Zum Abschied des Dorfpfarrers

Daisy Reck

Während dreissig Jahren war Paul Jungi als Pfarrer in Riehen tätig. Er tritt zurück mit Gefühlen der Dankbarkeit.

 

Wer ihm zum ersten Mal begegnete, hatte das Empfinden, hier sei eine Person soeben aus einem gotthelfschen Werk herausgetreten: Natürlich war es der Dialekt, welcher, auch nach Jahren fern vom heimatlichen Bernbiet, noch immer unverfälscht daherkommt, der diesen Eindruck mitprägte. Vor allem aber waren es die hohe, imposante Gestalt und die kraftvollen, seine Worte unterstreichenden Gesten, die zu solchen Eingebungen führten. Doch wer ihn dann näher kennen lernte, sich vom äusseren abkehrte und sich zum Inneren wandte, löste sich rasch von solchen Verknüpfungen. Denn sein Wesen ist so unkonservativ wie nur möglich und sein Lebenslauf in nichts mit Gotthelf verbunden.

 

Pfarrer Paul Jungi, über den wir hier schreiben, weil er in diesem Herbst nach dreissig Jahren von seinem Dienst an der Riehener Dorfkirche zurücktrat, wurde am 29. September 1944 im bernischen Köniz geboren und verbrachte seine Jugend in einer stark mit der Ovomaltine-Produktion der Wander AG verbundenen Familie, zusammen mit drei Brüdern, in Neuenegg. Hätte ihm, als er in Bern die Schulen besuchte, jemand gesagt, dass er einst Pfarrer werde, würde er völlig erstaunt reagiert haben. Denn seine Zukunftswünsche gingen in eine ganz andere Richtung. Chemiker wollte er werden. Er absolvierte deshalb eine Laborantenlehre und bereitete sich gleichzeitig berufsbegleitend auf die eidgenössische Matur in Basel vor. Bei einem fehlgeratenen Experiment während eines Praktikums zog er sich eine schwere Vergiftung zu, sodass ihm die Weiterführung einer Ausbildung in dieser Richtung verunmöglicht war. Er musste umsatteln. Und verspürte vorerst Neigungen zur Grafik und Architektur. Doch das überzeugte ihn nicht wirklich. Sein soziales Engagement und das Interesse an Philosophie überwogen. Als er von der Möglichkeit hörte, dass man an der kirchlich-theologischen Schule die fehlenden Kenntnisse in den alten Sprachen nachholen könne, entschied er sich für das Theologiestudium. Latein, Griechisch und Hebräisch lernte er deshalb relativ leicht, weil er sehr motiviert war und er sich die Sprachen in den Vorlesungen nicht bloss theoretisch erarbeitete, sondern weil sie sich in der Vorbereitung auf das Propädeutikum gleich mit Inhalt füllten. 1973 schloss er das Studium in Basel ab und absolvierte anschliessend das Vikariat an der psychiatrischen Universitätsklinik, weil er sich hier auf eine spezialisierte seelsorgerliche Tätigkeit vorbereiten konnte. 1975 wurde er Pfarrer bei der Schweizer Gemeinde in London. Diese Londoner Zeit prägte ihn für sein ganzes Leben. Denn hier traf er auf eine liberale Atmosphäre, getragen vom Gedanken der ökumene, zusammengesetzt aus den verschiedensten weltoffenen Richtungen. Schon damals versuchte er, seine Person zurückzunehmen, kein Kultpfarrer zu sein und die Botschaft des Evangeliums ins Zentrum zu stellen.

Drei Jahre später erhielt Pfarrer Paul Jungi einen Ruf nach Riehen und ein Stellenangebot an das Sekretariat des ökumenischen Rates in Genf. Aus familiären Gründen und weil ihm die Gemeinde eine Sekretärin bewilligte, entschied er sich für Riehen. Damit hatte sich alles so gut gefügt, dass es viele Jahre dauerte, bis das Amtsverhältnis durch die Pensionierung aufgelöst wurde. Für die Nachfolge von Paul Jungi wählte man das Pfarrehepaar Daniel und Martina HolderFranz. Es ist im Oktober 2009 ins Pfarrhaus eingezogen und wird der Gemeinde gemeinsam vorstehen.

Es war im August 1978, als Paul Jungi als zukünftiger Pfarrer zum ersten Mal in der Dorfkirche predigte. Und es war im Oktober 1979, als die Installationsfeier stattfand. Ganze dreissig Jahre hat hernach die Tätigkeit gedauert. So lange für eine Gemeinde zu sorgen, ist sehr ungewöhnlich. Pfarrer Jungi sagt, das sei aus verschiedenen Gründen möglich gewesen. Vor allem darum, weil Riehen als Grossgemeinde in drei Pfarrämter aufgegliedert ist und sich jeder Einwohner und jede Einwohnerin individuell einen Seelsorger auswählen kann, welcher der eigenen Vorstellung entspricht. Pfarrer Jungi brauchte deshalb nie das Gefühl zu haben, es jedem und jeder recht machen zu müssen. Niemand gab ihm deshalb auch je zu verstehen, dass er mit seinen Eigenheiten anecke. Man liess sich gegenseitig leben, es herrschte eine grosse Kontinuität und Paul Jungi konnte sich auf das abstützen, was er selbst aufgebaut hatte und was ihm äusserst wichtig war: auf die Haus- und Bibelgesprächskreise. Ohne das Pfarrteam und die vielen freiwilligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sich in Gemeinschaft und grosser Anteilnahme am Gemeindeleben engagierten und Glaubensfragen offen diskutierten, wäre er nie so lange geblieben. Er freute sich an der Lebendigkeit der Gemeinde und an der Aussage eines Gemeindegliedes: «Ein sechsfaches Seil reisst nicht so schnell. Die Zusammenkunft im Hauskreis möchte ich nicht mehr missen.»

Gross war auch Pfarrer Jungis Bekenntnis zur ökumene. Lange war es möglich, dass am Mittwoch in der Dorfkirche Gottesdienste durchgeführt werden konnten, bei denen abwechselnd ein evangelischer und ein katholischer Geistlicher Abendmahl oder Eucharistie feierte. Dazu waren jeweils alle Anwesenden eingeladen. Dieses Herzstück des christlichen Glaubens zusammen zu erleben, verband viele in dankbarer Gemeinschaft über Jahre. Dass das nach 2005, nach neuen Weisungen aus Rom, nicht mehr möglich war, bekümmerte Pfarrer Jungi sehr. Es war für ihn eine Enttäuschung und ein Rückschritt. Schmerzhaft war für ihn auch, dass ein Versuch, eine Begegnung mit dem Islam herbeizuführen, der sich anfänglich erfolgreich anzubahnen schien, unversehens scheiterte. Der verantwortliche Iman konnte sich nämlich einen Dialog unter Einbezug von Frauen nicht vorstellen. Weil es jedoch gerade die Frauen gewesen waren, die an solchen Gesprächen Interesse gezeigt hatten, war kein Kontakt möglich. Umso unbeirrter versuchte Pfarrer Jungi das zu vermitteln, für was er eintrat. Es sind die vier Säulen, auf die sich die weltweite Kirche abstützt und zu denen sie sich stets bekannte: die Leiturgia, mit Freude Gottesdienst feiern, die Koinonia, mit Freude Gemeinschaft leben, das Martyria, mit Freude das Evangelium bezeugen, und die Diakonia, mit Freude dienen.

Was Pfarrer Jungi ebenfalls dazu bewog, seine Amtsstelle während dreissig Jahren nicht zu wechseln, war die Stimmigkeit Riehens. Er spürte hier eine Offenheit für christliche Werte und eine positive Vernetzung mit den politischen Institutionen. Das Fürsorgewesen in Zusammenarbeit zwischen Einwohner- und Kirchgemeinde war für ihn einmalig. Obwohl sich während der drei Jahrzehnte ein starker Strukturwandel vollzog, hatte Paul Jungi immer das Gefühl, dass die Kirche wahrgenommen wurde und er einer interessierten und lebendigen Gemeinde dienen konnte. Dies führte auch dazu, dass nach der Predigt jeweils ein Kaffeetreffen stattfand. Die Menschen fanden sich hier im Gespräch zusammen.

Man kann sich kaum vorstellen, dass dieser Kirchenkaffee (Bild links) nach dem Rücktritt von Paul Jungi wieder verschwindet, denn er ist eine Tradition geworden. Riehen wird sich dabei noch einige Zeit an den eigenwilligen, etwas unkonventionellen, sich nicht in ein starres System einfügenden Seelsorger erinnern. Was er nach seiner Pensionierung tun wird, ist ebenfalls nicht identisch mit dem konventionellen Bild, das sich mit einem Pfarrer verbindet. Paul Jungi hat sich nämlich ein Wohnmobil gekauft und wird sich einen Wunsch erfüllen. Er wird gemeinsam mit seiner Frau damit vorerst Amerika bereisen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2009

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