Zum 300. Geburtstag von Leonhard Euler

Ewald Billerbeck

In Basel ausgebildet, revolutionierte er in St. Petersburg und Berlin die Mathematik. Leonhard Euler (1707-1783) schuf ein unvergleichliches Werk. Sein Lebensbild aber wäre unvollständig ohne die Riehener Mosaiksteine, die Jugendjahre in der Landgemeinde.

 

In Basel wurde er geboren. In Riehen verbrachte er seine frühe Kindheit. In St. Petersburg stieg er zum herausragenden Mathematiker seiner Zeit auf. In Berlin entwickelte er bahnbrechende Lehrsätze. Wieder in St. Petersburg, vollendete er ein immenses Werk. - Wem «gehört» Leonhard Euler? Eher St. Petersburg als Berlin? Welcher Ort seines Lebens und Wirkens darf ihn zuerst für sich beanspruchen? Basel als Heimatstadt, in der er zur Mathematik fand, die er aber als Zwanzigjähriger verliess, um nie mehr zurückzukehren? St. Petersburg, wo er am längsten wirkte? Berlin, für ein Vierteljahrhundert Station dessen, der vom Euler-Biografen Emil A. Fellmann «nicht nur der produktivste Mathematiker der Menschheitsgeschichte, sondern auch einer der grössten Gelehrten aller Zeiten» genannt wird? Und nicht zu vergessen: In Riehen verbrachte er seine Kindheit.

Aber es gibt keine alleinige Beanspruchung Eulers. Der Gescheite entzieht sich der Inbesitznahme. Und Euler war nicht nur der gescheiteste Auslandschweizer, er war ein Kosmopolit in Verbindung mit den wissenschaftlichen Akademien wie im Netz der Korrespondenzen unter den klügsten mathematischen und naturwissenschaftlichen Köpfen von damals. Er war Kosmopolit und schuf einen mathematischen Kosmos. Der Geist sprengt örtliche Bedingtheit. Dennoch darf man nach den Wurzeln und den frühen Prägungen fragen. Eben nicht zu vergessen: In Riehen verbrachte er seine Kindheit.

 

Der Basler Nikolaus Fuss, Eulers Mitarbeiter und späterer Nachfolger auf dem Petersburger Lehrstuhl, schrieb drei Jahre nach dessen Tod in der «Lobrede auf Herrn Leonhard Euler» von 1786 die Sätze: «Die ersten Jahre seines Lebens brachte er in Riehen zu; und wahrscheinlich hatte er diesem ländlichen Aufenthalte, in einem Land, wo überhaupt die Sitten sich langsamer als anderswo verschlimmert haben, und dem Beispiel seiner Eltern die Einfachheit des Charakters und jene Unbefangenheit der Sitten zu danken, die ihn sein ganzes Leben ausgezeichnet und vermutlich allein in den Stand gesetzt haben, die lange und glänzende Laufbahn zu vollenden, die seinen Namen unsterblich gemacht hat.»

Fuss war über Jahre mit Euler und seiner Familie eng verbunden. Die in der posthumen Lobrede angesprochenen Wurzeln in Riehen meinen nicht Eulers Herkunft; er war Bürger der Stadt Basel und sorgte auch für das Basler Bürgerrecht seiner Nachkommen. Die Wurzeln beziehen sich vielmehr auf Wesen und Umfeld. Euler hat sich zeitlebens eine im ländlichen Riehen gewachsene «kindliche» Neugier für die Vorgänge in der Natur bewahrt; sie befähigte ihn zu lustvollem Forschen. Die Mutter besass einen gebildeten Familienhintergrund in der Stadt und der Vater, selbst in der Mathematik bewandert, unterstützte früh schon die Neigungen des kleinen Leonhard. Als reformierter Landpfarrer in Riehen leitete er eine kirchlich aktive Gemeinde. Diese im Elternhaus und im Dorf praktizierte, vom kleinen Knaben erlebte Frömmigkeit sollte prägend werden für eine christliche Auffassung von Wissenschaft, wie sie Euler stets dezidiert vertrat.

Leonhard Euler wird am 15. April 1707 in Basel geboren und am 17. April in der Martinskirche getauft, in deren Nähe sich das Elternhaus (vermutlich) befindet. Der Vater Paul Euler entstammt einer aus Lindau am Bodensee nach Basel gezogenen Kammmacherfamilie, die Mutter Margarethe Brucker ist Tochter aus gutem Hause im Umfeld des alteingesessenen Basler Bildungsbürgertums. Leonhard ist ihr erstes von vier Kindern. Vater Paul wirkt als reformierter Pfarrer zunächst am Waisenhaus, dann zu St. Jakob an der Birs. 1708 übernimmt er die Kirchgemeinde in Riehen, wo Leonhard in recht engen Verhältnissen heranwächst. Früh schon kommt er mit Mathematik in Berührung und zeigt grosse Begabung, gefördert vom Vater, der nebst Theologe auch ein ausgezeichneter, von Jacob Bernoulli geschulter Mathematiker ist. Der Knabe besucht das Gymnasium auf dem Münsterplatz. Doch der Schulweg von Riehen nach Basel ist lang und die Eltern bringen Leonhard in Kost bei seiner Grossmutter in der Stadt unter. Den wegweisenden mathematischen Unterricht erhält er jedoch weniger am Gymnasium als durch den Privatlehrer Johannes Burckhardt.

Im Mindestalter von dreizehn Jahren beginnt er das Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Basel - und fällt schon bald durch sein Können auf. Namentlich Johann Bernoulli (Jacobs jüngerer Bruder), in Basel Professor, in Europa einer der berühmtesten mathematischen Köpfe, unterstützt ihn, etwa durch spezielle übungen, und anerkennt neidlos sein ausserordentliches Talent; erstaunlich bei einem sehr von sich selbst überzeugten Gelehrten wie Bernoulli, der keinen Prioritätenstreit scheut. Erst nennt er Euler noch lehrerhaft wohlwollend den «ingeniösen jungen Mann», später, als dieser anderswo seinen Weg macht, spricht er bewundernd vom «unvergleichlichen Fürsten unter den Mathematikern». 1724 schliesst Euler sein Grundstudium mit dem Titel eines Magisters, eines Doktors der Philosophie ab; Mathematik ist zu dieser Zeit in der Lehre noch eng mit Theologie und Philosophie verbunden.

Der junge Forscher tritt durch Vorträge und erste Veröffentlichungen hervor, unter anderem eine Abhandlung über günstigste Schiffsbemastung, für die er den zweiten Preis der Pariser Akademie der Wissenschaften erhält. Bezeichnend sind seine Schlussbemerkungen zu dieser frühen Arbeit: «Ich habe nicht für nötig gehalten, diese meine Theorie durch das Experiment zu bestätigen, denn sie ist ganz aus den sichersten und unangreifbarsten Prinzipien der Mechanik abgeleitet. (...)» Das Experiment schiebt er zwar doch noch nach, die Aussage aber verweist jetzt bereits auf die Basis seines späteren Lebenswerks: mathematische Prinzipien, beruhend auf der methodisch angewandten neuen, umwälzenden Infinite simalrechnung - bald schon von ihm vorgelegt mit seinem ersten grossen Werk über die Analysis der Mechanik.

Als in Basel der Physiklehrstuhl frei wird, bewirbt er sich 1727 auf Empfehlung seines einflussreichen Lehrers Johann Bernoulli mit einer Arbeit über den Schall. Aufgrund seiner Jugend erreicht der knapp Zwanzigjährige im komplizierten Wahlverfahren für die Professur jedoch nicht einmal die Endausscheidung. Mit einer Karriere in Basel wird wohl vorerst nichts. Doch jetzt lockt die eben eröffnete St. Petersburger Akademie der Wissenschaften als neues «Paradies der Gelehrten» mit Bedarf an Forschern aus Westeuropa. Basler sind bereits dort, der Bernoulli-Schüler Jacob Hermann, mit ihm Johann Bernoullis Söhne Nicolaus und Daniel, beide mit Euler befreundet. Es gelingt ihnen, ihm an der fernen Akademie eine Stelle zu verschaffen, und er folgt dem Ruf. Leonhard Euler verlässt Basel. Er wird in St. Petersburg nach drei Jahren Mathematikprofessor, dann Physikprofessor.

1733 heiratet er Katharina Gsell, die Tochter des in St. Petersburg arbeitenden St.-Galler Kunstmalers Georg Gsell. Dreizehn Kinder gehen aus der Ehe hervor, die fünf ältesten werden in Russland geboren; acht sterben früh und nur drei überleben den Vater. - Und Leonhard Euler kehrt nie mehr zurück, nicht aus Petersburg; auch nicht aus Berlin, als man ihm nach dem Tod Johann Bernoullis 1748 die Nachfolge an der Universität Basel anbietet, auch nicht, als sein Vater stirbt und er Mutter Margarethe zu sich nach Berlin holt. Er wird zum prominentesten Auslandschweizer seiner Zeit, zwar immer seiner Heimatstadt Basel und seiner Kindheitsstätte Riehen verbunden, aber von ferne. Ein Kosmopolit, der in Kontakt zu den wichtigen Akademien ein internationales Gelehrtennetz pflegt. In St. Petersburg erscheint seine zweibändige «Mechanica» als erste grundlegend analytische Mechanik in der Geschichte, ausserdem entstehen mehrere grosse Abhandlungen zu verschiedensten Gebieten, von der Schiffs- bis zur Musiktheorie, von unendlichen Reihen, der Variationsrechnung bis zur Bewegung der Himmelskörper.

Im «Paradies der Gelehrten» aber wirds ungemütlich. Auf den Tod von Kaiserin Anna folgen Wirren und Putsch, folgt Elisabeth I., unter der die vorher offene Akademie verstärkt russisch ausgerichtet wird. überdies brennt es in St. Petersburg sehr oft und Eulers Gattin möchte mit der Familie am liebsten weg. Da kommt eine Einladung Friedrichs II. von Preussen an die im Aufbau begriffene Berliner Akademie gerade recht. Euler nimmt an und übersiedelt 1741 nach vierzehn Jahren in Petersburg mit Frau und Kindern in die deutsche Grossstadt. Es folgen fruchtbare Jahre. Der geniale Mathematiker weitet seine Forschungsgebiete aus. Da Gutachten über eine Kanalnivellierung oder über Bergwerke, zur Lotterie oder zu den Wasserspielen von Sanssouci. Dort - gänzlich unvollständig aufgezählt - das in Berlin entstandene oder veröffentlichte Wesentliche zu Algebra, Mondtheorie, Zahlentheorie, Ballistik und Hydrodynamik. Mit der Lehrbuch-Trilogie über die Analysis des Unendlichen, die Differential- und die Integralrechnung, mit der Variationsrechnung als Meisterwerk über Extremalprobleme, mit seiner Wissenschaft der Funktionen weist er den Weg in die moderne Mathematik.

Die «Lettres à une Princesse d'Allemagne», in denen Euler naturwissenschaftliche und philosophische Bildung verknüpft, werden zum vielfach übersetzten Bestseller, übertroffen nur noch von seinem Standardwerk «Vollständige Anleitung zur Algebra», das später in St. Petersburg erscheint. Dorthin kehrt er mit der Familie 1766 zurück, einem Ruf von Katharina der Grossen bestimmt nicht ungern folgend. Denn hinter sich lässt er einen unseligen wissenschaftlichen Streit in Berlin (um das so genannte Prinzip der kleinsten Aktion), in dem er seltsame Partei ergriffen hat. Und hinter sich lässt er dort eine letzte Zeit, in der Friedrich der Grosse ihm die Leitung der Akademie verwehrte und diese zusehends französisierte, was dem frommen Euler mit seiner Aversion gegen die «Freigeister» keineswegs passen konnte.

Die zweite Petersburger Periode bringt Licht und Schatten. Er befindet sich, fürstlich entlöhnt, auf dem Gipfel seiner Karriere und ist produktiv wie selten. Hunderte von Arbeiten zu den verschiedensten Gebieten von Mathematik, Physik und Astronomie entstehen; dreibändige Integralrechnung, dreibändige Dioptrik, Mondtheorie, die für die Navigation von grösster Bedeutung wird. Euler, das glücklich forschende Genie, ist sprichwörtlich. «Ein Kind auf den Knien, eine Katze auf dem Rücken, so schrieb er seine unsterblichen Werke», wie Dieudonné Thiébault, sein Zeitgenosse in Berlin, schreibt. Doch 1771 erblindet der 64-Jährige nach einer misslungenen Staroperation fast vollständig. Schatten geworfen hat auch der frühe Tod mehrerer seiner Kinder. Dennoch arbeitet er unermüdlich weiter, schreibt ohne Augenlicht seine Formeln mit der Kreide auf grosse Tafeln, lässt sie von Assistenten in Bücher übertragen, diktiert. 1776, drei Jahre nach dem Tod seiner Frau Katharina, heiratet er deren Stiefschwester Salome Abigail Gsell. Am 18. September 1783 stirbt er nach einem Schlaganfall im Alter von 76 Jahren in St. Petersburg und wird dort begraben.

Dass Leonhard Euler bis heute wirkt, erhellen schon nur wenige Schlaglichter: Die Eulersche Zahl e als Basis des natürlichen Logarithmus tritt in Wachstumsprozessen der Biomasse wie im radioaktiven Zerfall, bei der Zellteilung wie auf dem Geldmarkt auf. Ohne seine Graphentheorie wäre die Architektur des Internets undenkbar. Seine Beschäftigung mit der undurchschaubaren Ordnung der Primzahlen führt zu Kodierungssystemen für elektronische Daten. Vor Eulers Schaffenskraft hat sich die Fachwelt schon immer verneigt. Sein Zahlengenie ist Legende - etwa in der Anekdote, er habe in einer schlaflosen Nacht die Potenzen der natürlichen Zahlen bis 20 berechnet, darunter auch achtstellige. Eine der wohl treffendsten Episoden aber gehört Riehen: Der kleine Leonhard, von seinen Eltern im Garten auf Hühnereiern sitzend entdeckt, habe gesagt, er wolle auch Hühnchen machen. Die Neugier, wie die Natur, wie die Welt funktioniert, leitete ihn - schon in Riehen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2007

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