Klangbilder einer verborgenen Welt

André Baltensperger

Am 28. Oktober erhielt die in Riehen lebende polnische Komponistin Bettina Skrzypczak den Kulturpreis der Gemeinde Riehen. Die Laudatio.

 

Alle hier Versammelten, Freunde, Gäste, Honoratioren der Gemeinde, die Jury, die Musiker und das gastgebende Haus, die Musikschule Riehen, freuen sich, dass der Kulturpreis der Gemeinde Riehen an die Komponistin Bettina Skrzypczak verliehen wird. An eine Musikerin, Wissenschafterin, Komponistin - kurz an eine künstlerisch und geistig sehr bewegte und bewegende Persönlichkeit -, die seit bald sechzehn Jahren hier in dieser Gemeinde lebt und wirkt.

 

Bettina Skrzypczak stammt aus Polen; sie ist 1962 in Poznan (Posen) geboren. Nach Absolvierung der Mittelschule und der Erlangung eines Klavierdiploms in Bydgoszcz im Alter von 19 Jahren begann sie ihr Studium an der Musikakademie Poznan. Sie schloss ihre Studien 1985 mit dem Lizenziat in Musikwissenschaft und 1988 nach Studien bei Andrzej Koszewski mit einem Diplom in Komposition ab. Während ihres Studiums hatte sie an den von der polnischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) organisierten Kompositionskursen teilgenommen und war dort in Kontakt mit Witold Lutoslawski, Luigi Nono, Henri Pousseur und lannis Xenakis gekommen - Begegnungen, die sie stark prägten.

1988 - also zu einer Zeit, als dies noch mit einigen Schwierigkeiten verbunden war - kam Bettina Skrzypczak zum Weiterstudium nach Basel, wo sie sich bei Thomas Kessler an der Musik-Akademie in die Techniken der elektronischen Musik einarbeitete, bei Rudolf Kelterborn ihre Kompositionsstudien vertiefte und zugleich in Freiburg i.ü. bei Jürg Stenzl Musikwissenschaft studierte. Bald war sie auch als Stipendiatin an Forschungsarbeiten in der Paul-SacherStiftung beteiligt.

Ein breites Spektrum von Interessen hielt sie hier an diesem Orte fest; bald wurde sie in der Schweiz auch über ihre da und dort aufgeführten Werke bekannt. Sie schloss viele Bekanntschaften, die ihr auf ihrem künstlerischen und persönlichen Weg weiterhalfen; ihr noch schmales Œuvre wuchs heran und nimmt eine eigenständige Stellung ein. Es fand nicht nur in Fachkreisen, sondern auch im Konzertleben Beachtung. Seit 1995 ist sie als Dozentin für Musikgeschichte, Theorie und Musikästhetik an der Luzerner Musikhochschule tätig, ab 2002 als Professorin für Komposition. Aber auch die Banden zu ihrer polnischen Heimat blieben erhalten, wo sie in verschiedenen Gremien beratende und organisatorische Aufgaben wahrnimmt; 1999 erfolgte ihre Promotion an der Musikakademie Krakau.

Mit der Verleihung des Kulturpreises der Gemeinde Riehen an Bettina Skrzypczak ehren wir eine Persönlichkeit und ihr Werk. Und es war uns von Beginn an klar, dass in der Feier, welche die Preisübergabe begleitet, das Werk sieht bar, erfahrbar, hörbar im Raum stehen muss, was im Bereiche der Musik nicht ohne einigen Aufwand erfolgen kann. Wir möchten an dieser Stelle allen Beteiligten danken, die aktiv und durch Vorbereitungen im Hintergrund, insbesondere durch grosszügige Unterstützung, zur Verwirklichung dieser Feier beigetragen haben.

Sie haben, meine Damen und Herren, einen Eindruck der musikalischen Welt von Bettina Skrzypczak erhalten - zwei recht unterschiedliche Werke, die jedes auf seine Art uns auch die Gedankenwelt, die Gedankenlyrik der Komponistin näher bringen. Die stets beeindruckende Sensibilität in der Wahl der Ausdrucksmittel, die in jedem Werk wieder von neuem angedachten kompositorischen und instrumentalen Voraussetzungen, aber auch die faszinierende, mit subtiler Farbgebung komponierte Klangwelt, hinter der eine starke und oft heftig lodernde Glut spürbar wird, hält uns in Atem.

Wie unterschiedlich die klangliche Erscheinung des Erdachten sein kann, haben die beiden aufgeführten Werke sehr eindrücklich aufgezeigt: zuerst, Miroirs, auf Texten von Dichtern vielfältigster Provenienz und in unterschiedlichsten Epochen komponiert, welche auf sehr unterschiedliche Weise - und doch wieder viel Gemeinsames umfassend - das Vergängliche, den Selbstverlust beklagen, das sich Verlieren im Spiegel, der «unaufhörlich ... sich in einem anderen Spiegel erblickt». Dieser Gesang ist begleitet von einem Instrumentalensemble, das mit spärlichsten Mitteln eine hohe Intensität und Expressivität hervorzubringen vermag, vor diesem Relief die Singstimme, die von verhaltenstem espressivo bis zu ekstatischem Ausdruck den Sinngehalt der Texte in den Klangraum überträgt. Dabei wird die Singstimme oft von der Flöte überschattet, der Flöte, der in allen Kulturen, insbesondere in der chinesischen Tradition, eine geheimnisvolle, ja magische Bedeutung zuerkannt wird.

Im zweiten Werk, das wir hörten, Mouvements, steht dann die Flöte allein im Zentrum, in einem Solostück, das alle Möglichkeiten ausschöpft, die diesem Instrument an Ausdrucksstärke, an Klanggestaltung, auch an Spieltechniken zur Verfügung stehen.

Zum Abschluss unserer Feier wird wiederum die Flöte im Vordergrund stehen: In der Toccata sospesa für zwei Schlagzeuger und Flöte werden die klanglichen Elemente in einer Art Synthese zusammengefügt, und zwar stellenweise fast in Umkehr des den Instrumenten normalerweise zugedachten Sinnes: Das Schlagzeug entwickelt ein sehr melodisches Umfeld, in dem die Flöte oft auf ihre geräuschhafte Grundnatur reduziert wird - ein höchst virtuoses Spiel, eine Toccata im klassischen Sinne mit all ihren improvisatorischen und formalen Elementen, in dem die Instrumente in einem rhythmisch explosiven, andererseits beinahe ins Nichts verhauchenden Spiel alle Möglichkeiten des reichhaltigen Arsenals ausschöpfen.

Bei aller Verschiedenheit, welche die drei Werke voneinander abheben, wird für denjenigen, der in sie hineinhört, eine gemeinsame Welt fassbar, eröffnet sich ein Kosmos, der unweigerlich hinter dieser Musik steht und mit Macht zum Kern dessen hinzieht, was auch für Bettina Skrzypczak als das Wesentliche aufgefasst wird: Das Wesentliche, auf das die Kompositionen hinweisen, geschieht auf der Ebene der gedanklichen Durchdringung von Stoff und Technik. Es gäbe, wie Bettina Skrzypczak einst festhielt, «in der Wirklichkeitswahrnehmung zwei Komponenten, eine ist sichtbar, und die andere ist die verborgene Welt. Für mich», fährt die Komponistin fort, «ist die Kunst der Moment, wo diese beiden Welten zusammenstossen. Die geistige Substanz ist etwas, was ausserhalb der Realität liegt, aber in die Realität eindringt und eine Form annimmt.»

Man kann dies auch mit Robert Schumann ausdrücken, der seiner Klavierfantasie op. 17 einen geheimnisvollen Sinnspruch Friedrich Schlegels voransetzte, der diesen Hinweis auf das Dahinterstehende dichterisch umschreibt: «Durch alle Föne tönet, im bunten Erdentraum, ein leiser Fon gezogen, für den, der heimlich lauschet.»

Dieser «leise Ton» - sinnbildlich für die Ordnung, die hinter der Welt steht - hinter der musikalischen Komposition, letztlich hinter der Musik, ist im Hören sinnlich erfahrbar, durchdringt zugleich jedoch auch die rationalen Grundlagen der Komposition - das, was man die Kompositionstechnik nennt - auf sehr komplexe und subtile Weise.

Auch für Bettina Skrzypczak ist Musik eine durch und durch abstrakte Kunst, in der sie als Komponistin vor der schwierigen Aufgabe steht, Strukturen im Klangraum zu organisieren, d.h. musikalische Abläufe zu gestalten und - wie sie sagt - Ordnungen aus dem Nichts, aus dem Chaos zu schöpfen.

Es ist kein Zufall, sondern entspringt einer inneren Notwendigkeit, wenn Bettina Skrzypczak in ihrer Auseinandersetzung mit Phänomenen von Ordnung und Chaos, welche in philosophischer Hinsicht ihr kompositorisches Werk durchdringen, auf die Denker der Frühromantik wie Friedrich Wilhelm Schelling und eben auch Friedrich Schlegel zurückgreift. In einem Aufsatz, in welchem sie ihrer Vorstellung von Form als eines Prozesses nachgeht mit dem bemerkenswerten Titel «Die Notwendigkeit, ein System zu haben und zugleich keines», geht sie - auf der Suche nach Quellen der Deutung und Legitimation ihrer eigenen künst krischen Vorstellungen - auf eine Vorstellung der Frühromantiker um Novalis, Schlegel und anderen ein, die in klarer Weise ihre eigenen Reflexionen über ihr musikalisches Schaffen wiedergeben.

Die positive Bewertung des Begriffs des Chaos erscheint in diesem Denken - ganz im Widerspruch zum Denken der Aufklärung - im Zeichen der Selbstorganisation, wie es bei Friedrich Schlegel heisst, den sie zitiert: «chaotisch, aber in sich organisiert». Mit anderen Worten, aus dem Ursprung des leeren Nichts ist eine Welt zu schaffen, die den Gesetzen des offenbarten Kosmos, im Sinne eines alle Potential itäten bergenden Chaos, nachlebt. Und dieses - so die Komponistin - soll durch den künstlerischen Prozess in die Realität, in die Zeit hinein überführt werden.

Damit darf man den Schlusspunkt setzen und anfügen, wie sehr wir uns freuen, die inzwischen international bekannte und gefragte Komponistin Bettina Skrzypczak hier bei uns in Riehen zu wissen, als eine der vielen namhaften, in der Region lebenden intellektuellen Persönlichkeiten. Man würde jedoch der Situation nicht ganz gerecht und würde den im Œuvre der Preisträgerin offenbarten Gedankenwelt nicht ganz Folge leisten, könnte man nicht zum Abschluss das Mahnwort des persischen Dichters Samtschal Sarmast nochmals zitieren, mit dem Bettina Skrzypczak in ihrer Komposition Miroirs die latente Zerbrechlichkeit und Hinfälligkeit des künstlerischen Schaffens durchscheinen lässt: «Auch mag ich eine Quelle, gefüllt von der Wolke sein, in der die Sonne sich spiegelt, und Mondes Widerschein.

Vielleicht auch der Widerschein Gottes, bin ich von Anbeginn, der jenseits aller Worte ...

Vielleicht, dass ich gar nicht bin!»

Damit möchte ich schliessen und möchte ganz herzlich zur Preisübergabe gratulieren. Ich wünsche dir, liebe Bettina, alles Gute für deinen weiteren Lebens- und Schaffensweg.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2004

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