Geschichten von Flucht, Verweigerung und Hilfe

Lukrezia Seiler-Spiess

Seit jeher hat die Grenze für Riehen und Bettingen eine wichtige Rolle gespielt. Doch nie war sie so hermetisch geschlossen, wie während des Zweiten Weltkrieges. Dass sie aber auch in dieser schweren Zeit von vielen Menschen überschritten wurde, daran erinnern sich Zeitzeugen.

 

Die Grenze, die Riehen und Bettingen von den deutschen Nachbargemeinden trennt, ist 18 Kilometer lang. Sie führt über Wiesen und Felder, durch Wald, Gebüsch und unwegsame Tobel. Deshalb versuchten vor und während des Zweiten Weltkrieges viele Flüchtlinge, sich in diesem Gebiet in die Schweiz zu retten. Die Grenze wurde streng bewacht durch Grenzwächter und Zöllner, während des Krieges auch durch Truppen der Armee. Trotzdem gelang es immer wieder verfolgten Menschen, unbemerkt in die Schweiz zu gelangen. Viele wurden aufgegriffen und über die Grenze zurückgestellt, vor allem Juden und Zwangsarbeiter aus osteuropäischen Ländern. Andere fanden Aufnahme in der Schweiz, wie zum Beispiel Kriegsgefangene oder Deserteure, zeitweise auch Familien mit kleinen Kindern und alte oder gebrechliche Menschen.

Leben direkt an der Grenze

Die Bewohnerinnen und Bewohner von Riehen und Bettingen, die direkt an der Grenze, in der so genannten Sperrzone wohnten, wurden oft mit verfolgten Menschen konfrontiert, welche in ihren Häusern oder Scheunen Zuflucht suchten oder sich irgendwo versteckten. Dies traf ganz besonders auf die Bewohner des Maienbühlhofes zu, der keine 50 Meter von der Grenze entfernt unterhalb der Eisernen Hand liegt. Die Eiserne Hand, dieser schmale, zum Teil nur 100 Meter breite und ganz bewaldete Geländestreifen, der wie ein Finger zwei Kilometer tief in deutsches Gebiet hineinragt, wurde oft als Fluchtweg benutzt, vor allem nach 1942, als die Deutschen einen mächtigen Stacheldrahtverhau rund um Riehen und Bettingen, nicht aber um die Eiserne Hand, errichteten.

Die heute noch im Maienbühlhof lebende Marie Schmutz-Rüegsegger (geboren 1920) kam 1936 auf den Hof, um ihren Verwandten Ernst und Rosa Kauer zu helfen. Als diese 1940 bald nacheinander starben, betreute sie die drei verwaisten Kinder, zusammen mit dem Grossvater Gottfried Schmutz. Sie erinnert sich noch heute an die vielen Flüchtlinge, die von der Eisernen Hand hinunter auf den Hof kamen: «Als Erstes habe ich die Flüchtlinge verpflegt mit Milch und Brot. Sie waren enorm dankbar, und die Freude, sich in Sicherheit zu fühlen, war gross. Gezwungenermassen musste ich dann der Polizei telefonieren, welche die Flüchtlinge bei uns abholten. Dass viele von ihnen abends wieder an die Grenze gestellt wurden - das habe ich lange nicht gewusst. Es geschah in der Dunkelheit, droben am Waldrand, wo der Stacheldraht aufhörte. Die Grenzwächterund Soldaten haben uns später davon erzählt.»1

Auch Ernst Kauer (geboren 1926), eines der drei verwaisten Kinder, die auf dem Maienbühlhof aufwuchsen, erinnert sich lebhaft an die Kriegszeit: «Es gab ungemütliche Situationen, und manchmal hatte ich Angst, so nahe der Grenze. Wir besassen ja auch Land auf deutschem Boden, das wir auch während des Krieges bewirtschafteten. An einem frühen Morgen - ich war etwa 16 Jahre alt - musste ich zum Grasen auf unsere Wiese gegen inzlingen hinunter. Als ich gegen sieben Uhr mit der Sense auf dem Buckel wieder gegen den Hof hinauf ging, kam plötzlich einer in schwarzer Uniform auf mich zu, fragte mich nach Ausweispapieren, und da ich keine bei mir trug, fuchtelte er mit dem Revolver herum und brüllte: <Mit solchem Gesindel machen wir sonst kurzen Prozess - lass dich hier nicht mehr blicken !>

 

Ich kann mich nicht an viele Flüchtlinge und überläufer erinnern, aber einzelne Begegnungen sind mir noch sehr gegenwärtig. Einmal kamen zwei Franzosen, die aus dem Konzentrationslager Strutthof geflüchtet waren, zu uns auf den Hof. Sie erzählten von den schrecklichen Erlebnissen, die sie hinter sich hatten. Wir gaben ihnen Brot zu essen; einer der beiden Männer weinte, als er sagte, dass er seit langem nie mehr etwas Richtiges zu essen erhalten habe. - Und ein andermal entdeckten wir im tiefen Gras am Waldrand oben zwei Schweizer, die in Deutschland bei der Waffen-SS gedient hatten und jetzt heimlich wieder in die Schweiz zurückkehren wollten. Wir übergaben sie den Grenzwächtern.

Unvergesslich bleibt mir ein kalter Dezemberabend des Jahres 1944. Wir waren gerade beim Nachtessen, als plötzlich ein deutscher Soldat in Uniform zu uns in die Küche trat und fragte, wo er da sei. Er war sehr erleichtert zu hören, dass er sich auf Schweizer Boden befinde, aber er habe ein Problem: Droben im Wald liege seine Frau mit den beiden kleinen Kindern, er brauche Hilfe, um sie hier hinunter zu bringen. Ich müsse mit, hiess es, ich sei der älteste, und so stapfte ich mit dem Soldaten gegen den Wald hinauf, auf der Mitte der verschneiten Wiese, die von beiden Seiten von den Deutschen überblickt werden konnte. Endlich kamen wir in den Wald, wo man uns nicht mehr sah, und auf die Hügelkuppe. Aber wo war die Frau? Auf einen Pfiff des Mannes ertönte ein Antwortpfeifen, und so fanden wir die Frau in einem Jungbuchenwuchs, nur etwa 30 Meter von der Stettener Grenze entfernt, auf einer Decke am Boden mit den beiden Kindern - das Mädchen war dreijährig, das Büblein sieben Monate alt. Der Vater sagte zu dem Mädchen: <Schau, das ist der Sankt Nikolaus), und es liess sich vertrauensvoll von mir durch den Wald tragen, während der Mann den Säugling trug und die Frau stützte. Voller Angst überquerten wir die offene Wiese oberhalb des Hofes - würden die Deutschen es wagen, auf Schweizer Boden zu kommen, um uns zu verhaften? - aber wir erreichten glücklich das Haus, wo Marie Schmutz die Kinder auf der Ofenbank wärmte und ihnen Milch zu trinken gab. Dann telefonierten wir dem Grenzwächter und die Familie wurde abgeholt und nach Basel gebracht.»

Die junge Frau, die in jener Nacht mit ihrer Familie gerettet wurde, erklärte im Einvernahmeprotokoll des Polizeidepar tements Basel, dass ihr Mann, der in einem künstlerischen Beruf tätig war, im Oktober 1944 im Zuge des «Totalen Kriegseinsatzes» zum Militärdienst eingezogen worden war zur künstlerischen und geistigen Betreuung innerhalb der Wehrmacht. Da die Gefahr gross war, dass er in dieser Funktion nationalsozialistisches Gedankengut hätte vertreten müssen, entschloss sich die Familie, in die Schweiz zu flüchten: «Am Mittwoch, 13. Dez. 1944, ca. 0400 Uhr brachen wir mit den Kindern via Freiburg auf. Davor war mein Mann allein nach Wyhlen gefahren, um sich den Grenzübertritt bei der Chrischona genau anzusehen. Dasselbe hatte ich im September 1944 schon getan. Wir fuhren also in einer Fahrt von 42 Stunden von Freiburg bis Wyhlen, übernachteten dort zweimal und brachen am Sonntag früh nach Inzlingen auf.

Der Grenzübertritt bei der Chrischona, den wir im Auge hatten, erwies sich als nicht möglich. Wir mussten also weiter nach Inzlingen, wo wir mit Hilfe eines Bauern bei der Eisernen Hand die Grenze überschritten. Nach vierstündigem verzweifelten Umherirren in der Dunkelheit und Kälte mit den beiden weinenden Kindern verloren wir die Orientierung völlig und richteten uns auf dem Waldboden ein, um die Nacht abzuwarten. Mein Mann versuchte nochmals, allein den Weg zu finden und stiess wie durch ein Wunder auf einen Bauernhof bei Riehen, von wo er uns in Begleitung eines Bauernjungen nachholte. Die benachrichtigten Grenzer nahmen uns bei dem erwähnten Bauernhof in Empfang. Man übergab uns später der Polizei, d.h. das 7 Monate alte Kind wurde ins Kinderspital verbracht, während man mich und meine Tochter in der Mustermesse unterbrachte. Meinen Mann hat man nach dem Lohnhof überführt. Er kann unmöglich nach Deutschland zurückkehren.»2 Dieser Mann, der als Deserteur galt, und seine Familie wurden von der Schweiz aufgenommen und durften im Land bleiben, freilich während langer Zeit, in der die Kinder in Pflegefamilien untergebracht wurden, getrennt.

Das schwere Los der Zwangsarbeiter

«Eine Begegnung mit einer jungen Zwangsarbeiterin werde ich nie vergessen», fährt Ernst Kauer in seinen Erinnerungen weiter: «Auf unserem Land auf Inzlinger Boden standen auch einige Kirschbäume. Einmal, als wir dort Kirschen pflückten, war auf dem nächsten Baum ein junges Polenmädchen an der Arbeit. Sie arbeitete als Zwangsarbeiterin bei einem Inzlinger Bauern, der ein bekannter Nazi war. Wir kannten das Mädchen vom Sehen und plauderten ein paar Worte mit ihm. Doch als dies der Bauer sah, kam er herbei und versetzte dem Mädchen links und rechts saftige Ohrfeigen. Ein paar Tage später stand es plötzlich bei uns auf dem Hof. Es wolle fliehen, sagte es. Ich erschrak - verstecken konnten wir es ja nicht, da bei uns auf dem Hof Grenzwächter und Sodaten täglich ein und aus gingen. Da kam gerade ein junger Grenzwächter vorbei und ich fragte ihn, was ich tun solle. Er nahm das Mädchen mit auf den Posten. Doch am gleichen Abend brachte er es wieder zu uns - es könne nicht in der Schweiz bleiben, es müsse über die Grenze zurückgebracht werden. Wir brachten es dann in der Abenddämmerung etwas oberhalb des Hofes an eine Stelle, wo es ganz heimlich über die Grenze zurückkehren konnte.

Aber natürlich war seine Abwesenheit auch in Inzlingen bemerkt worden - das Mädchen war nachher verschwunden, wir haben es nie mehr gesehen.»

So wie diese junge Polin waren ungezählte Männer und Frauen aus den von den Deutschen besetzten Gebieten - aus der Ukraine, Russland, Kroatien und vielen anderen Ländern - deportiert und in Deutschland zur Zwangsarbeit eingesetzt worden. Im Wiesental arbeiteten viele Polen auf Bauernhöfen. Es ging ihnen oft schlecht; laut offizieller Vorschrift - an die sich freilich nicht alle Bauernfamilien hielten - sollten sie keinen Kontakt zur Bevölkerung haben, nicht am gemeinsamen Tisch essen, ja selbst das Anbieten einer Zigarette wurde geahndet. Es sind mehrere Fälle bekannt, in denen polnische Zwangsarbeiter, die eine Beziehung zu einer deutschen Frau hatten, hingerichtet wurden. Bekannt ist auch der Fall jener Polen, die bei Stettener Bauern arbeiteten und kurz vor Kriegsende erschossen wurden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Zwangsarbeiter versuchten, in die Schweiz zu fliehen. Sie wurden aber, soweit sie aus dem Osten kamen, in der Regel rigoros zurückgewiesen. Noch im September 1944 bestimmten die Bundesbehörden, dass «Ostarbeiter» zurückgewiesen werden mussten, und diese Praxis wurde zum Teil bis zum Frühjahr 1945 durchgesetzt.'

 

Die Erinnerung an geflüchtete polnische Zwangsarbeiter ist bei vielen Riehener und Bettinger Zeitzeugen wach. So erzählt Susy Wassmer-Schweizer (geboren 1929), die im elterlichen Bauernhof an der Bäumligasse 6, am Ausgang des Autales aufgewachsen ist: «Es kamen viele Flüchtlinge von der Au her. Wir hatten nachts immer Scheune und Stall offen, legten auch Decken in den Futtergang im Stall, wo es warm war. Die Flüchtlinge schliefen dort, und am Morgen holte die Mutter sie in die Küche und gab ihnen Zmorge. Manchmal musste ich sie holen; wenn ich dann sagte (Kommt in die Küche>, dann haben sie gestrahlt. Manchmal waren es bis acht oder zehn Menschen, an Kinder kann ich mich nicht erinnern. Ich denke, es waren fast immer Juden, aber auch Polen.

Am Anfang meldeten wir die Leute bei der Polizei, soweit ich mich erinnern kann. Dann wurden sie bei uns abgeholt. Aber dann hörten wir, dass die Flüchtlinge wieder über die Grenze hinausgestellt wurden. Darum meldeten wir sie dann nie mehr. Wir sagten den Flüchtlingen, dass sie ja nicht bei Tageslicht und nur zu zweit oder zu dritt weitergehen sollten. Manchmal blieben sie dann bis zum Abend und assen dann natürlich auch mit uns am Mittag. Wir fragten nie etwas, und sie haben auch nie etwas erzählt. Ich nehme an, dass deutsche Schlepper den Leuten sagten, dass bei uns die Scheune offen sei, und dass darum die Leute über Inzlingen und durch die Au zu uns kamen. Ich war damals noch in der Schule, vielleicht 13 Jahre alt. Wir wurden dann angezeigt von unserem Nachbarn. Dann wurde uns befohlen, dass wir immer nachts die Scheune und den Stall abschliessen mussten, und die Grenzwächter oder Soldaten kontrollierten das. Ich erinnere mich, dass ich das schrecklich fand, dass wir die Scheune nicht mehr öffnen durften für die Flüchtlinge - es hat mich fast umgebracht, dass die Schweizer so gemein waren.

Einmal - da war ich schon aus der Schule, es muss also 1943 oder 1944 gewesen sein - kam ein Pole zum zweiten Mal. Ich war am frühen Morgen mit den Pferden auf dem Weg zur Tränke am Brunnen in der Oberdorfstrasse. Es war noch dunkel. Plötzlich kam ein Pole hinter einer Telefonstange hervor; er war schon einmal bei uns gewesen, war dann geschnappt und ausgeschafft worden. Er sagte: <Siehst du, ich bin wieder gekommen.» Ich nahm den Polen mit nach Hause - er konnte gut Deutsch und erzählte, dass er als Zwangsarbeiter bei einem Bauern im Wiesental gewesen sei. Wir konnten ihn nicht verstecken, das wäre unmöglich gewesen, wir waren viel zu gut überwacht. Aber ich brachte ihn nach Unterkulm im Kanton Aargau auf den elterlichen Bauernhof meiner Mutter, zu meinem Onkel Paul Müller. Dort konnte er dann bleiben; wir hörten aber später nichts mehr von ihm.»

Auch ihr Bruder Emil Schweizer (geboren 1935) bestätigt: «Ich möchte von dieser furchtbaren Zeit nicht mehr sprechen und auch nicht mehr daran denken. Ja, es kamen viele Flüchtlinge zu uns, hauptsächlich Polen. Sie kamen in der Nacht oder am Morgen früh, waren bei uns in der Scheune, und die Mutter gab ihnen Zmorge. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an Details, ich war ja noch klein. Aber ich weiss, und kann mich erinnern, dass sie oft kamen, sehr oft.»

Nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie wurden viele Fremdarbeiter, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt. So arbeiteten zum Beispiel in Badisch Rheinfelden von 1940 bis 1945 über 4000 Menschen aus den verschiedensten Nationen in den Aluminiumwerken und in der chemischen Industrie. Knapp die Hälfte von ihnen waren Kriegsgefangene, vor allem Franzosen und Russen. Die anderen, Zwangsarbeiter und halb freiwillig rekrutierte Arbeiter, stammten vor allem aus Frankreich und Russland, aber auch aus Belgien, Holland, Italien und Kroatien. Viele von ihnen flohen in die Schweiz, vor allem über die Bettinger Grenze, und wurden dort ins Zollhaus gebracht. Franzosen wurden in der Regel aufgenommen; sie konnten bis Ende 1942 in den unbesetzten Teil Frankreichs Weiterreisen. Flüchtlinge aus anderen Länderen wurden in der Schweiz interniert oder aber, wie im Falle der «Ostarbeiter», wieder ausgeschafft.

Im Zollhaus

Viele menschliche Schicksale entschieden sich in den Grenzwachtposten. Im Zollhaus Bettingen, in welchem neben den Postenbüros auch Wohnungen der Grenzwächter untergebracht waren, erlebten auch deren Kinder die Kriegszeit aus nächster Nähe. Robert Keiser (geboren 1931), der von 1939 bis 1943 im Bettinger Zollhaus aufwuchs, wurde schon als Schulkind mit Flüchtlingen konfrontiert. Sein Vater Pius Keiser (1901-1980), wurde 1939 zum Korporal befördert und als Postenchef auf das Zollamt Bettingen versetzt. In seinen Lebenserinnerungen erzählt Robert Keiser von den Flüchtlingen, die nach Kriegsausbruch immer häufiger im Zollhaus eintrafen: «Der Krieg beschäftigte uns mehr und mehr mit menschlichen Schicksalen. Fast Nacht für Nacht trafen beim Zollamt flüchtende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene ein. Sie hatten in den Konfitüren der Rotkreuzpakete winzige, in Leukoplast eingeklebte Krokis gefunden, die als Ziel das Chrischonakirchlein aufzeichneten, das man von weither sah und das zudem alle Viertelstunden schlug. Trotzdem gab es ein Problem: Der Grenzverlauf war und ist derart kompliziert, dass die Flüchtenden wohl den rettenden Schweizer Boden erreichen konnten, sich aber im nächsten Moment wieder auf deutschen Boden verirrten - oft in den Tod.

An einem trüben Sonntagmorgen war ich auf dem Heimweg aus der Messe in der katholischen Kirche von Riehen, als drei eigenartige Männer mit Lumpen an den Füssen aus dem Wald traten und mich fragten: <La Suisse - Bâle?>. Auch ohne Frühfranzösisch verstand ich, was sie suchten und zeigte ihnen den Weg, rannte aber so schnell ich konnte zum Zollaus und berichtete den Vorfall. Die Polizei wurde benachrichtigt. Sie rückte mit dem überfallauto, einem vierplätzigen DKW ohne Seitentüren, aus und griff die drei Personen auf. Es waren französische Kriegsgefangene.

Für Vater und Mutter gab es oft Nacht für Nacht Flüchtlinge und sogar Deserteure im kleinen Zollbüro und in unserem Wohnzimmer aufzunehmen, mit vom Roten Kreuz gespendetem Tee, Brot und Käse zu verpflegen, sich in der Waschküche waschen zu lassen und dann der Polizei zu übergeben. Sie wurden dann je nach Nation interniert oder über Genf in das unbesetzte Frankreich ausgeschafft. Gewisse Nationalitäten wurden abgewiesen. Warum wussten wir nicht. Einmal telefonierte mein Vater von Pontius zu Pilatus, um die Abweisung von zwei Jugoslawen zu verhindern, bis man ihm sagte, er sei ein Querulant. Es nützte nichts. Einer von ihnen zeigte meinen Eltern ein kleines Foto mit seiner Frau und seinem neun Monate alten Söhnchen. Er bat Vater auf den Knien, mit ihm Erbarmen zu haben. Ein Grenzer brachte sie an eine meist unbewachte Stelle der Grenze. Ein deutscher Higa (Hilfsgrenzangestellter) erzählte anderntags, sie hätten zwei Jugoslawen aufgegriffen und auf der Flucht erschossen. Auch er hatte Tränen in den Augen.

Wir erlebten auch herzzerbrechende Szenen des Glücksgefühls und der Dankbarkeit. Ich erinnere mich an einen dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Korsen, der meiner Mutter im Wohnzimmer mit dem <Ave Verum> von Mozart dankte. Als ich später als Student in der Jesuitenkirche von Luzern das Ave sang, musste ich immer wieder an den korsischen Flüchtling denken, und wie wir alle geweint hatten. Einige der Flüchtlinge sandten uns nach dem Krieg Dankesbriefe aus ihrer Heimat, auch aus Korsika. Die französische Regierung anerkannte die Arbeit meiner Mutter mit einem besonderen Schreiben.

Auch einen Tod aus Erschöpfung erlebten wir. Völlig durchnässt erschien eines Nachts ein etwa 50-jähriger Mann. Nur mit Mühe schaffte er es, die paar Stufen zum Zollbüro hochzusteigen, und dann brach er zusammen. Mit etwas Tee erholte er sich wieder etwas, trockene Kleider wollte er nicht anziehen, sondern er verlangte nach einem Priester. Nach der Letzten ölung verstarb er am Morgen auf unserer Couch. Später erfuhren wir, dass es ein deutscher Priester gewesen war.»4 Im persönlichen Gespräch fügte Robert Keiser hinzu, dass in jenen Jahren seiner Erinnerung nach kaum jüdische Flüchtlinge auf den Zollposten kamen, sondern dass er sich vor allem an französische Kriegsgefangene erinnere, die wohl in den Fabriken von Badisch Rheinfelden gearbeitet hatten: «Sie kamen ganz zerlumpt, die Füsse in Lumpen eingewickelt, damit man ihre Schritte nicht hörte. Da meine Mutter perfekt Französisch sprach, konnte sie sich gut mit ihnen verständigen. - Ich finde es wichtig zu sagen, dass die Leute, die Flüchtlinge zurückschicken mussten, nur ihre Pflicht leisten mussten. Andere Instanzen bestimmten die Weisungen, an die sie sich zu halten hatten. Heute wirft man diesen Leuten unmenschliches Verhalten vor, doch sie waren in einem Gewissenskonflikt zwischen Pflichterfülllung und Menschlichkeit. Oft wurde die Menschlichkeit unterdrückt, weil es letztendlich um ihre eigene Existenz ging.»

Auch Hans-Ulrich Schäfer (geboren 1936) erlebte einen Teil seiner Kindheit im Bettinger Zollhaus. Sein Vater Walter Schäfer (1910-1989) kam als Nachfolger von Pius Keiser 1943 von Roggenburg/BL nach Bettingen und blieb dort bis 1947 Postenchef. Hans-Ulrich Schäfer erinnert sich, wie seine ganze Kindheit von der Grenze geprägt war: «In dem winzigen Weiler Sägemühle, Gemeinde Roggenburg, wo wir bei Kriegsausbruch wohnten, erlebte ich im Juni 1940, wie die Franzosen, die auf der anderen Seite der Lützel ihren Posten hatten, mitten in der Nacht davonrannten, nicht ohne vorher die Brücke mit gewaltigem Getöse in die Luft zu jagen. Am nächsten Morgen standen dann die Deutschen am anderen Ufer. In Bettingen wurde ich eingeschult, aber da das Zollhaus relativ weit vom Dorfkern entfernt war, blieben mir meine Mitschüler und die Dorfbewohner recht fremd. Umso interessanter war für mich alles, was im und ums Zollhaus geschah. Ich erinnere mich an die vielen fremden Menschen, die auf den Posten gebracht und dann im Postenbüro von meinem Vater befragt wurden. Es waren Männer und Frauen, manchmal Einzelne, manchmal Gruppen von vier bis fünf Personen, die von Grenzwächtern oder auch vom Militär aufgegriffen worden waren. Mit erhobenen Händen mussten sie bis zum Zollhaus gehen, gefolgt vom Grenzwächter mit dem Gewehr im Anschlag. Wenn auf dem Posten zu wenig Personal anwesend war, mussten sich die Flüchtlinge an die Wand stellen mit erhobenen Händen, bis Verstärkung eintraf. Ich erinnere mich deutlich an diese Szenen; einmal wurde ich aufgefordert, meinen Vater zu holen im Wald, und laut rufend rannte ich davon. Die Leute wurden dann auf Waffen durchsucht und nachher in einem Büro befragt. Manchmal wurde auch meine Mutter gerufen, um Leibesvisitationen bei Frauen durchzuführen. Sie gab dann den Flüchtlingen Tee und etwas zu essen. Später kam dann meistens das Polizeiauto, um die Leute abzuholen.

Ich war ja noch klein und verstand vieles nicht, aber ich spürte die Unruhe und Aufregung, wenn Leute auf den Posten gebracht wurden, spürte vor allem auch das Fremde, das von diesen Menschen ausging. Und ich fühlte, dass sie teilweise unheimliche Schicksale hatten und furchtbar litten, weil sie nicht wussten, ob sie am Ziel ihrer Flucht angekommen waren oder wieder zurückgeschickt wurden. Das hat man irgendwie gespürt, auch als Kind, dass hier etwas ganz Verrücktes passierte mit diesen Menschen. Wenn ich dann fragte <Wer war das?>, so lautete die Antwort: <Das waren Juden.> Nur vereinzelt kann ich mich an polnische Flüchtlinge erinnern, weil es dort Verständigungsschwierigkeiten gab.

Gelegentlich gab es aber auch bewaffnete Konflikte und Schiessereien. Ich erinnere mich, dass sich eines Nachts ein Mann an den Grenzwächter, der vor dem Zollhaus Wache stand, heranschlich und ihn von hinten überfiel. Auf dessen laute Hilferufe rannte alles aus dem Haus, und die Situation konnte ohne Schiesserei bereinigt werden. Wie man mir später erzählte, wusste dieser Mann nicht, wo er war, und wollte sich um jeden Preis in die Schweiz durchschlagen.

Ich weiss nicht, wie meine Eltern über ihre Tätigkeit im Zollposten dachten. Mein Vater war sehr verschwiegen und verschlossen; er hat uns sehr wenig über seine Tätigkeit, über Zwischenfälle im Gelände oder Schwierigkeiten, die er wohl immer wieder angetroffen hat, erzählt. Auch später hat er nie mit uns über seine Gefühle gesprochen. Ich spürte aber, dass er zur einheimischen Bevölkerung, die seine Handlungen oft kritisierte, eine gewisse Distanz hatte. Aber er hatte seine Befehle, die er, wie wahrscheinlich die meisten Grenzwächter, absolut ernst genommen hat. Ich selber bewunderte ihn für seinen Mut und seinen Durchhaltewillen.»

Dass die Rückweisung von Flüchtlingen für Hans-Ulrich Schäfers Vater ein grosses Problem darstellte, zeigt ein Text in der Chronik des Grenzwachtpostens Bettingen. Dort schrieb Walter Schäfer 1945: «Die teilweise undankbaren Aufgaben, die dem Grenzwachtkorps übertragen sind, setzen es wiederholt der Kritik durch die Zivilbevölkerung aus.

Bei der Rückweisung von Flüchtlingen, die auf Grund der geltenden Vorschriften in unserem Lande keine Aufnahme finden konnten, spielten sich oft Szenen ab, die die Grenzwächter auf eine harte Nervenprobe stellten. Die Grenzwächter hatten aber die Dienstanweisungen der Polizeiabteilung zu befolgen und durften, so gern sie dies getan hätten, sich nicht erweichen lassen, wenn unser Land nicht mit Flüchtlingen überschwemmt werden sollte. Es ist begreiflich, dass die Zivilbevölkerung, welcher die Vorschriften der Polizeiabteilung unbekannt waren, ganz gefühlsmässig für diese Flüchtlinge Partei ergriff. Weniger verständlich und besonders unangenehm wurde von der Grenzwachtmannschaft empfunden, dass Polizei-, Gemeinde- und Regierungsorgane wie auch die Presse, die von den in Frage kommenden Weisungen Kenntnis hatten, die Angriffe auf unser Personal unterstützten und so die Erfüllung der an sich nicht leichten Aufgabe sehr erschwerten.»5

Auf der Flucht

Die Beobachtung von Hans-Ulrich Schäfer, dass gegen Ende des Krieges die Zahl der Flüchtlinge zunahm, wird durch zwei Aussagen in der Chronik des Grenzwachtpostens Grenzacherstrasse bestätigt. Dort schrieb der Chronist 1943: «Auch die Flüchtlinge aus Deutschland versuchen in vermehrtem Masse in die Schweiz zu gelangen. Alle Rassen und Typen europäischer Staaten werden von unseren Grenzwächtern eingefangen und je nach den bestehenden Vorschriften sofort wieder über die Grenze zurückgeschoben, oder aber der Polizei übergeben.» Und 1944 notierte er: «Der Flüchtlingszustrom an unseren Grenzen nimmt immer mehr zu. Fast täglich bringen unsere Grenzwächter Franzosen, Russen, Deutsche, Holländer usw. vom äusseren Dienst auf den Posten.»6

Wie viele dieser Flüchtlinge an der Riehener oder Bettinger Grenze direkt im Gelände «zurückgeschoben» oder später von der Polizei ausgeschafft wurden, ist unbekannt, da alle diesbezüglichen Akten verschwunden sind. Das Schicksal jener Menschen aber, die von der Schweiz aufgenommen wurden, ist ausführlich dokumentiert in den Flüchtlingsakten, die im Bundesarchiv Bern aufbewahrt werden. Eine jede Akte umfasst eine bewegende, schicksalhafte Lebensgeschichte, die von Verfolgung, Flucht und überleben erzählt.

Anne B. (geboren 1922) erinnert sich an die dramatischen Umstände ihrer Flucht in die Schweiz, die sie im Herbst 1944 als junges Mädchen ganz allein bewältigen musste. Sie war als Tochter eines Universitätsprofessors und einer aus jüdischer Familie stammenden Mutter wohlbehütet in Freiburg in Breisgau aufgewachsen. Doch nach Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933 und der Inkrafttretung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 war sie nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch eine «Halbjüdin», die zwar die Schule noch einige Jahre besuchen, an den meisten Aktivitäten ihrer Schulkameradinnen aber nicht mehr teilnehmen durfte. Ein Studium war ihr verwehrt. Durch Vermittlung ihres Bruders fand sie Arbeit bei der Firma Hoffmann-La Roche in Grenzach. Anne B. erzählt: «Im November 1944, an einem Samstag, Hess mich der technische Leiter der Firma kommen und sagte: <Die Gestapo hat nach ihnen gefragt, die kommen am Montag - sie müssen in ein Lager.> Mehr sagte er nicht, aber ich antwortete: <Ja, dann weiss ich, was ich zu tun habe.> Ich erzählte alles einem unserer Prokuristen, der sich auf beiden Seiten der Grenze gut auskannte. Er erklärte mir den Weg über den Lenzen, den ich einschlagen sollte, und gab mir die Adresse eines Schweizer Mitarbeiters und 50 Rappen, damit ich mit dem Tram dorthin fahren könne. Früh am anderen Morgen startete ich, ganz ohne Gepäck und ohne Geld, denn ich dachte, man dürfe keines auf sich tragen. Ich war ja so naiv und so jung - ich dachte einfach, dann bist du in der Schweiz, und dann ist alles gut. Am hellichten Tag ging ich also gegen die Grenze hinauf, über das Neufeld gegen den Lenzen - es war wunderbares Wetter, aus dem Wiesental hörte man Schüsse. Da stand ein Soldat. Ich verwickelte ihn gleich in ein Gespräch, um ihn abzulenken und davon abzuhalten, meinen Ausweis zu verlangen. Er erzählte mir, dass er aus Friesland stamme, und fügte bei: <Aber da oben, so nahe bei der Grenze, dürfen Sie eigentlich gar nicht spazieren.» Ich wolle nur ein paar äpfel holen, da drüben habe es noch späte äpfel an einem Baum, sagte ich, und wo denn da eigentlich die Grenze sei? Er erklärte mir alles, zeigte mir den Stacheldrahtverhau, welcher der Grenze entlang ging und nur einen kleinen Durchgang beim Lenzen aufwies, zeigte mir auch die Chrischona und unten im Tal das Bettinger Zollhaus. Ich verabschiedete mich und ging abwärts gegen den Weg', der zur Lücke im Stacheldraht führte. Und da stand ein zweiter Soldat. Er war sehr scharf, fragte mich nach meinem Woher und Wohin, aber ich rief ihm zu, dass ich nur ein paar äpfel holen wolle und den Ausweis schon seinem Kollegen gezeigt habe, und so liess er mich durch. Aber er stand genau auf dem Weg, den ich hinaufgehen sollte. Ich liess einen Handschuh fallen, bückte mich, um zu sehen, ob er mich noch beobachtete - und dann rannte ich los wie eine Wahnsinnige, den Berg hinauf und durch die Lücke im Stacheldraht.

Dort stand ein Mann und musterte mich. <Bin ich jetzt in der Schweiz?», fragte ich ihn. Ja, das sei ich, aber ich müsse dort hinunter ins Zollhaus, um mich anzumelden, und er beobachtete genau, ob ich das auch tat. Im Zollhaus sagte ich, so wie man mir das erklärt hatte, ich ersuche um Asyl - und dann brach ich in furchtbares Weinen aus. Ich war ja so jung und so allein, und die ganze Spannung löste sich. Der Postenchef befragte mich, wo genau drüben hinter der Grenze Truppen stünden - <Sagen Sie mir das, oder ich stel le Sie zurück!) Als ich mich weigerte, musste ich mich ausziehen, seine Frau untersuchte mich, ich schluchzte und schluchzte, und plötzlich hatte er Mitleid mit mir, und ich bekam einen Teller Suppe. Ich habe diese ambivalente Haltung immer wieder erlebt - einerseits die starre, wenig einfühlsame Beamtenmentalität und andererseits wieder Mitleid und Anteilnahme.

Der Grenzwächter telefonierte, und bald kam der Polizeiwagen, mit dem ich auf den Polizeiposten Riehen gefahren wurde. Die Polizisten verhörten mich hier sehr ausführlich. Und auch hier wechselte die unbeteiligte Haltung plötzlich in Anteilnahme und ich erhielt Kaffee und ein Kopfwehpulver, weil ich vom vielen Weinen furchtbare Kopfschmerzen hatte. Und weiter gings mit dem Polizeiwagen in den Lohnhof, das Basler Untersuchungsgefängnis. Das war ein furchtbarer Schock für mich; ich hatte doch geglaubt, wenn ich in der Schweiz sei, sei alles gut. Wieder wurde ich befragt, musste ellenlange Fragebogen ausfüllen und wurde in eine Zelle gesperrt. Doch ein junger Polizist erbarmte sich meiner und liess mich im Gang sitzen. Die Nacht und die nächsten Tage musste ich im «Heim für gefallene Mädchen», dem so genannten Zufluchtshaus an der Missionsstrasse verbringen, wo ich äusserst unfreundlich empfangen wurde.

Nach drei Tagen wurde ich ins Quarantänelager an der Elisabethenstrasse verlegt. Hier fühlte ich mich wohl, ich war unter Meinesgleichen, und wir waren alle in der gleichen Situation. Menschen aus 28 Nationen wohnten hier beisammen; ich war eine der Jüngsten, und alle beschützten mich. Ich habe dort so viel Freundschaft erlebt und so viel Schönes, wie man es im normalen Leben nicht Findet.

Die nächsten Stationen in meinem Flüchtlingsleben waren Lager in Les Avants und in Adliswil, in einer alten Fabrik. Es war nicht leicht, den Lageralltag, vor allem das Nichtstun, zu ertragen, und bald hatte ich den Lagerkoller. Die einzige Möglichkeit, aus dem Lager herauszukommen, war die, eine Stelle als Dienstmädchen zu finden - eine ganz harte, aber sehr lehrreiche Episode in meinem Leben. Gegen Herbst 1945 wurde es dann für uns Flüchtlinge möglich, als Volontärin in einem Büro zu arbeiten. Ich meldete mich bei der Hoffmann-La Roche in Basel und erhielt, dank der Fürsprache des Direktors aus Grenzach, eine Stelle. Noch war ich Flüchtling und musste regelmässig zur Fremdenpolizei und dort unterschreiben, dass ich so bald als möglich ausreisen werde. Doch das Schicksal wollte es anders; ich lernte meinen zukünftigen Mann kennen, heiratete 1947 und lebe nun seit mehr als 50 Jahren in diesem Land, das meine zweite Heimat geworden ist.»

Grenze zwischen Leben und Tod

In jenen Jahren konnte der Schritt über die Landesgrenze wirklich die Grenze zwischen Leben oder Tod bedeuten. Ein Dossier der Flüchtlingsakten im Bundesarchiv Bern belegt die tragische Geschichte des betagten jüdischen Flüchtlings Alex Grüneberg und seiner Gattin Friederike Grüneberg, die am 24. Dezember 1942, am Heiligen Abend, kurz vor Mitternacht die Schweizer Grenze am Hirtenweg beim Fried hof Hörnli überschreiten wollten. Alex Grüneberg schilderte die Flucht im Einvernahmeprotokoll vor dem Territorialkommando Basel mit folgenden Worten: «Am 16. Dezember 1942 verliess ich mit meiner Frau Berlin und wir fuhren direkt nach Freiburg, von da nach Weil und Grenzach, wo wir die beste Passierstelle erkundeten. In der Nacht vom 24. Dezember überschritten wir die Schweizer Grenze beim Hirtenweg (Hörnli). Da wir zu schwer bepackt waren, stürzten wir auf Schweizer Boden hin, beim Aufstehen bemerkte ich nicht, dass meine Frau wieder auf deutschen Boden zurückgekehrt war, um eine verlorene Handtasche zu suchen. Bei dieser Gelegenheit kehrte die Wache wieder zurück und verhaftete sie, sodass wir uns nicht mehr sehen konnten. Der Schweizer Zollbeamte führte mich dem Zollamt Hörnli zu. - Wir haben die Absicht, wenn irgendwie die Möglichkeit sich wieder bieten wird, entweder nach England zu unserem Sohn oder nach Palästina zu meiner Tochter und meinem Schwiegersohn weiterzureisen.»

Der Polizeibeamte des Polizeipostens Riehen bestätigte in seinem Rapport vom 25. Dezember den Sachverhalt (Siehe Dokument links). Am gleichen 25. Dezember schrieb ein Beamter des Grenzwachtpostens Grenzacherstrasse folgenden Bericht: «Betr. dem weitern Schicksal der gestern abend bei ihrem illegalen Grenzübertrittsversuch von den deutschen Behörden erwischten Frau Grüneberg Friederike [...] folgende Angaben: Heute morgen 0800 beobachteten wir, wie ein Leichenwagen bei der deutschen Zollstelle vorfuhr, ein Sarg abgeladen und eine Person in diesen hinein verpackt wurde. Nachträgliche Nachforschungen ergaben, dass es sich unzweifelhaft bestimmt um obige Frau Grüneberg handeln muss.»

Ein Schreiben des Territorialkommandos Basel vom 28. Dezember 1942 an das Armeekommando informiert uns über Alex Grünebergs weiteres Schicksal: «[...] Er wurde am 28.12.42 mit dem Zuge ab Basel 0725 Uhr begleitet ins Auffanglager Bad Geisshubel b/Rothrist eingeliefert. Gemäss beiliegendem Bericht des Grenzwachtkorps scheint die an der Grenze von den Deutschen verhaftete Ehefrau des Genannten inzwischen gestorben zu sein. Wie wir inzwischen vernommen haben, soll sie sich das Leben genommen haben, wovon wir Grüneberg aber keine Mitteilung gemacht haben. - Wir ersuchen um weitere Verfügung.» Alex Grüneberg durfte in der Schweiz bleiben und wurde als Zivilflüchtling aufgenommen. Auf Grund seiner geschwächten Gesundheit konnte er nach einiger Zeit das Internierungslager verlassen und in Basel eine Privatunterkunft beziehen. Doch ein einziger Schritt über die Grenze hatte für seine Gattin den Tod bedeutet.

1 Lukrezia Seiler, Jean-Claude Wacker: «Fast täglich kamen Flüchtlinge», Riehen 1996, S. 113f

2 Schweizerisches Bundesarchiv Bern, Flüchtlingsakten

3 Koller Guido: Entscheidungen über Leben und Jod. Die behördliche Praxis in der schweizerischen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges. In: Studien und Quellen, Band 22, Schweizerisches Bundesarchiv, Bern 1996, S. 57

4 Aus den Aufzeichnungen: von Robert Keiser-Stewart: Keine Wurzeln. Episoden aus dem Leben einer Aussenseiterfamilie. Unveröffentlichtes Manuskript, Luzern 2000

5 Chronik Grenzwachtposten Bettingen, S. 85f

6 Chronik Grenzwachtposten Bettingen, S. 47 Quellen: Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E 4264

 

Gespräch mit Anne B„ 14.7.1997; Ernst Kauer Riehen, 9.2.2004; Robert Keiser, Horw, 21.4.2004; Hans-Ulrich Schäfer, Basel, 14.8.2004; Emil Schweizer, Riehen, 28.7.2004; Susy Wassmer-Schweizer, 27.7.2004

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2004

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