Die verhüllten Bäume

Daisy Reck

Ein Kunstwerk von Christo und Jeanne-Claude verzauberte im Spätherbst des vergangenen Jahres den Berower-Park der Fondation Beyeler. Wolfgang Volz hat mit seinen Fotografien dokumentiert, weshalb Riehen während Wochen Hunderttausende magisch anzog.

Die verhüllten Bäume Es ist eiskalt. Aber heimgehen ist unmöglich. Nicht solange der Mann mit der Kapuze und die Frau mit der Pelzkappe noch ohne alle Berührungsängste ausharren. Nicht solange die Equipen in den Overalls die schöpferischen Gesten umsetzen. Nicht solange die zwei Riesen im Zentrum des Parkes noch nicht vollständig mit dem licht- und luftdurchlässigen Gewebe umhüllt sind.

Erst als es dunkel wird, ist endlich das, was seit Wochen Hoffnung war, Wirklichkeit geworden. Beinahe zweihundert Bäume haben eine andersartige Form gefunden. «Später wird man darüber sprechen wie über ein Märchen.» Sagt Jeanne-Claude bei der ersten Pressekonferenz: «Es war einmal...»

Schon sieben Uhr. Das Museum hat längst geschlossen. Und auch im Garten ist es menschenleer. Nur auf den Stufen des Pavillons lagert eine Clique von Jugendlichen. Stumm. Bereits seit einer Viertelstunde.

Alle schauen reglos in den Baum. Dessen Umhüllung ist fast unsichtbar. Denn der Mond steht gross am Himmel. Und sein Licht hat sich daran gemacht, die in dieser Atmosphäre silbergrau schimmernde Gaze zu verschlucken. Wie ein Gerippe zeichnen sich die äste unter dem hauchdünn gewordenen Umhang ab. Es ist gleichzeitig gespenstig und zauberhaft. Niemand sperrt sich gegen dieses Gefühl. Auch wenn der Aufbruch dann laut, unerwartet und turbulent vonstatten geht.

Er ist noch ein winziger Knirps. Doch er hält das Textilmuster fest in der Hand. Er hat es, wie seine ihn begleitenden Grosseltern, beim Eingang vom Bewachungsteam als Geschenk erhalten. Sobald wie möglich vergleicht er es mit dem, was den ersten Baum, der ihm in die Quere kommt, einwickelt. Und er sagt entschieden: «Das ist nicht dasselbe.» Denn den minimen Fetzen und die gewaltige Hülle kann sein erst heranwachsender Verstand unmöglich zum übereinklang bringen. Aber im gleichen Moment sagt er noch: «Ich nehme es trotzdem heim.» Und er umarmt heftig den Stamm.

An diesem Abend geht es dem Bären, der sonst immer neben dem Bett wachen muss, gut. Ein zusammengefaltetes Stückchen Stoff wird zu seinem Kopfkissen.

Freunde sind gekommen. Man ist ein wenig ängstlich. Denn man will ihnen zwar alles zeigen, aber man ist nicht ganz sicher, ob es ihnen auch gefallen wird. Absichtlich hat man sie auf jene Stunde herbestellt, da es am schönsten ist: auf die Zeit des Sonnenuntergangs. Dann leuchtet der Porphyrstein des Museums wie Feuer, und dann verwandelt sich die bei Regentagen abweisende Polyesterhaut in blassviolette Elfenschleier.

Das wortlose Staunen ist ein Zeichen dafür, dass die Gäste das Geheimnisvolle spüren. Man ist dankbar und weiss, dass in dieser Stimmung Gefühle geboren werden, die das Ereignis lange überdauern und die man tastend versucht in die Worte zu fassen von den «Wesen aus einer fremden Welt», von den «Traumbildern aus Stoff, Schnur und Licht», von den «wie mit Feenhand hingezauberten Seifenblasen».

Es gibt die Einsamkeit in der Morgenfrühe, es gibt die Karawanenzüge am Mittag, es gibt das Nachdenken über ein Detail, es gibt die Freude am Ganzen. Das Verdriessliche, die Abwehr, den Spott: Sie gibt es an Ort und Stelle nicht.

Es ist erstaunlich, wie viele Gespräche zwischen Fremden zustande kommen, wie auch grosse Menschenansammlungen die Ruhe nicht vertreiben und wie die Fröhlichkeit vorherrscht. Von Kunst wird kaum gesprochen. Aber von Schönheit. Und von Veränderung. «Jeder Tag ist einzigartig. Deshalb komme ich so oft wie möglich.» Das hört man immer wieder. Und einer erzählt dem anderen von der Stunde, als der Sturm kam. Und jeder erzählt jedem von der Nacht, als der Schnee kam. «Da hatte ich Angst um meinen Baum.» So wird berichtet. Denn alle besitzen als etwas Erstaunliches und als etwas Wesentliches ihren ganz individuellen Liebling.

«Mein» Baum steht unten am Bach. Er ist auf ausgefallene Weise als Tetragon verhüllt. Ich weiss, dass ich ihn nie mehr anders werde sehen können als in dieser extremen, sein innerstes Wesen entlarvenden Art. Auch nicht im Sommer, wenn er, diese Form durch Laub verbergend, wieder ein braver Baum sein wird.

Das Paar gehört entschieden nicht zu den Träumern. Es denkt nüchtern. Es handelt sachlich. Und zu den verhüllten Bäumen gehen die beiden an einem Sonntagnachmittag, weil sie sich die Zeit vertreiben wollen. Auch sind sie ein wenig neugierig. Den Fotoapparat haben sie gemäss dem Rat von Nachbarn mitgenommen.

Im weitläufigen Park sagt man nicht viel. Doch man bleibt länger als vorgesehen. Und zu Hause ist man sich fast wortlos darüber einig, dass die Festtagskarte anders als sonst ge staltet werden soll: Für einmal wird man die Tradition durchbrechen und nicht ein Ferienbild, sondern einen der soeben aufgenommenen Bäume versenden.

Zwischen Weihnachten und Neujahr kommt, wie alljährlich zu dieser Zeit, etwas mehr Post als sonst. Das Paar ist verblüfft, aber auch entzückt, wie sehr es sich mit seinem kleinen Freundeskreis im Einklang befindet. Niemand hat diesmal einen im Sommer erkletterten Drei tausender verschickt. Alle haben ihre guten Wünsche unter einen verhüllten Baum geschrieben.

Bestätigt von dieser übereinstimmung ersetzt der Mann im Entree ein zerschlissenes Plakat durch ein Baumposter. Und ermutigt durch die schöne Erinnerung, regt die Frau an, dass man vielleicht doch einmal in ein Museum gehen sollte. Was man bisher noch nie getan hatte.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1999

zum Jahrbuch 1999