Erster Jahrgang schliesst harmonisierte Schule ab


Ralph Schindel


Diesen Sommer haben die ersten Schülerinnen und Schüler die neue, sechsjährige Primarschule abgeschlossen. Damit hat der erste Jahrgang die Primarstufe nach den Vorgaben der Schulharmonisierung durchlaufen.


Im Mai 2010 hatte der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt gleichzeitig das Schulgesetz revidiert und den Beitritt des Kantons zu den beiden Konkordaten ‹HarmoS› und ‹Sonderpädagogik› der Erziehungsdirektorenkonferenz beschlossen. Das war der Startschuss zur umfassenden Neugestaltung der Schullaufbahn und der Volksschulen. Mit der Schulharmonisierung HarmoS soll ein möglichst einheitliches Schulsystem in der ganzen Schweiz entstehen, damit die Unterschiede zwischen den 26 kantonalen Schulsystemen nicht mehr so gross sind. Familien mit Kindern sollen leichter umziehen können, lautet eines der Hauptargumente, das auch der Kanton Basel-Stadt auf seiner Website zum Systemwechsel prominent aufführt.1


Markt für Ausbildung und Lehrmittel


Für den kommunalen Projektleiter Schulharmonisierung der gemeinsam geführten Gemeindeschulen Bettingen und Riehen, Stefan Camenisch, standen und stehen andere Argumente im Vordergrund.2 Es bestünden strukturelle Herausforderungen. Vor ein paar Jahren wurde nämlich festgestellt, dass viele Voraussetzungen einer Schule von einem Kanton allein nicht mehr erfüllbar sind. Darunter fallen beispielsweise die Ausbildung der Lehrpersonen oder die Entwicklung von Lehrmitteln. Die verbliebenen Lehrmittelverlage in der Schweiz brauchen für ihr ökonomisches Überleben eine bestimmte Menge an Abnehmern für ihre Produkte. Die harmonisierten Schulsysteme machen es möglich, die Lehrmittel in der Deutschschweiz zu vereinheitlichen und damit die benötigte Menge auszuweiten. Die Alternative wären in der Deutschschweiz deutsche Lehrmittel, die an die hiesigen Verhältnisse angepasst würden.


Ein ähnliches Problem besteht laut Camenisch bei der Ausbildung der Lehrpersonen. Institutionen, die nur Personal für einen oder zwei Kantone ausbilden, seien nicht attraktiv. Eine solche Ausbildung schränkt die Auszubildenden auch in ihrem künftigen Tätigkeitsfeld massiv ein. Sie können dann möglicherweise nur in den entsprechenden Kantonen unterrichten. Die Schulharmonisierung vergrössert auch das Einzugsgebiet der Ausbildungsinstitutionen.


Diese Strukturanpassungen werden also durch die Schulharmonisierung erfüllt. Wohin sie im Bereich Pädagogik führe, sei noch offen: Camenisch ist nur vorsichtig optimistisch. Dass die Primarstufe acht Jahre dauert, erachtet er zwar als Chance. Untersuchungen zeigten, dass Grundstrukturen mit längeren Zyklen und weniger Wechseln besser fördern. Das leuchtet ein: In einer Struktur mit schnellen Wechseln werden die Kinder von den Lehrpersonen tendenziell für die Übergänge fit gemacht, damit die übernehmende Lehrperson nahtlos weiterunterrichten kann und keine Kritik an der abgebenden Lehrperson entsteht. Das bedeutet aber für die Schülerinnen und Schüler Druck und Stress. Dem individuellen Entwicklungstempo des einzelnen Kindes wird so kaum oder wenig Beachtung geschenkt.


Widerstand gegen neue Struktur


Der harmonisierte Lehrplan unterscheidet zwei Zyklen: altersmässig von vier bis acht Jahren und von acht bis zwölf Jahren. Der erste Zyklus beinhaltet weniger fachspezifische, dafür mehr entdeckende Aspekte, später werden die Fachorientierung und das Lernen wichtiger. Bei der Mehrheit der Lehrpersonen im Kanton konnte sich diese Betrachtungsweise, die über die Nahtstelle zwischen Kindergarten und Primarschule führt, aber noch nicht durchsetzen, berichtet Camenisch. Sie wolle die Strukturen des alten Systems bewahren. Die Lehrpersonen setzten bei der Planung der Umsetzung der Harmonisierung vor rund sechs Jahren so viel Druck auf, dass die politischen Entscheidungsträger vorerst darauf verzichteten, strukturell zwei gleich lange Zyklen festzulegen – und so den Kindergarten mit den ersten zwei Primarschuljahren zusammenzuführen. Camenisch sieht zurzeit sogar eher Tendenzen zu einer Rückentwicklung: Viele Kindergarten-Lehrpersonen würden sich auf ihre zwei Schuljahre konzentrieren und diese abgekoppelt von der Primarschule betrachten – und bei den Primarlehrpersonen liege der Fokus immer noch auf der bekannten vierjährigen Schulzeit.


Die beiden Zyklen sind aber noch nicht ad acta gelegt. Camenisch denkt, dass sie sich über einen gewissen Zeitraum doch noch entwickeln werden. Eine Einführung in Bettingen und Riehen, unabhängig von der Stadt, erachtet er aber nicht als sinnvoll. Wenn sich der Unterricht aber wider Erwarten nicht in Richtung der beiden Zyklen mit ihren pädagogischen Schwerpunkten entwickelt, bleibt der Ertrag der Schulharmonisierung beschränkt auf die interkantonale Ausbildung von Lehrpersonen und die einheitliche Entwicklung von Lehrmitteln. Für Camenisch wäre das zu wenig.


Kritik und Zustimmung


Von Lehrpersonen sind unterschiedliche Stellungnahmen zu hören. Der langjährige Primarlehrer Hansmartin Sprecher beurteilt die Schulharmonisierung – wie alle Reformen – danach, was im Schulzimmer bei den Schülerinnen und Schülern ankommt.3 Er sehe und spüre davon bisher sehr wenig. Das Geld werde lieber für eine schöne Schulhaus-Fassade ausgegeben statt für die dringend benötigte Infrastruktur in den Schulzimmern. Auch sei die Raumaufteilung in den Schulhäusern teilweise schlecht gelöst, sodass gewisse Unterrichtsformen nur mit grossem Aufwand durchgeführt werden könnten.


Kritisch steht Sprecher auch dem ‹Lehrplan 21› gegenüber, dem Gemeinschaftswerk der 
21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone. Dabei handelt es sich um ein mehrere hundert Seiten dickes Werk. Der ‹Lehrplan 21› beschreibt die Lernziele kompetenzorientiert, definiert, was alle Schülerinnen und Schüler wissen und können sollen, und zeigt auf, wie die einzelnen Kompetenzen über die ganze Volksschulzeit aufgebaut werden; er legt Grundansprüche fest und formuliert weiterführende Kompetenzstufen. Die Grundansprüche in den Fachbereichen Mathematik, Fremdsprachen, Schulsprache und Naturwissenschaften orientieren sich an den nationalen Bildungsstandards. Vieles solle rasch umgesetzt werden, verlangten die Schulleitungen, sagt Sprecher. Viele Lehrkräfte arbeiten aber schon kompetenzorientiert, so auch Sprecher. Daher bliebe genügend Zeit für eine langsame, nicht überhastete und vor allem «visionäre» Einführung des Lehrplans.


Stefan Camenisch sieht den ‹Lehrplan 21› eher pragmatisch. Er werde – wie frühere Lehrpläne auch – in den Regalen stehen. Im Durchschnitt nimmt eine Lehrperson den jeweils gültigen Lehrplan nur zwei- bis viermal pro Jahr zur Hand. Wichtig ist, dass er seinen Niederschlag in den Lehrer-Handbüchern findet, denn damit wird gearbeitet. 


Barbara David hat sich noch nicht so sehr mit dem ‹Lehrplan 21› auseinandergesetzt. Das Einleben am neuen Standort, das Unterrichten neuer Fächer und der Übergangslehrplan (der für die 6. Klassen auch 2015/16 noch gilt) standen für sie bisher im Vordergrund. David war im alten Schulsystem Lehrerin für Mathematik und Geografie/Naturkunde in einer Regelklasse an der Orientierungsschule. Wichtiger als der ‹Lehrplan 21› seien die Lehrmittel, die darauf gründen, meint David: «Das Thema wird viel zu sehr aufgebauscht.»4


Die bessere Durchmischung der Klassen an der harmonisierten Schule findet Barbara David wichtig: «Die Orientierungsschule wurde kaputtgemacht, indem eine gute Durchmischung der Klassen mit der Zunahme der Musikklassen und der Bildung von Sportklassen nicht mehr gewährleistet war.» In Riehen gab es viele Musik- und Sportklassen. Die Regelklassen verkamen mehr und mehr zu «Restklassen». Dazu kam noch die Integration von Schülerinnen und Schülern, die früher in Kleinklassen unterrichtet wurden. Das sei kein Vergleich zur neuen Situation an der Primarschule, meint David, die jetzt eine «interessierte und motivierte Klasse» unterrichtet. Sie findet über die neue Klassenzusammensetzung hinaus auch das Ergebnis der Schulharmonisierung erfolgversprechend. So hält sie es zum Beispiel für sinnvoll, dass eine Lehrkraft meist nur in einer Klasse unterrichtet, dafür aber mehr Fächer abdeckt als bisher. Das ermöglicht eine bessere Beziehung zu den Kindern und ein besseres Vernetzen der verschiedenen Fächer miteinander. 


Mit den vielen Reformen hat Barbara David keine Mühe. Vieles habe es bereits an der Orientierungsschule gegeben; dass die Primarstufe noch nicht in den beiden genannten langen Zyklen laufe, sei vielleicht sogar ein Vorteil: «So kann die Umstellung in vielen, dafür kleineren Schritten nach und nach umgesetzt werden.» Ihren Wechsel von der Orientierungsschule zur Primarschule begleiteten viele hilfreiche Gespräche mit der Schulleitung und Besuche bei den Schulkollegien. Auch die Administration bemühte sich sehr für die Lehrpersonen.


Ressourcen und Ausbau


In der Riehener und Bettinger Bevölkerung rief die Schulharmonisierung wenig Kritik hervor. Zu verdanken ist das wohl nicht zuletzt der Kommunikation, auf die grosser Wert gelegt wurde. Regelmässig gab es Informationsabende zum aktuellen Stand der Entwicklung. Zudem wurde das Projekt sehr grosszügig mit personellen und zeitlichen Ressourcen ausgestattet. Ideal fand Stefan Camenisch, dass Mitarbeiterinnen im Projekt eingesetzt wurden, die innerhalb der Gemeindeverwaltung dieselben Aufgaben wahrnehmen. Der Projektleiter war ausserdem in der ersten Projektphase deutlich der Gemeinde zugeordnet, was auch durch sein Büro im Gemeindehaus zum Ausdruck kam. Dort konnte er viele wichtige Beziehungen innerhalb der Gemeindeverwaltung aufbauen und hatte so eher die übergeordneten Gesamtinteressen statt die Einzelinteressen der Schulen im Fokus. Denn für Riehen und Bettingen stellte die Umsetzung des politischen Auftrags Schulharmonisierung eine besondere Herausforderung dar.


An der Zugehörigkeit der Primarstufe zu den Gemeinden wurde zwar nicht gerüttelt. Die kommunalisierten Schulen bleiben in der Verantwortung der Gemeinden. Neu ist aber, dass die Primarstufe acht statt wie bisher sechs Jahre dauert (zwei Jahre Kindergarten, sechs Jahre Primarschule). Diese Verlängerung bedeutete für die Gemeinden deshalb eine wesentliche Erweiterung der Schule um ein Drittel. Dies hatte einen entsprechenden Zuwachs an Lehrpersonen, die bei den Gemeinden angestellt sind, sowie einen erhöhten Raumbedarf zur Folge.5


Im Vorfeld wurden deshalb zunächst die Einzugsgebiete der neuen Primarstufenstandorte definiert. Die vorgesehenen Einzugsgebiete wurden simuliert, mit Echtdaten überprüft und aktualisiert. Daraus liess sich der Schulraumbedarf pro Standort ableiten. Es wurde klar, dass in Riehen Nord zu wenig und in Riehen Süd zu viel Schulraum vorhanden ist. Ausserdem zeigte sich, dass in Bettingen die Eintrittszahlen von Schülerinnen und Schülern von Jahr zu Jahr sehr stark schwanken. Zusätzlicher Schulraum musste und muss geschaffen werden. Am Standort Hinter Gärten wurden temporäre Schulbauten aufgestellt. Das war die grösste Erweiterung. Die Primarstufe Burgstrasse braucht einen zusätzlichen Kindergarten. Bis der neue Doppelkindergarten an der Paradiesstrasse fertiggestellt und 2017 bezugsbereit ist, gibt es eine provisorische Lösung an der Kornfeldstrasse. Und in Bettingen ist ein Erweiterungsbau des Schulhauses in Planung. Dort braucht es mehr Raum, da das ursprüngliche Schulhaus für vier und nicht für sechs Klassen konzipiert ist.


Die Schulharmonisierung ist also umgesetzt, auch wenn in den kommenden Jahren bestimmt noch Anpassungen folgen werden. Was diese Reform bringt – und was nicht –, wird aber erst in ein paar Jahren beurteilt werden können. Entscheidend für den Erfolg ist die tägliche Arbeit in den Klassenzimmern.


1 www.volksschulen.bs.ch/bildungspolitik/schulharmonisierung.html, Zugriff: 30.7.2015.


2 Gespräch mit Stefan Camenisch, Co-Leiter Gemeindeschulen Bettingen und Riehen, 28.5.2015.


3 Gespräch mit Hansmartin Sprecher, Lehrer an der Primarschule Niederholz, 18.6.2015.


4 Gespräch mit Barbara David, Lehrerin an der Primarschule Wasserstelzen, 2.7.2015.


5 Gemeinde Riehen, Abteilung Bildung und Familie, Projektauftrag: Harmonisierung Gemeindeschulen – Kurzfassung, 27.3.2011, S. 3.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2015

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