Ein folgenschwerer Sprung in die Freiheit 


Gaspare Foderà


Eine Frau springt ein halbes Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus einem fahrenden Zug und bleibt mit schwersten Verletzungen in Riehen liegen. Dieses Unglück erweist sich für sie langfristig aber als riesiger Glücksfall.


Es war am 13. November 1944 gegen sechs Uhr früh: Eine junge Frau bestieg in Lörrach-Stetten den Zug nach Basel ohne Fahrschein. Auf der Höhe der Bettingerstrasse in Riehen sprang sie plötzlich aus dem fahrenden Wagen. Unglücklicherweise wurde sie auf die Barriere geschleudert und sehr schwer verletzt. Der von der Reichsbahn angestellte Barrierenwärter, der das Geschehen beobachtet hatte, wollte sie ins Wärterhäuschen hineinzerren, das sich auf deutschem Hoheitsgebiet befand. Eine Riehener Zeitungsfrau kam ihm aber zuvor, zog die Schwerverletzte von der Schranke weg und brachte sie ins Diakonissenspital. 


Diese Zusammenfassung eines tragischen Ereignisses klingt so spannend wie der Klappentext eines Kriminalromans: Wer möchte da nicht mehr erfahren?


Wer war die Frau?


Die Geschichte wird so erstmals 1996 im Buch ‹Fast täglich kamen Flüchtlinge› von Lukrezia Seiler und Jean-Claude Wacker1 publiziert: Hans Rückel erwähnt im Rahmen eines Erlebnisberichts die junge Frau, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern kann, nur noch an die Initialen J. Z. Seine Familie – arme Immigranten – wohnte damals an der Baselstrasse 48. Die Mutter brachte den neu angekommenen Flüchtlingen jeweils Suppe und Kaffee auf den Polizeiposten schräg gegenüber. Auch um die junge Frau im Spital kümmerte sich die ‹Flüchtlingsmutter› von Riehen: Sie besuchte die geflüchtete Frau mit dem kleinen Hans und versorgte sie im Spital.


Bis zur Spitalschliessung 2009 kannten die Autoren des Buches nur diese Version der Ereignisse und die Initialen der Verunfallten. Erst als das Gemeindespital der Gemeindeverwaltung die historischen Krankenakten übergeben hatte, konnte Lukrezia Seiler nach dem Dossier der Frau suchen. Ihre einzigen Anhaltspunkte waren die Anfangsbuchstaben ihres Vor- und Nachnamens, der Zeitpunkt der Einlieferung und die Art der Verletzung. Mithilfe des sogenannten Findmittels des Spitals, das die Patienteneingänge verzeichnet, fand sie heraus, dass es sich bei der jungen Frau um die polnische Zwangsarbeiterin Janina Zywicka aus Vilnius handelte, die zu dieser Zeit in Lörrach lebte. Aus der zugehörigen Krankenakte geht unter anderem hervor, dass das Diakonissenspital ihretwegen mit der für das Flüchtlingswesen zuständigen Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements in Bern korrespondierte. Bevor Lukrezia Seiler das Dossier der Flüchtigen aber beim Schweizerischen Bundesarchiv anfordern konnte, erkrankte sie schwer und verstarb kurze Zeit später.


Warum sprang die Polin aus dem Zug?


So sollte diese Geschichte aber nicht enden. Ich liess mir die Akte zukommen, die eine Fülle weiterer Informationen enthält.2 Die damals 23-jährige Janina Zywicka wurde am 19. Juni 1940 nach Deutschland deportiert. Im Zweiten Weltkrieg rekrutierten die Deutschen in den besetzten Gebieten Frauen und Männer als billige Arbeitskräfte und setzten sie vor allem in der Industrie und in der Landwirtschaft ein. Sie ersetzten die fehlenden Männer, die dem Reich als Soldaten dienten. Die Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen mussten in Ställen schlafen, durften weder am Esstisch noch in der Küche essen und mussten sich oft zu Tode arbeiten. Flucht war ein naheliegender Gedanke, diesem Elend zu entkommen.


Janina Zywicka floh mehrmals und kehrte in ihre Heimat zurück, wurde aber immer wieder gefasst. Nach der dritten Flucht brachte man sie 1942 nach Saint-Louis, wo sie in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten musste. Dort gab es auch Russen, mit denen die Polen ständig Streit hatten, weil jene besseres Essen erhielten. Nach einem mehrtägigen Hungerstreik mit Arbeitsverweigerung verlegte man die Polen nach Hüningen in ein anderes Heim mit besserer Verpflegung. Im September 1944 musste Janina Zywicka nach Lörrach übersiedeln, wo sie in einer Tuchfabrik beschäftigt wurde. Dort waren die Zustände miserabel und sie fürchtete um ihr Leben. Die Situation der Zwangsarbeitenden war sehr prekär geworden, als sich 1944 immer deutlicher abzeichnete, dass die Deutschen den Krieg verlieren würden.


Während die Aufnahmepraxis für jüdische Verfolgte im Juli 1944 gelockert wurde, gewährte die Schweiz den Zwangsarbeitenden bis März 1945 kein Asyl. Im Krieg nahm sie vor allem militärische Flüchtlinge auf. Die letzte Hoffnung für eine Zwangsarbeiterin wie Janina Zywicka war also der illegale Grenzübertritt und dann – mit viel Glück – die Verlegung in ein schweizerisches Arbeitslager für zivile Flüchtlinge. Sie ergriff ihre Chance mit einem gefährlichen Sprung aus einem fahrenden Zug: Die grenzüberschreitende Wiesentalstrecke zwischen Basel und Zell wurde im Zweiten Weltkrieg weiter betrieben, die Personenzüge fuhren aber von Lörrach bis zum Badischen Bahnhof in Basel ohne Halt auf Schweizer Boden durch.3 


Was geschah im Spital?


Ewa um 6:30 Uhr wurde die schwer verletzte Janina Zywicka am 13. November 1944 im Riehener Diakonissenspital aufgenommen. Gemäss Krankendossier hatte die relativ gut ernährte Patientin einen schweren Schock erlitten und viel Blut verloren. Der behandelnde Chefarzt Carl Felix Geigy dokumentierte die Verletzungen4: Nebst einem schweren offenen Oberschenkelbruch rechts hatte Janina Zywicka eine tiefe Weichteilwunde am linken Oberschenkel, einen gebrochenen rechten Oberarmknochen und beide Schultergelenke waren ausgerenkt. Zudem hatte sie mehrere Risswunden im Gesicht, eine Gehirnerschütterung sowie eine Nierenverletzung.


Die Patientin musste sich nach der Erstversorgung zuerst von ihrem Schock erholen, bevor die Ärzte damals weitere Massnahmen ergreifen konnten. Dafür wurden ihr Infusionen unter die Haut verabreicht – nicht wie heute direkt in ein Blutgefäss. Nachdem sich ihr Kreislauf stabilisiert hatte, wurden zuerst beide Schultern eingerenkt. Eine damit in Verbindung stehende Lähmung am rechten Arm behandelte man später erfolgreich mit einer Elektrotherapie.


Dann wurden der Oberarm gerichtet und in eine Gipsschiene gelegt, die Gesichtswunden gesäubert und genäht sowie die Fleischwunde am linken Oberschenkel mittels Hautverschiebeplastik verschlossen. Diese Verletzungen heilten gut.


Der zertrümmerte Oberschenkel stellte das grösste Problem dar: Eine operative Behandlung kam vorerst nicht in Frage, weshalb die Knochenfragmente nur ausgerichtet und gestreckt und die Fleischwunden versorgt wurden. Die Operation erfolgte im Januar 1945: Die Fraktur wurde mit einer Platte verschraubt. Der Operationsbericht lässt auf professionelle Erfahrung mit diesen Verfahren schlies-sen, obwohl Ostheosynthesen – operative Eingriffe mit dem Ziel, gebrochene Knochen wieder zusammenwachsen zu lassen – noch nicht lange zur Anwendung kamen und wegen dem hohen Risiko einer Blutvergiftung als gefährlich galten. Die Operation sowie der Heilungsprozess verliefen erstaunlich gut. Die beim Oberschenkelbruch verletzten Muskelnerven erholten sich leider auch nach der Operation nicht vollständig. Eine Lähmung verunmöglichte es der Patientin, ihren rechten Fuss und die Zehen aktiv zu heben, weshalb sie nicht mehr gut gehen konnte. 


Was folgte auf den Spitalaufenthalt?


Am 20. Oktober 1945, also fast ein Jahr nach ihrer Einlieferung, wurde Janina Zywicka aus dem Spital entlassen. Der Zweite Weltkrieg war in Europa seit rund fünf Monaten beendet und die Patientin wurde als ehemalige Zwangsarbeiterin vorerst in der Schweiz aufgenommen. Ihr Bein brauchte noch viel Physiotherapie, wofür die Flüchtlingssektion des Eidgenössischen Polizeidepartements aufkam, obwohl sie den Status eines illegalen Flüchtlings hatte.


Bereits im November 1945 beschäftigten sie Basler Bekannte am Thunersee für Hausarbeiten. Danach kam Janina Zywicka in ein Arbeitslager. Das Armeekommando wies ihr Arbeit als Hilfskrankenschwester in einem Kreisspital zu. Wegen ihrer Gehbehinderung konnte sie diese Tätigkeit nicht lange ausüben. Sie absolvierte danach bei der Firma Handschin und Ronus AG (Hanro) in Liestal eine Lehre als Kleider-Stepperin, damit sie sitzend arbeiten konnte.


Am 30. Januar 1948 reichte Janina Zywicka ein Gesuch um Gewährung des Dauerasyls in der Schweiz ein mit der Begründung, sie sei alleinstehend und invalid und könne keinen Beruf ausüben, bei dem sie stehen müsse.5 Das Gesuch und der darauffolgende Rekurs wurden abgewiesen. Doch die Firma Hanro, die sie nach der Lehre weiterbeschäftigt hatte, beantragte immer wieder eine Verlängerung der Arbeitsbewilligung um sechs Monate, was jedesmal genehmigt wurde, sicher bis 1953, als der dokumentarische Nachweis in ihrem Dossier im Bundesarchiv endet.6 


Dass sie auch danach nicht in ihre Heimat zurückkehren musste, bezeugt Hans Rückel: «[Sie] ging einige Jahre lang bei uns ein und aus. Später wurde sie durch Heirat Baslerin.»7 


Wie verlief das weitere Leben der polnischen Schweizerin?


Abklärungen beim Zivilstandsamt und Einwohneramt des Kantons Basel-Stadt ergaben, dass Janina Zywicka 1954 den Biochemiker Hugo Meder aus Basel heiratete, die Söhne Andrzej und Marek zur Welt brachte und am 12. September 1992 starb. Das Paar lernte sich in Basel kennen und zog kurz nach der Heirat nach Neuchâtel, wo Hugo Meder an der schweizerischen Drogistenschule unterrichtete. 1956 kehrte die Familie kurz vor der Geburt des zweiten Sohnes Marek nach Basel zurück. 1968 zog sie nach Therwil.


Marek Meder wohnt immer noch im Elternhaus in Therwil. Nachdem ich mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, ergänzte er die bislang bekannte Geschichte seiner Mutter mit erzählten und erlebten Erinnerungen: Janina Zywicka kam 1917 im damals polnischen, heute litauischen Vilnius an der Grenze zu Russland zur Welt. Sie verwaiste früh, da ihre Eltern bei Grenzkonflikten zwischen Polen und Russen umkamen, und wuchs in einem Kloster auf. Da machte sie auch eine Ausbildung zur Krankenschwester.


Als die Deutschen 1940 in Vilnius einmarschierten und sie als Zwangsarbeiterin rekrutierten, arbeitete sie in einem Krankenhaus. 


Ihre wiederholten Fluchtversuche aus der Deportation waren Marek Meder nicht bekannt. Er wusste aber, dass man seine Mutter in Lörrach 1944 ungerechtfertigt beschuldigte, Anführerin einer Protestaktion der polnischen Zwangsarbeitenden gegen die katastrophalen Zustände gewesen zu sein. Da sich der Dolmetscher aus dem Staub gemacht hatte und sie bereits gut Deutsch konnte, musste sie die Kritik und die Forderungen der Protestierenden übersetzen. Das machte sie verdächtig, zu den Anführern zu gehören. Ein deutscher Soldat riet ihr zur sofortigen Flucht, um der Deportation in ein Konzentrationslager zu entgehen. Er empfahl ihr, die Wiesentalbahn nach Basel zu nehmen und zwischen Riehen und Basel vor einer Unterführung aus dem Zug zu springen, da er hier langsamer fahre. Sie müsse spätestens dann abspringen, wenn sie die vielen Lichter von Basel sehe. Er vergass ihr jedoch zu sagen, dass der Zug zuerst durch das ebenfalls erleuchtete Riehen fuhr. In panischer Angst, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben, sprang sie zu früh aus dem Zug. So kam es zum Unglück bei der Barriere. 


Nach dem Krieg haben sich nicht nur die Inhaber der Firma Hanro, sondern auch der Chefarzt des Diakonissenspitals, Carl Felix Geigy, vehement für Janina Zywickas Verbleib in der Schweiz eingesetzt. In einem Brief an die Bundesbehörden betont Geigy, dass sie als Invalide in Polen nicht überleben würde.8 Nachdem sie geheiratet hatte, war Janina Meder-Zywicka zeitlebens als Hausfrau tätig. Obwohl sie Anspruch auf eine Invalidenrente gehabt hätte, stellte sie nie einen Antrag.


In Basel baute sie sich ein soziales Netz insbesondere mit anderen Polinnen und Polen auf. Nach dem Umzug nach Therwil 1968 verlor sie diese Kontakte, was zu grossen Spannungen in der Ehe führte. Das Paar trennte sich, zur Scheidung kam es aber erst 1984 durch ein richterliches Urteil, weil sie aus religiösen Gründen nicht in die Scheidung einwilligen wollte.


Janina Meder-Zywicka besuchte ihr Heimatland mehrmals, zuletzt 1992, ein Jahr nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Als sie Polen 1973 erstmals mit dem Flugzeug anreiste, erlitt sie am Warschauer Flughafen einen Hirnschlag. Da die nötige Operation in Polen zu dieser Zeit nicht möglich war und eine Überführung in die Schweiz mit einem Krankenwagen aus einem kommunistischen Land absehbar schwierig und langwierig, fuhr ihr Ehemann mit dem Auto unverzüglich nach Polen – ohne Visum, aber mit der Unterstützung schweizerischer Diplomaten – und brachte seine Frau nach Zürich ins Spital, wo sie gerade noch rechtzeitig operiert wurde.


Laut Marek Meder hätten ‹Rettungen in letzter Sekunde› das Leben seiner Mutter geprägt. Ihr tollkühner Sprung aus dem Zug 1944 hatte sich als Weg in die Freiheit erwiesen. Wäre sie 3 Meter weiter oder etwas früher oder später abgesprungen, hätte sie sich wahrscheinlich nur leicht oder mittelschwer verletzt und wäre nach wesentlich kürzerer Genesungszeit dem Territorialkommando an der Grenze übergeben worden: Gemäss den damaligen Bestimmungen hätte sie dann ein Grenzwächter oder Ortpolizist wieder nach Lörrach abgeschoben. Als Schwerverletzte musste sie längere Zeit im Spital behandelt werden und gewann kostbare Zeit: Sie genas erst nach Kriegsende, weshalb nun das Armeekommando für sie wie für alle vorerst aufgenommenen Flüchtlinge zuständig war. Dieses brachte sie – wie ursprünglich erhofft – vorerst in einem Arbeitslager unter. Aber sie konnte nicht mehr so einfach abgeschoben werden. Das damalige Diakonissenspital in Riehen, das ihr die Genesungszeit verschaffte, die sie brauchte, hatte Janina Zywicka somit in doppelter Hinsicht das Leben gerettet.


1 Lukrezia Seiler / Jean-Claude Wacker: Fast täglich kamen Flüchtlinge. Riehen und Bettingen – zwei Schweizer Grenzdörfer in der Kriegszeit. Erinnerungen an die Jahre 1933–1948, 4. Aufl., Basel 2013, S. 230.


2 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Polizeiabteilung, Einvernahmeprotokoll vom 27. November 1944 und Fragebogen vom 3. Dezember 1944, Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), CH-BAR#E4264#1985-197#1833#11.


3 Das blieb so bis 1951, vgl. dazu Michael Raith: Gemeindekunde Riehen, 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Riehen 1988, S. 182f.


4 Vgl. Janina Zywickas Krankenakte des  Diakonissenspitals, Archiv des Geistlich-diakonischen Zentrums Riehen, Krankenakten stationär, Übertrag 1945, N. 5.


5 Vgl. den Brief an die Rekurssektion des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 9. Juni 1948, BAR, CH-BAR#E4264#1985-197#1833#9.


6 Vgl. BAR, CH-BAR#E4264#1985-197#1833.


7 Seiler / Wacker, Fast täglich kamen Flüchtlinge, S. 230.


8 Vgl. das ärztliche Zeugnis von Dr. Carl Felix Geigy vom 19. Januar 1948, BAR, CH-BAR#E4264#1985-197#1833#67.


 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

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