Zwei interessante Landhäuser der Jahrhundertwende

Rolf Brönnimann-Burckhardt

Architekt Gustav Adolf Visscher van Gaasbeek

Unter den führenden Basler Architekten der Jahrhundertwende ist Gustav Adolf Visscher van Gaasbeek eine der originellsten Gestalten. Der 1859 auf Java als Sohn eines hohen niederlänischen Regierungsbeamten geborene Visscher kam 1895 nach Basel, wo er Mitarbeiter von Rudolf Linder, dem Begründer der Basler Baugesellschaft, wurde. Um 1900 assoziierten sich die beiden. Schon 1911 starb Visscher an einer schweren Krankheit.

Visscher hätte für den Beginn seines architektonischen Schaffens in Basel keinen besseren Zeitpunkt auswählen können. Eine hektische Bautätigkeit sowohl in der Altstadt als auch in den neuen Quartieren war im Gang. In der Innerstadt nahm die Citybildung ihren Fortgang. Die Korrektion der oberen Freien Strasse wurde 1895, also im gleichen Jahr, in dem Visscher nach Basel kam, in Angriff genommen. Die überbauung der neuen Quartiere ausserhalb der einstigen Stadtbefestigung ging ihrem Ende entgegen. Visscher erwischte gerade noch die Endphase des Baubooms. Betrachtet man die ziemlich in der ganzen Stadt verstreuten Zeugnisse seines Wirkens, darf man ruhig feststellen, dass Visscher die damalige Architekturszene ungemein belebt und bereichert hat. Visschers Temperament, gepaart mit einer hohen künstlerischen Begabung — Visscher hatte in seiner Jugend geschwankt, ob er Musiker, Maler oder Architekt werden wolle —, liess Leistungen entstehen, die den baslerischen Rahmen sprengen. Dazu kommt, dass Visscher beiden meisten seiner Entwürfe seine niederländische Herkunft nicht verleugnen konnte. Es ist daher, wenn man die damalige Basler Architektur einigermassen kennt, nicht allzu schwer, ein Werk Visschers als solches zu erkennen, auch aus der Zeit der Zusammenarbeit mit dem ebenfalls begabten, aber doch ganz anders gearteten Rudolf Linder. Was Visscher für die Forschung besonders interessant macht, ist, dass sein auf nur sechzehn Jahre zusammengedrängtes Werk unter dem Einfluss dreier europäischer Architekturströmungen entstand. Als Visscher nach Basel kam, ging der Historismus, d. h. das Bauen in den überlieferten europäischen Stilformen, seinem Ende entgegen. Der Jugendstil, eine Gegenbewegung, benannt nach der Münchner Zeitschrift «Jugend», hatte ihm den Kampf angesagt. Doch während sich der Historismus je nach Gegend immerhin fünfzig bis achtzig Jahre hatte halten können, hauchte der Jugendstil bereits nach etwa zwanzig bewegten Jahren sein Leben aus. Was 1910 folgte, kann man als nationale Romantik bezeichnen. Es ist dies eine Vorstufe der Bauhausbewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg die Moderne einleitete.

Aus der Spätzeit des Historismus hat Visscher Bedeutendes hinterlassen. Am bekanntesten dürfte die neugotische Safranzunft von 1902 sein. Es ist typisch für die Architekturauffassung des Historismus, dass Architekten und Bauherren je nach Bauaufgabe einen bestimmten Stil bevorzugten. Visscher machte da keine Ausnahme. So verwendete er für Geschäftshäuser in der City mit Vorliebe den Barock, nicht selten mit einem niederländischen Einschlag. Die leider abgebrochenen Häuser «Sodeck» und «Sonne», beide ehemals an der Freien Strasse, sind schöne Beispiele für neobarocken überschwang mit Werbefunktion. Aus naheliegenden Gründen griff Visscher bei grossbürgerlichen Villen und Einfamilienhäusern ebenfalls auf den repräsentativen Barock zurück. Beispiele dafür finden sich an der St. Jakobstrasse 34, am Hirzbodenweg 81—91, an der Wartenbergstrasse 45—49, an der Sevogelstrasse 51—53 und an der Pilgerstrasse 13—19. Bis auf wenige Ausnahmen konnte der Jugendstil in Basel nie richtig Fuss fassen. Auch Visscher machte, abgesehen von einer Ausnahme, die Bewegung nicht mit. Nur den Kunstpavillon der Basler GeWerbeausstellung von 1901 auf der Schützenmatte wagte Visscher im neuen Stil zu bauen. Die grossen Ausstellungen waren schon damals Experimentierfelder für Architekten und Ingenieure. Durch den Verzicht auf den Jugendstil im Wohnhausbau blieben Visscher nach 1900 zwei Wege offen. Er konnte wie die meisten seiner Basler Kollegen weiterhin in historischen Stilen bauen oder sich der eben aufkommenden Bewegung gegen den Jugendstil, der als nationale Romantik bezeichneten Richtung, zuwenden. Visscher tat beides. Er fuhr auf zwei Geleisen.

Die längst abgebrochene elegante Villa mit Mittelrisalit und Stichbogenfenstern am Lindenweg 15 stand noch ganz in spätbarocker Tradition. Obschon Visscher die neuesten Tendenzen in der Architektur kannte, besass er genügend Flexibilität, um den Wünschen eines konservativen Bauherrn zu entsprechen. Wo er freie Hand hatte, suchte er unkonventionelle Lösungen. So erstellte er 1902 Ecke Pilgerstrasse/Nonnenweg ein burgartiges Wohnhaus mit Anklängen an Spätgotik und Renaissance. Neu war daran die von der innern Funktion diktierte unregelmässige Anordnung der Fensteröffnungen, also die Abkehr von der reinen Fassadenarchitektur. In eine ähnliche Richtung weist die 1897/ 1901 entstandene Häuserzeile am Hirzbodenweg 86—102 hin. Der englische Einfluss ist unverkennbar. Fachwerkgiebel, Erker und plastischer Schmuck aus dem Formenschatz des Tudor verleihen den Häusern ein malerisches Aussehen. Aus England kamen damals auch die Impulse, die zur überwindung des Jugendstils, dessen Ursprung ebenfalls in England liegt, führten. Eine Bewegung, bekannt als Domestic Revival, versuchte mit Erfolg, zwischen 1860 und 1900 dem Wohnhausbau eine neue Richtung zu geben. Ihr wichtigster Vertreter, Richard Norman Shaw, orientierte sich dabei am kleinen englischen Land- und Stadthaus des späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts. Schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich auf dem Kontinent die Mode verbreitet, Villen im Stile altenglischer Landhäuser, sogenannte Cottages, zu bauen. Das leider abgebrochene «grüne Schlösschen» an der Gellertstrasse von Johann Jakob Stehlin d. J. war ein Beispiel dafür. Während es den Bauherren und Architekten der frühen Cottagebewegung mehr um die oberflächliche Anwendung englischer Stilformen ging, erstrebte das Domestic Revival den Einklang der Häuser mit der umgebenden Landschaft. Das Verdienst, die Grundsätze dieser Bewegung mit Erfolg auf dem Kontinent verbreitet zu haben, kommt Hermann Muthesius zu. Dieser, Architekt von Beruf, studierte während seines Aufenthalts als Angehöriger der deutschen Botschaft in London von 1896 bis 1903 englische Architektur und Design. Das Ergebnis war das Standardwerk «Das englische Haus» (1904). Weitere Arbeiten wie «Das moderne Landhaus und seine innere Ausstattung» (1905) und «Landhaus und Garten» (1907) folgten. Auf die wichtigsten Forderungen von Muthesius sei kurz eingegangen. So verlangt dieser die Abkehr von der repräsentativen Villa im historischen Gewand. Wichtiger sei die Rücksichtnahme auf klimatische Bedingungen und die Anlehnung an überlieferte ländliche Bauformen. Ein nach diesen Gesichtspunkten entworfenes Landhaus mit freier funktioneller Grundrissgestaltung diene den Bedürfnissen des modernen Menschen. Die Stellung des Hauses sei nach der Sonne auszurichten. Der Garten sei als integrierender Teil des Hauses zu behandeln. Nach diesen Forderungen baute Visscher in Riehen zwei Landhäuser. Das Basler Villenviertel des neunzehnten Jahrhunderts, der Geliert, war um die Jahrhundertwende beinahe überbaut, so dass Bauherren und Architekten nach neuen Baugeländen Ausschau halten mussten. Immer schlechter werdende Lebensbedingungen in den Großstädten bewirkten um diese Zeit eine Stadtflucht der sozial gehobenen Schichten. In diesem Zusammenhang steht auch die Gartenstadtbewegung, die ebenfalls in England ihren Ursprung hatte. Obschon die Verhältnisse in Basel, verglichen mit denen ausländischer Grossstädte, harmlos waren, setzte auch hier der Zug aufs Land ein. Der nur 37 km2 umfassende Stadtkanton besass im untern Wiesental, zwischen Riehen und der Stadt, noch grössere Freiflächen. In diesem klimatisch und landschaftlich bevorzugten Gebiet legten reiche Bürger schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert feudale Landsitze für den Sommeraufenthalt an. Die Entwicklung zum Wohnvorort der Stadt jedoch setzte erst 1908 mit dem Bau der Trambahn richtig ein.

Landhaus «Zum Tschäck»

Das nach einer alten Flurbezeichnung benannte Haus «Zum Tschäck» liegt auf einem nach zwei Seiten abfallenden Grundstück an der Ecke Bettingerstrasse/Hirzenstrasse. Das 1898 erstellte Landhaus ist für baslerische Verhältnisse aussergewöhnlich modern, entspricht es doch — sowohl in seiner äussern Erscheinung als auch in seiner innern Organisation — bereits den Forderungen, wie sie Hermann Muthesius einige Jahre später in seinen Schriften aufstellte, also Abkehr vom Historismus und Rücksichtnahme auf lokale klimatische und historische Gegebenheiten. Ein tief heruntergezogenes Walmdach verleiht dem zweigeschossigen, breit hingelagerten Bau ein behäbig bäuerliches Aussehen. Dieser Eindruck wird durch die braunrote Fachwerkkonstruktion und eine Laube im ersten Stock noch verstärkt. Stilistische Anleihen findet man sozusagen keine mehr. Aus dem Formenschatz der Spätgotik stammen die beiden dreiteiligen Koppelfenster auf der Nord- und der Südseite im Erdgeschoss. Einspringende Ecken, ein polygonaler Eckerker und der halbkreisförmige, balkontragende Esszimmerausbau auf der Südseite lassen den Baukörper unregelmässig, um nicht zu sagen unübersichtlich, erscheinen. Es wurde also das Gegenteil von Würde und Repräsentation angestrebt. Das Haus wurde von innen nach aussen gebaut und damit ein Höchstmass an Funktion und Wohnlichkeit erreicht, und das zu einer Zeit, in der Bürgerhäuser in der Gestalt von Loireschlösschen und Ritterburgen noch gang und gäbe waren. Wie schon angedeutet, ist der Grundriss klar und funktionell. Durch den an der Nordseite liegenden Eingang gelangt man in eine geräumige Halle mit dem Treppenaufgang zum Obergeschoss. Von hier aus sind das südwärts liegende Empfangs- und das Esszimmer sowie das ostwärts orientierte Wohnzimmer zu erreichen. Der westwärts gelegene Küchentrakt ist durch einen Garderobenraum von der Eingangshalle getrennt. Im Obergeschoss liegen gegen Süden und Osten vier verschieden grosse Schlafräume. Auf der Nordseite befinden sich Treppenhaus, Toilette und Bad. Im Estrich sind ein Atelier und eine Mägdekammer untergebracht.

Der heutige Zustand des Landhauses «Zum Tschäck» gibt nicht mehr ganz den originalen Eindruck wieder. Beim Umbau von 1920 durch die Firma Burckhardt-Wenk wurde die einfache, wuchtige Form des Daches durch einen Giebelausbau auf der Südseite beeinträchtigt. Zugleich wurde an der Nordostecke der eine der beiden polygonalen Erker entfernt und eine Veranda angebaut. Dieser Eingriff ist der schwerwiegendste, da er das Gleichgewicht der vordem sehr ausgewogenen Nordfassade empfindlich stört. Weniger schlimm ist der Ausbau des mittleren, südwärts gelegenen Schlafraumes im Obergeschoss auf Kosten der ursprünglich dreiseitig umlaufenden Laube. Da dem Schreibenden eine Begehung des Hauses nicht erlaubt wurde, kann hier leider auf die innere Ausstattung nicht eingegangen werden.

Landhaus «Z'alle Winde»

Ebenfalls in Hanglage baute Visscher 1909/10 am Wenkenhaldenweg das Landhaus «Z'alle Winde». Dieses, das letzte Werk Visschers, hat nicht viel gemeinsam mit dem elf Jahre ältern «Tschäck». Auf dem zweigeschossigen klaren Baukörper sitzt ein hohes Walmdach, in das Schleppgaupen eingeschnitten sind. Die Verteilung der hochrechteckigen Fenster mit kräftigen Natursteineinfassungen ist regelmässig. Der Erker an der strassenseitigen Schmalseite, der leicht aus der Fassadenflucht vortretende Küchentrakt (später entfernt) an der Ostseite und der Veranda-Terrassenvorbau an der Westfassade mögen kaum die ruhig-einheitliche Wirkung des Baukörpers beeinträchtigt haben. Im Gegensatz zum «Tschäck», bei dem das ganze Repertoire der romantisch-ländlichen Bauelemente wie Fachwerk, Lauben usw. zur Anwendung gelangte, verzichtete Visscher hier auf dergleichen. Das hohe, steile Walmdach und Format und Verteilung der Fenster erinnern ein wenig an einen Landhaustyp, wie er im 17. Jahrhundert in unserer Gegend vorgekommen ist. Der Grundriss war klarer als beim «Tschäck». Vom Eingang, der ursprünglich an der nördlichen Schmalseite lag, gelangte man ins Entrée und von da zur zentral gelegenen Treppenanlage, die Bestandteil einer geräumigen Halle mit Blick auf den Garten war. Von der Halle aus erreichte man Salon, Wohnzimmer und Esszimmer, die nach Süden und Westen orientiert waren. An der Ostseite lagen Küche und Office. Im ersten Stock befanden sich das Elternschlafzimmer, drei Kinderzimmer und ein Gastzimmer.

Das Landhaus «Z'alle Winde» präsentiert sich heute nicht mehr in seiner ursprünglichen Gestalt. Der jetzige Besitzer liess bei einer Renovation in den Sechzigerjahren aus Gründen der bessern Bewohnbarkeit grundrissliche änderungen vornehmen. In diesem Zusammenhang wurde der Eingang von der Nord- auf die Ostseite verlegt. Der an der Ostfassade vorspringende Küchentrakt mit Balkon wurde entfernt und die Ostfassade neu gegliedert. Auf der Westseite wurde die balkontragende verglaste Veranda beseitigt. Der jetzige, von gemauerten Stützen getragene Balkon lehnt sich in seinen Abmessungen an seinen Vorgänger an und beeinträchtigt daher den Charakter des Bauwerks nicht. Alle anlässlich der letzten Renovation vorgenommenen Veränderungen lassen Rücksichtnahme auf die Eigenart des Bauwerks erkennen und weisen auf ein beachtliches Einfühlungsvermögen hin.

Mit dem Landhaus «Z'alle Winde» verliess Visscher eindeutig den Stil der nationalen Romantik zu Gunsten einer klaren, massvollen und funktionell ausgerichteten Bauweise, wie sie dann nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Einfluss des Weimarer Bauhauses in Europa allgemein Verbreitung fand. Visscher erweist sich auch hier wieder für Basler Verhältnisse als ungewöhnlich fortschrittlich, wenn man bedenkt, dass noch um 1910 etliche Basler Architekten Bauten in historischen Stilen oder in zaghaftem Jugendstil erstellten.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1977

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