Ernst Giese - ein Maler des intensiven Erlebens

Hans Krattiger

Wer dem Werk von Ernst Giese begegnet, spürt in seinen Bildern, dass da ein Künstler am Werk ist, der alles, was er mit seinen fünf Sinnen erfasst, überaus intensiv erlebt und das Erlebte mit geradezu bekenntnishafter Eindringlichkeit in seinen Gemälden und Zeichnungen zum Ausdruck bringt. Ob Landschaft oder Komposition, ob Porträt oder Interieur - immer zeugt das Dargestellte, im Bild Festgehal

tene vom feu sacré, das während des Schaffens in Ernst Gieses Herz brennt. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass die Skala seiner Farbklänge von fauvistischer Heftigkeit wie im ölbild «Blaue Wolken» (1958) oder im Aquarell «Seenachtfest Venedig» (1974) bis zu zarten, wie hingehauchten Tönen reicht, vor allem in skizzenhaften Aquarellen und ölkreide-Zeichnungen wie «Pas de moine», «Thür» (1963), «Ussat les bains» (1949), «Pisa» (1970) und dem stimmungsvollen Interieur «Mensano Siena» (1976). Und zwischen diesen beiden Polen finden sich tonige Landschaften aus Riehen und Umgebung, aus dem Bündnerland und dem Tessin, Gemälde, die deutlich machen, dass Ernst Giese in den dreissiger Jahren in Malern wie Arnold Fiechter und Albrecht Mayer, die damals an der Allgemeinen Gewerbeschule (AGS) unterrichteten, gute Lehrmeister hatte.


Als 1974 in der Ausstellung «Riehener Künstler» im Gemeindehaus auch Ernst Giese mit einigen Arbeiten vertreten war, wurde offenkundig, dass in diesem Maler, der in seinem Haus im Schlipf eher zurückgezogen lebt, ein begabter und aussagekräftiger Künstler stecken muss. Und das bestätigte dann auf überzeugende Weise die Ausstellung anfangs 1989 im Berowergut, in der - neben Gemälden von Christoph Iselin und Plastiken von Elly IselinBoesch - mit einer grossen Auswahl von Werken aus allen Schaffensperioden des achtzigsten Geburtstages von Ernst Giese, den er am 5. Mai 1988 gefeiert hatte, gedacht wurde. Noch viel stärker als 15 Jahre zuvor offenbarte diese Jubiläums-Ausstellung das angeborene Talent, das nicht verborgen bleiben, nicht unterdrückt werden konnte, auch wennin beruflicherHinsichtderLebenswegin anderen Bahnen verlief. Ernst Giese teilte das Los zahlreicher Kollegen, die auf dem Umweg über einen «bürgerlichen Beruf» ins ersehnte Reich der «brotlosen Kunst» gelangen mussten.


Als Sohn des Ehepaars Heinrich und Lina Giese-Nachbur am 5. Mai 1908 in Liestal geboren, wuchs Ernst Giese vom vierten Lebensjahr an in Basel auf und absolvierte nach Abschluss der Schuljahre bei der Versicherungsgesellschaft «Bâloise Transport» eine kaufmännische Lehre. Nebenbei besuchte er aber Kurse an der AGS, vor allem bei den Kunstmalern Paul Burckhardt, Hermann Meyer und Paul Kammüller, dem Schwager von Jean-Jacques Lüscher und eigentlichen Begründer der Basler Graphik als Zweig des Kunstunterrichts. Dieses «Nebenbei» kam Ernst Giese zu gut, als er als 21jähriger zur Weiterbildung nach Paris zog und als Schriftenschreiber für eine Schweizer Institution in der Seine-Stadt seinen ersten Nebenverdienst erzielte. Weiter zog es den Lernbeflissenen im Frühjahr 1930 nach Barcelona, wo er während zwei Jahren als Kassier und Buchhalter in einem Schweizer Konzern tätig war, «nebenbei» aber auch den Mut hatte, als junger Schweizer an einem Wettbewerb unter dem Motto «Barcelona von seinen Künstlern gesehen» teilzunehmen. Als Ausländer kam er zwar mit seinem gesellschaftskritischen Werk nicht «in die Kränze», aber mit dem in Rot und Blau gehaltenen Bild erregte er einiges Aufsehen.


Wieder in der Schweiz, lernte Ernst Giese zunächst einmal die Sorgen und Nöte der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre am eigenen Leibe kennen. Aber kleinkriegen liess er sich nicht; er besuchte wiederum Kurse der AGS und erwarb 1942 das Diplom als Graphiker. Und nun erwies sich auf einmal die brotlose Kunst als brot-gebender Beruf, erhielt er doch dank den an der AGS unter Julia und Theo Eble und Theo Balmer erworbenen Kenntnissen eine Stelle in der Werbeabteilung des Warenhauses «Globus», zunächst als Assistent, später als Chef, und das zu einer Zeit, als dem Begriff «Public Relations» noch nicht die oft übertriebene und überschätzte Bedeutung zukam wie heutzutage. 40 Jahre lang-von 1933 bis 1973- arbeiteteErnst Giese beim «Globus» Basel und versah während Jahrzehnten das Amt des Werbechefs.


Dass Ernst Giese diesen interessanten, aber auch zu Verführungen verleitenden Werbejob verantwortungsbewusst betrieb, das hat seinen Grund nicht zuletzt in jener Gesinnung, der er in seinen religiösen Bildern Ausdruck verliehen hat. Es ist die Gruppe der zwischen 1943 und 1979 entstandenen ölbilder wie «Abendmahl», «Der zwölfjährige Jesus im Tempel», «Der verlorene Sohn», «Fusswaschung», «Betende Juden» und vor allem «Die Seligpreisungen», die in der Jubiläums-Ausstellung einen Raum für sich beanspruchten und die aus dem Werk von Ernst Giese so wenig wegzudenken sind wie seine sozialkritischen Porträts, zum Beispiel «Der Trinker» (1936) und Kompositionen, von

denen «Heilsarmeegruppe» (1946) und «Mobilisierte Soldaten, Bologna» (1939) beispielhaft sind. Auch aus diesen Bildern heraus spürt man das feu sacré, mit dem sie gemalt worden sind, wobei sich Farbe und Form in den Dienst des Wortes stellen und mit der übertragung des biblischen Stoffes in die Gegebenheiten unserer Zeit - so wie es einst Rembrandt in seinen Radierungen tat - die zeitlose Aktualität der biblischen Botschaft unterstreichen.


Zu dieser im christlichen Glauben fundierten Gesinnung gesellt sich aber noch etwas, das Ernst Giese offenkundig von seinem Grossvater geerbt hat. Dieser musste als Revolutionär in den 48er Wirren des letzten Jahrhunderts aus seiner badischen Heimat fliehen, kam als Asylsuchender in die Schweiz und fand in Liestal nicht nur ein Heim, sondern auch in der damals in Blüte stehenden Posamenterie als Webstuhlschreiner Arbeit und Verdienst. Es ist das herzhafte Engagement für als recht und gerecht erkannte Dinge, das Ernst Giese von seinem Grossvater geerbt hat, ein Engagement, das ihn weniger zu einem lauten Demonstranten als vielmehr zu einem mitfühlenden, nachdenklich gestimmten Menschen werden liess; eine Einstellung und Haltung, die auf eindrückliche Weise zum Ausdruck kommt in der Komposition «Zwischen den Banken», welche die Hast der abendlichen Stosszeit im Revier des Basler Bankenplatzes darstellt. Das Bild entstand 1973 und zeigt die Gehetztheit der Menschen in der Arbeitswelt.


Dies freilich konnte Ernst Giese par distance betrachten, wohnt er doch seit den frühen vierziger Jahren in dem schlichten, von Bäumen und Reben umgebenen Atelierhaus, das auf der mitten im Krieg erworbenen Parzelle im Riehener Schlipf erbaut worden war. Als er im Jahre 1949 die Ehe mit Verena Klauser, einer Lehrerstochter aus altem Zürcher Geschlecht, schloss, wurde das Atelierhaus notgedrungen auch zum Eigenheim. Im Schlipf wuchsen die beiden Buben Christian und Martin auf, und das 1957 entstandene ölbild «Die beiden Brüder», die in der heimeligen Stube im Schein der Tischlampe spielen, zeugt auf liebenswürdige Weise vom trauten Familienleben bei Gieses. Dieses Bild ist aber auch in künstlerischer Sicht ein Interieur, das sich neben analogen Bildern von Jean-Jacques Lüscher sehen lassen darf; es ist eines jener Werke, die - wie etwa das kleinformatige Aquarell «Konzert im Münster», der impressionistisch inspirierte «Blick vom Schlipf» (1941/42) oder der mehrfarbig lithographierte Jahreszeiten-Zyklus, um nur diese zu nennen, - die Meisterschaft Ernst Gieses als Zeichner, Lithograph und Maler belegen.


Personen: (soweit nicht im RRJ)

Theo (Théophile) Balmer [richtig: Ballmer] (1902-1965), Graphiker, Lehrer AGS

Julia Eble-Ries (bzw. Heid-Ries) (*1904) Heinrich Giese (1874-1946), Schreiner Lina Giese-Nachbur (1878-1965)

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1990

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