Klara Borer-Haubensak Früher war das Leben ruhiger

Brigitta Kaufmann

Die grossen gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen seit 1900 lassen erahnen, wie stark solche Veränderungen das Leben einer Hundertjährigen prägten.

Ein 100. Geburtstag ist immer noch etwas Erwähnenswertes, auch wenn in den letzten Jahren immer mehr Menschen 100 und über 100 Jahre alt geworden sind. So haben im Kanton Basel-Stadt 1980 bloss 8 Personen gelebt, die 100 oder über 100 Jahre alt waren. Heute sind es 40. In Riehen war es vor 20 Jahren 1 Person, heute sind es 5. Aber nun genug der Zahlen, denn weit interessanter als die Zahlen allein sind die Lebensgeschichten, welche sich dahinter verbergen: zum Beispiel jene von Klara BorerHaubensak, geboren 1900 im Kleinbasel, dort wohnhaft bis 1950 und dann in Riehen; ab 1991 im Altersheim Humanitas.

Ein besonderer Vogel Gryff «Jetzt werde ich mit meinen 100 Jahren fast noch berühmt», lacht Klara Borer. Sie staunt über das Interesse, das ihr runder Geburtstag ausgelöst hat, aber sie nimmt es mit ihrer humorvollen, offenen Art gelassen. Schon am Geburtstag selbst, so erzählt sie, sei ihr Zimmer im Humanitas voller Gratulantinnen und Gratulanten gewesen. Alle sind sie um sie herumgestanden. Sie lacht schon wieder verschmitzt: Nun ja, sie habe wirklich nicht genug Stühle für alle Gäste gehabt. So viel Besuch auf einmal, das sei schon einmalig.

Auf ihrem Tisch liegen Fotos vom grossen Tag. Dieses Jahr ist ihr Geburtstag ausgerechnet auf den Vogel Gryff gefallen, und das war etwas ganz Besonderes für Klara Borer: Sie hat als Ehrengast daran teilgenommen und einen Ehrenplatz zugewiesen bekommen. Die Fotos zeigen strahlendes Wetter, eine strahlende Klara Borer sowie den Leu und den Vogel Gryff, die ihr verbeugend die Reverenz erweisen.

Tatsächlich ist der Vogel Gryff für Klara Borer immer ein wichtiger Tag gewesen. Ihr Mann, Joseph Borer, hat seit seiner Jugend für den Leu getrommelt. Als Inhaber eines Malergeschäfts an der Oetlingerstrasse 38 war er Zunftmitglied. Das änderte sich allerdings unfreiwillig im Jahre 1950. Damals haben Klara und Joseph Borer das Haus an der Oetlingerstrasse verkauft. Es wurde später abgerissen. Das Ehepaar Borer kaufte sich in Riehen am Rheintalweg Land und baute sich dort ein Haus. Nun war Joseph Borer nicht mehr Hausbesitzer im Kleinbasel, und er musste deshalb die Zunft verlassen: ein schwerer Schlag für ihn und seine Frau. Beide haben sich immer als Kleinbasler gefühlt und konnten den Entscheid offenbar nur schwer verstehen. Klara Borer erwähnt dieses Ereignis mehrmals im Gespräch. Sie hat mit ihrem Mann gelitten. Aber hier zeigt sich Klara Borers positive Lebenseinstellung: Es spricht nie Bitterkeit aus ihren Worten, geschweige denn erhebt sie gegen irgendwen Vorwürfe.

Die Familie Haubensak

Klara Borer-Haubensak hat in der Tat ein heiteres Gemüt. Dabei waren die äusseren Umstände von Klara Borers Kindheit und Jugend nicht nur sonnig und glücklich. Geboren wurde sie an der Grenzacherstrasse in der Nähe des Wettsteinplatzes. Neben der Erinnerung an eine grosse, breite, aber ziemlich leere Strasse kommt ihr heute noch ein Bild ihrer frühen Kindheit in den Sinn: Ihr Grossvater hat sie auf einem Schlitten durch diese grosse, breite Grenzacherstrasse gezogen. Sie selbst war vor der Kälte mit einem Schleier vor dem Gesicht geschützt. An der Grenzacherstrasse besuchte sie auch die «Kleinkinderschule».

Ihr Vater hat in der damaligen Brauerei «Löwenbräu» als Braumeister gearbeitet. Die Brauerei wurde dann zugunsten des «Warteck» geschlossen. Vater Haubensak hat aber nicht zu «Warteck» gewechselt, sondern hat fortan ein Restaurant geführt: das Restaurant «Schöneck» am Riehenring, Ecke Drahtzugstrasse, gleich gegenüber dem alten Badischen Bahnhof.

Dann, als Klara Haubensak 12 Jahre alt ist, wird die Familie vom Schicksal schwer getroffen: Die Mutter stirbt nach kurzer Krankheit im Alter von 32 Jahren. Klara Borer hat nur vage Erinnerungen an dieses sicher einschneidende Erlebnis. Ihr Bruder, 1 Jahr und 8 Tage älter als sie, und sie selbst verbringen nun die Zeit, die sie nicht in der Schule weilen, im väterlichen Restaurant, aber nicht etwa um zu spielen, sondern um tatkräftig mitzuhelfen. Klara arbeitet hinter dem Buffet und muss immer wieder im Keller am Weinfass die Gläser füllen. Es ist dunkel im Keller, und so sieht Klara den Eichstrich der Gläser nicht so genau. Der Vater ermahnt sie, sie solle nicht immer zu viel einfüllen. Klara findet eine einfache Lösung: «Auf der Treppe, wo es wieder einigermassen hell war, nahm ich einfach einen kleinen Schluck, bis es stimmte.» Manchmal, so erzählt sie, sei sie durch die Hintertür entwischt, weil sie doch auch einmal spielen wollte, oder sie hat Freundinnen ins Restaurant mitgebracht und hat ihnen Bierringe offeriert.

Klara Haubensak besucht die Primarschule im Theodorsschulhaus, später wechselt sie ins Klaraschulhaus, bis sie die obligatorische Schulzeit erfüllt hat. Danach arbeitet sie weiterhin beim Vater im Restaurant und ist zuständig für den väterlichen Haushalt.

Eine gewisse Gelassenheit

Klara Borer bezeichnet ihre Kindheit rückblickend als «schön», und zwar, weil sie trotz vieler Arbeit «nicht gestresst» worden ist. Sie bedauert die heutigen jungen Menschen, die von allen Seiten überflutet werden. Zwar haben sie materiell fast alles, was sie sich wünschen, aber es ist eine Hektik in der heutigen Zeit, die sie schlecht ertragen kann. Sie selbst ist überzeugt, dass sie ihre Gesundheit auch deshalb erhalten konnte, weil sie sich im Grossen und Ganzen «nicht überarbeitet hat» und dem Leben schon immer mit einer gewissen Gelassenheit gegenübergestanden hat. Im Kontakt mit Klara Borer ist eine ausgesprochene Liebenswürdigkeit spürbar. Sie nimmt rundum Anteil, und dies beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit: Sie hat sich eine ausserordentliche Wachheit gegenüber dem, was um sie herum geschieht, bewahren können. Sie erzählt lebhaft von ihrem lieben Pflegepersonal, von ihrer ärztin, von ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden, mit denen sie regelmässig Kontakt pflegt, und der Detailreichtum ihrer Schilderungen zeigt, dass Klara Borers Gedächtnis noch immer von fast jugendlicher Frische ist. Sie hat ihre ausgesprochene Kontaktfreudigkeit behalten. Schon früher hatten die Borers sehr oft Gäste, Fotos zeugen vom gemütlichen Beisammensein mit Freunden. Auch heute noch freut sie sich über Besuch, und sie wird von Zeit zu Zeit zu einem gemütlichen Essen ausgeführt. Eine Flasche Rotwein steht bei Klara Borer immer auf dem Tisch: «Jeden Tag ein Gläschen davon.» Auch das scheint sich als Gesundheitsrezept bestens zu bewähren.

«Ich wurde wohl vergessen»

Geselligkeit haben die Borers auch jeweils während der Fasnacht gelebt. Joseph Borer war Fambour bei der Olympia-Clique, und seine Frau Klara war oft dabei. Eine besonders schöne Erinnerung hat Klara Borer an eine Fasnacht, als sie zusammen mit ihrem Mann in einer «Chaise», die ihr Mann selbst kunstvoll bemalt hatte, mitgefahren ist. Ein Freund hatte ihnen «Nägeli» besorgt, und so konnten sie, schön gewandet, die «drei scheenschte Dääg» zusammen gemessen.

Ein Blick in die Fotoalben der Borers zeigt ausserdem Bilder von einer Schiffsreise, die Joseph Borer, zusammen mit seiner Clique, im Jahr 1939 nach New York an die Weltausstellung unternommen hat. Klara Borer, die die Fotos seit langem nicht mehr angeschaut hat, kommt selbst ins Staunen: «Jee, was isch au das nit!», ruft sie aus, wenn bei ihr alte Erinnerungen wach werden. Eine gewisse Wehmut schwingt mit, denn allzu oft muss Klara Borer beifügen, dass die Abgebildeten längst gestorben sind. «Ich wurde wohl vergessen», fügt sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, und schon hat sie sich wieder auf die sonnige Seite gerettet.

Vom Kleinbasel nach Riehen

Der Umzug nach Riehen erfolgte 1950. Das Gebiet des Rheintalwegs war zu jener Zeit noch wenig erschlossen. Das Land, auf dem das Ehepaar Borer gebaut hat, wurde vorher als Pflanzblätz genutzt. Obwohl sie sich eigentlich zutiefst als Kleinbasler gefühlt haben, fanden die Borers schnell Anschluss. Klara Borer bezeichnet sich selbst zwar als «nüt im Garte», aber ihr Mann erledigte diese Arbeiten mit Freude. Auch hier hat das Ehepaar oft Gäste empfangen. Weil sich Joseph Borer neben seinem Malergeschäft als Kunstmaler betätigt hat (und auch als «LadäärneMooler» der Olympia), kannte das Ehepaar einige namhafte Künstler aus der Region, darunter Charles Hindenlang. Klara Borer erinnert sich noch gut, wie Hindenlangs Entwurf für die Münsterfenster abgelehnt worden ist. Das sei ein harter Schlag für den Künstler gewesen. Und sie bringt die spätere Krankheit von Hindenlang in einen di rekten Zusammenhang mit dieser herben Enttäuschung. Das Andenken des Künstlerfreundes bewahrt Klara Borer in Form eines Gemäldes und einer Haubensak-Wappenscheibe, die Hindenlang für sie gestaltet hat.

Mäxli, der stete Begleiter

Seit Klara Borers Kindheit hat immer ein Hund zu ihrem Leben gehört. Und so war es auch, nachdem Klara Haubensak mit 18 Jahren - «Der Vater musste sogar noch unterschreiben» - Joseph Borer geheiratet hatte. Immer war ein schwarzes Hündchen ihr Begleiter: Zuletzt ein frecher kleiner Schnauzer namens Mäxli, vor dem die Briefträger Angst gehabt haben, bemerkt Klara Borer lachend.

Das liebe Geld

Vieles hat sich in Klara Borers langem Leben verändert. Sie hat eine rasante technische Entwicklung miterlebt, die für sie vor allem spürbar geworden ist, weil alles schneller geht. Heute können wir uns, sinniert sie, für vieles nicht mehr genügend Zeit nehmen, und das Leben ist alles in allem immer hektischer geworden. Damit hängt für Klara Borer auch die Einstellung zum Geld zusammen. Das Geld, so findet sie, habe heute einen ungleich höheren Stellenwert als früher, weil viele meinten, sie könnten sich das Glück kaufen. Klara Borer selbst erinnert sich, dass sie und ihr Mann in ihren jüngeren Jahren oft über wenig Geld verfügt hätten. Dennoch haben sie sich ein rechtes Leben gestalten können. Dazu gehörte für das Ehepaar Borer das Wandern und, vor allem für Joseph Borer, das Skifahren und Klettern. Ihr Mann war Mitglied im Schweizerischen Alpenclub, und so haben sie in ihren Ferien - oft mit Freundinnen und Freunden - grosse, auch mehrtägige Touren unternommen.

Ein Auto oder einen Fernseher zu besitzen, war für die Borers kein Thema. Wenn sie einmal etwas Besonderes sehen wollten, konnten sie zu ihren Nachbarn am Rheintalweg gehen. Das war gleich auch Anlass für ein gemütliches Zusammensein.

Solcher «Verzicht» ist für die Jungen von heute nicht mehr vorstellbar. Aber Klara Borer ist der festen Uberzeugung, dass die Menschen jetzt nicht glücklicher sind als früher. Die Ansprüche sind bloss gestiegen. Wichtig ist für Klara Borer heute noch, dass die Menschen rücksichtsvoll miteinander umgehen. Unfreundlichkeiten kann sie nur schwer verdauen. «Es ist doch so einfach, danke zu sagen, aber gewisse Menschen bringen es einfach nicht über die Lippen.»

Trotz diesen eher kritischen Worten in Bezug auf gewisse Zeitphänomene bewahrt Klara Borer immer einen liebevollen Blick ihrer Umgebung und ihren Mitmenschen gegenüber. Ihr sonniges Gemüt hat sie durch alle Höhen und Tiefen ihres bisher hundertjährigen Lebens bewahren können und sie ist lebendiges Beispiel für eine alte Erkenntnis: Lachen ist gesund!

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2000

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