Aus dem Leben einer Grenzgängerin

Daniel Hagmann

Elisabeth Sehmid-Utz (1910-2008) war eine eigenwillige Frau. Ihr ganzes Leben lang berührte sie Grenzen: zwischen Riehener Wohnsitz und Inzlinger Verwandtschaft, zwischen Lebenslust und Familienpflichten, zwischen Frauenrolle und Emanzipation.

Geboren wurde Elisabeth Schmid-Utz in Basel. Ihre Eltern waren eingewanderte Deutsche aus Oberwangen im Schwarzwald und aus Inzlingen, wo die Mutter zahlreiche Verwandte und Landstücke besass. Mit der Volljährigkeit wurde Betty, wie die junge Frau sich damals nannte, Basler Bürgerin. Laut sang sie mit, sobald die Wiesentalbahn, vom Belchen herkommend, die Grenze bei Stetten überquert hatte: «So längs no Chrut und Chnöpfli git, verrecke die chäibe Schwoobe nit.» Grund zur Abgrenzung gegen das nationalsozialistische Deutschland gab es in den 1930erJahren genug. Zwar zog Betty selbst die Grenze zwischen den Staaten, nicht zwischen den Menschen, nicht zwischen ihren Verwandten dies- und jenseits des Stacheldrahtes. Doch der Zweite Weltkrieg nationalisierte Identitäten und Schicksale.

Elisabeth Schmid-Utz erinnerte sich im Gespräch: «Meine Cousine aus Inzlingen, eine hübsche, schlanke Frau, war verlobt mit einem SS-Mann. Der Bursche hatte keine Arbeit, ging zum Militär und kam so zur SS. Vielleicht nicht freiwillig, aber er benahm sich sehr ekelhaft. In Inzlingen lief er einmal an Weihnachten in die Kirche und schrie: <Hier feiert man keine Weihnachten!» Nach dem Krieg suchte meine Cousine eine Stelle in Basel. Obwohl sie nirgends dabei gewesen war, auch nicht beim Bund deutscher Mädchen, erhob die Fremdenpolizei Einsprache. Zwar bekam sie eine Stelle bei einer jüdischen Familie. Dort blieb sie aber nicht lange, dann intervenierte die Fremdenpolizei und sie musste wieder zurück ins Deutsche.»

Schmuggler-Grenzen

Während des Zweiten Weltkrieges erhielt die Landesgrenze eine neue, bedrohliche Bedeutung. Unterbrochen war nun der bisherige Grenzverkehr, das heisst die alltägliche Grenzmissachtung. Denn unverzollter Warentransport besass in der Familie Utz eine Tradition. Schon Elisabeths Grossvater schmuggelte Zucker aus der Schweiz, den er zum Schnapsbrennen brauchte. Morgens ging er hinüber in die Riehener Aumatten, als ob er Futtergras holen wolle. Den Zucker lud er in den Grassack und spazierte damit wieder beim Zollhaus vorbei. In Inzlingen schüttete er den Zucker sofort ins Brennfass. Wenn nur Minuten später der Zollbeamte vor der Haustür stand, war nichts mehr zu finden. Auch Elisabeth machte früh Bekanntschaft mit der Staatsgewalt. Als sie, etwa zehnjährig, für ihren Grossvater Kautabak nach Inzlingen hinüberschmuggeln sollte, versteckte sie ihn unter dem Gummiband ihrer Pump-Unterhosen. Auf die Frage des Zöllners schüttelte sie den Kopf: «Damals konnte ich gut lügen, das musste man nicht beichten. Doch da hob er mein Röcklein hoch, um nachzusehen. Das war natürlich furchtbar, ich heulte den ganzen Weg bis nach Hause. Den zeigten meine Grosseltern dann an.»

Behördenwillkür war keine seltene Erfahrung. Als nach dem Krieg die Grenze wieder geöffnet wurde, vernahm Elisabeth Schmid-Utz, dass drüben beim Maienbühl auf ihrem Landstück die Kirschen reif seien - und dass dort Schweizer am Pflücken seien. «Da dachte ich, wenn die über die Grenze können, können wir auch. So ging ich mit meinen Kindern zum Maienbühl hinauf, der Stacheldraht war ganz niedergetrampelt, wir schlichen durch das hohe Gras. Plötzlich rief einer: <Halt! Halt!> Jetzt war das ein französischer Soldat. Sofort begann ich Französisch mit ihm zu reden: <Wir wollen da an den Baum, chercher des cerises.» Wer ich denn sei? Eine Verwandte von der Frau M., aha, ja, die kenne er. Wir gingen gemeinsam hinüber zu unserem Landstück und da sah ich oben auf der Leiter den schweizerischen Postenchef des Zolls. Der rief hinunter: <Wo wollt ihr hin?» Ich antwortete in giftigem Ton: <Auf unseren Baum wollen wir, Kirschen pflücken, gerade auf den Baum, wo Sie sind.» <Was, was», schnappte er, der Kratten voller Kirschen fiel ihm hinunter vor Wut. Er stieg vom Baum und fragte, ob ich einen Ausweis habe. <Nein», gab ich zur Antwort, <aber haben Sie einen?» In Zivil war er, auf fremdem Boden! Er wusste ganz genau, dass ich ihn kenne. Deshalb schwieg er und sagte nur, auf dem Rückweg müsse ich unten beim Zollhaus vorbei. Nach zwei Stunden gingen wir heimwärts und als ich bei ihm vorbeikam, sagte ich: <Aha, jetzt erkenne ich Sie, jetzt kann ich mit Ihnen reden. Aber ich will mich mal in Bern erkundigen, wie das eigentlich ist.» Meine Eltern hatten eine Riesenwut, als sie das hörten. Denn sie mussten immer unten beim Zollhaus vorbei und denen den <Schmuus> bringen.»

Zivilisations-Grenzen

Von ihrer Kleinbasler Wohnung zog Elisabeth Schmid-Utz 1942 nach Riehen - und zwar ganz an den Rand. Ihr Gatte Emil hatte im Auftrag seiner Schwiegereltern zuunterst am Hungerbachweg ein Zweifamilienhaus gebaut. Die Gegend dort war praktisch noch unbesiedelt, vom historischen Siedlungskern durch Matten und Gärten getrennt: «Früher wohnten wir in der Stadt am Riehenring. Wenn ich dort das Fenster aufmachte, schauten von überall Leute her. Im Hinterhof gab es Frauen, die mit dem Fernrohr umherspähten. Kurzum, ich fühlte mich unfrei. Als wir nach Riehen hinauskamen, war nebenan nur ein einziges Haus. Einmal stand ich morgens auf, zog das Nachthemd ab, ging ans Fenster und rief: <Mmmh, die gute Luft!» Plötzlich hörte ich sagen: <Guten Tag.» Da stand ein Zöllner im Gräblein des Hungerbachs.»

Der Krieg machte die Randlage zur Grenzlage. Bedrohlich wurde die Lage zum Beispiel im Sommer 1943. Schon seit Tagen kursierten Gerüchte über eine Invasion der deutschen Armee. Elisabeth Schmid-Utz hatte in der Stadt zu tun. Als sie mit dem Rad über die Mittlere Brücke fuhr, bemerkte sie erste Anzeichen von Drahtverhauen. Schnell erledigte sie ihre Geschäfte, schwang sich aufs Velo und wollte heim. Doch inzwischen war die Brücke abgesperrt, nur knapp kam sie vorbei. Kurz vor dem eigenen Haus in Riehen hielt sie ein Grenzsoldat an. Hier könne sie nicht weiter, sie müsse mit auf den Posten. Nur energischer Protest half.

Belastend war die Grenznähe in jenen Jahren auch aus anderen Gründen. Die behördliche Schweiz hatte die Grenzen dicht gemacht und liess keine Flüchtlinge mehr ins Land. Dennoch fanden immer wieder Verzweifelte den Weg über die grüne Grenze nach Riehen, klopften bei den ersten Häusern in der sicheren Schweiz an. Plötzlich stand auch bei Elisabeth Schmid-Utz jemand im Garten, bat um Hilfe. Was tun? Später bereute sie, dass sie dem Flüchtling nur über Nacht Zuflucht bot und ihm am nächsten Tag - wie vorgeschrieben - den Weg zum Polizeiposten wies und damit unwissentlich zurück ins Verderben. Aber damals? Eine Heldin sei sie nicht gewesen.

Familien-Grenzen

In der Nachkriegszeit wuchsen in der Nachbarschaft immer mehr Häuser empor. Ein eigenständiges Quartierleben kam jedoch nur langsam in Gang. Elisabeth Schmid-Utz war sehr nach der Stadt hin orientiert, die Randlage wurde für sie zunehmend hinderlich. 1994 zog sie ins städtische Geliert Quartier. Von dort aus war sie wieder in wenigen Minuten im Theater, in den Museen wie vor ihrer Zeit als Familienfrau und Riehener Einwohnerin.

Wenn sich Elisabeth Schmid-Utz im Gespräch an ihr Leben erinnerte, hob sie immer die Veränderungen hervor, die ihrem Umzug nach Riehen vorausgingen. Mitte der 1930erJahre war sie eine berufstätige junge Frau im Kreise städtischer Künstler gewesen - nach 1942 lebte sie als Mutter von drei Kindern mit Ehemann im Aktivdienst isoliert am Rande Riehens. Erst in den 1960er-Jahren, als die Kinder ausgezogen waren, erwachte ihre alte Unternehmungslust wieder. Bis ins hohe Alter unternahm sie Ausflüge und Reisen, gemeinsam mit ihrem Ehemann und nach dessen Tod 1979 mit ihren Freundinnen. Selbstbewusst und selbständig war sie schon als junge Frau gewesen; doch in den 1930er-Jahren waren die Eherollen noch klar verteilt gewesen: «Letzthin sagte mir eine Freundin, wenn ihr Mann noch lebte, der täte sich entsetzen: Die Steuererklärung muss jetzt auch von der Frau unterschrieben werden. Das machten früher die Männer immer alleine. Als Frau durfte man vieles einfach nicht wissen. Bei einem selbständig Erwerbenden wie meinem Mann war es noch schwieriger. Ich wiederum war nicht jemand, der nachgebohrt hätte. Emil hatte einmal einen Bauauftrag und dem Bauherrn ging das Geld aus. Da sagte dessen Frau: (Ich habe ja noch Landbesitz von meinen Eltern.) Als sie aber aufs Grundbuchamt nachschauen ging, war das Land schon lange weg, ihr Mann hatte das verkauft.»

Kennen gelernt hatten sich Elisabeth Utz und Emil Schmid Ende der 1920er-Jahre. Obwohl sie seit 1931 fest miteinander liiert waren, heirateten sie erst 1937. Sie habe einfach keine Lust zum Heiraten gehabt, habe noch etwas erleben wollen, erzählte Elisabeth Schmid-Utz später. So wie zum Beispiel 1930, als die Zwanzigjährige ein Jahr lang als Erzieherin der Kinder einer Contessa in Venedig lebte. Auch wenn ihr die Arbeit im VSK-Büro an der Thiersteinerallee wenig behagte: Heiraten bedeutete, die Berufstätigkeit aufzugeben und den Freundeskreis in der Kunsthalle, rings um die Künstler der «Gruppe 33», wo sie nächtelang über Kommunismus und Kunst diskutierten.

Freiheits-Grenzen

Gerne wäre Elisabeth Schmid-Utz Fotografin geworden, doch dafür hatte ihre Mutter kein Verständnis. Auch Bibliothekarin brauchte Tochter Betty nicht zu lernen, Haushaltshilfe genüge, hiess es. Nach ihrer Rückkehr aus Venedig begann sie in der Huberschen Handelsschule eine Sekretärinnenausbildung. Aber auch als Berufsfrau mit Diplom war es nicht einfach. Entweder mutete man ihr zu, für einen Hungerlohn die ganze «Drecksarbeit» zu verrichten, oder dann galt es sich gegen einen Vorgesetzten zu wehren, der um sie herum scharwenzelte. Es gelang Elisabeth SchmidUtz nicht, die Grenzen jener Frauenrolle zu überschreiten, die ihr das Elternhaus und die Gesellschaft gezogen hatten. Ihre Brader hingegen machten Karriere. Eisenbahnerkinder gehören nicht ans Humanistische Gymnasium, hiess es zwar in den 1920er-Jahren. Dennoch schaffte es der eine Bruder, Professor für Sozialethik und Ordenspriester zu werden. Der andere Bruder stieg innerhalb des Ciba-Managements auf.

In vielem folgte der Lebenslauf von Elisabeth Schmid-Utz demjenigen ihrer Mutter. Diese war eine intelligente und belesene junge Frau gewesen, eine Ausbildung zur Lehrerin blieb ihr aber verwehrt. Auch mit Vergnügungen in der raren Freizeit war es nicht weit her: «Der Vater meiner Mutter hatte bei der (Eisernen Hand> eine Steingrube und verdiente damit viel Geld. Am Sonntag spannte er jeweils das Kütschlein an und fuhr mit den Töchtern ins Markgräflerland. Aber mein Vater war ein Schwarzwälder, schwerblütig, er ging nie aus. Meine Mutter war eine schöne Frau und Sich selbst bezeichnete Elisabeth Schmid-Utz nie als emanzipiert. Im Gespräch mit ihren Enkelkindern kam sie oft auf die Freiheiten späterer Generationen zu sprechen, nicht ohne Bedauern. Mit ihrer Meinung zu politischen und gesellschaftlichen Themen hielt sie nicht hinter dem Berg zurück, doch sie kannte ihre Grenzen: «Das muss man sich mal vorstellen! Im Pelzmantel stand ich oben an der Freien Strasse in Basel und verteilte Flugblätter für das Frauenstimmrecht. Ich muss ausgesehen haben wie eine jener Bürgersgattinnen, die <etwas mitmachen). Es war halt bitterkalt und ich habe mir nichts dabei gedacht.» Damals in den 1950er-Jahren warb sie vor allem im Bekanntenkreis für das Frauenstimmrecht. Die später berühmten Aktivistinnen kannte sie nur vom Sehen. «Ich war keine Revolutionärin. Nur Avantgardisten und Künstler sind ihrer Zeit voraus.»

Elisabeth Schmid-Utz starb 2008 im Altersheim Humanitas an der Riehener Inzlingerstrasse, wo sie seit 2003 wohnte. Sämtliche Zitate stammen aus Gesprächen, welche Elisabeth Schmid-Utz mit ihren Enkelkindern Daniel und Sabine Hagmann führte. Daraus entstanden die künstlerische Installation und die Postkartenedition «Memory. Begegnung mit Elisabeth S., geboren 1910», welche 1999 im Spielzeug-, Dorf- und Rebbaumuseum Riehen zu sehen war.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2009

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