S. 35–47.


6 Vgl. Lucas Frey: Das Wettsteinhaus, in: z’Rieche 1962, S. 31–42; Fritz Lehmann: Aus der Geschichte des Wettsteinhauses zu Riehen, in: z’Rieche 1972, S. 7–25; ders.: Johann Rudolf Wettsteins «Neue Behausung», das alte Meigelsche Landgut, in: z’Rieche 1976, S. 26–56; Lukrezia Seiler: Die Wettsteinhäuser in Riehen, in: Johann Rudolf Wettstein 1594–1666, S. 33–40.


7 Zitiert nach Lehmann, Aus der Geschichte, S. 20.


8 Gauss / Stoecklin, Bürgermeister Wettstein, S. 500.


9 Universitätsbibliothek Basel, KiAr, G X 17, Nr. 29, S. 35. Zur Rezeptionsgeschichte Wettsteins vgl. Stefan Hess: «Basels grosser Bürgermeister». Das Nachleben von Johann Rudolf Wettstein, in: Wettstein – Die Schweiz und Europa, S. 132–141.


10 [Johann Rudolf Wettstein]: Acta und Handlungen / Betreffend Gemeiner Eydgnosschafft Exemption …, Basel 1651, S. 28.


11 Vgl. Thomas Maissen: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, Göttingen 2006, S. 225f. 


12 Vgl. Karl Mommsen: Auf dem Wege zur   Staats-souveränität. Staatliche Grundbegriffe in Basler juristischen Doktordisputationen des 17. und 18. Jahrhunderts, Bern 1970, S. 246–250.


13 Daniel Mitz: Dissertatio de libertate Helvetica. Von der Schweitzer-Freyheit …, Basel 1746, S. 58.


14 Vgl. Beatrice Schärli: Gnadenpfennige und Ehrenketten. Beispiele aus dem Gebiet der heutigen Schweiz, in: Bernd Kluge / Bernhard Weisser (Hg.): XII. Internationaler Numismatischer Kongress Berlin 1997. Akten – Preceedings – Actes II, Berlin 2000, S. 1426–1441, hier S. 1435.


15 «Copia. Inventarium und Abtheilung über weyland Fraun Anna Catharina Merian sel.», 1805, p. 16 und 40, StABS, PA 522, C 1, 1724–1805.


16 Vgl. StABS, Bau H 4, 1904–1927. Vgl. Jürgen Mischke / Inga Siegfried (Hg.): Die Ortsnamen von Riehen und Bettingen. Namenbuch Basel-Stadt 1, Basel 2013, S. 333 (Angaben teilweise fehlerhaft).


17 Vgl. Stefan Hess: Von der Krisenstimmung zum Festrausch. Die «Vierhundertjährige Vereinigungsfeier von Riehen und Basel» im Jahre 1923, unveröffentlichte Lizentiatsarbeit, Universität Basel, 1995, S. 96–150.


18 Vgl. Offizieller Festführer zur Feier der 400jährigen Vereinigung von Riehen und Basel, [Basel] 1923, S. 42. Völlig isoliert findet sich die Bezeichnung «Wettstein-Haus» bereits in Franz Fäh: Johann Rudolf Wettstein. Ein Zeit- und Lebensbild, 2. Teil, Basel 1894, S. 77, Anm. 2.


19 Vgl. Anne Nagel / Hortensia von Roda: «… der Augenlust und dem Gemüth». Die Glasmalerei in Basel 1830–1930, Basel 1998, S. 222f. und Kat. 22.21f.


20 Vgl. Basler Nachrichten, 7.5.1940.


21 Vgl. Albert Schudel: Vor 50 Jahren. Die Einweihung des Niederholzschulhauses, in: z’Rieche 1998, S. 132–139, hier S. 133.


22 Vgl. Michael Raith: Gemeindekunde Riehen, 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Riehen 1988, S. 266.


23 Vgl. Eduard Wirz: Unser Riehen, Riehen 1956, S. 8; Raith, Gemeindekunde, S. 280.


24 Vgl. Michèle Faller: Romantische Tremoli und wilde Feste, in: z’Rieche 2012, S. 78–83, hier S. 83.


25 Vgl. Hans Krattiger: Das Gemeindehaus als Museum. Riehens öffentliche Kunstpflege, in: z’Rieche 1970, S. 9–19, hier S. 12.


26 Vgl. Michael Raith: Die Erinnerung an Johann Rudolf Wettstein, in: Johann Rudolf Wettstein 1594–1666, S. 41–54, hier S. 54.


27 Vgl. Barbara Giesicke: Glasmalereien des 16. und 20. Jahrhunderts im Basler Rathaus, Basel 1994, S. 246f.


 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

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