Mehr als eine Kirche 


Ralph Schindel


Das Andreashaus am Keltenweg ist auch immer noch ein Gotteshaus. Bei seinen vielfältigen Funktionen für das Niederholz-Quartier geht manchmal vergessen, dass das Andreashaus einen religiösen Ursprung hat.


Donnerstagabend kurz vor 18 Uhr. Wie eine kleine Prozession strömen Bewohnerinnen und Bewohner des Niederholz-Quartiers aus allen Richtungen zum Andreashaus. Sie kommen im Rollstuhl, auf dem Velo, mit dem Trottinett, im Kinderwagen oder zu Fuss. Es sind Buchhalter und Hausmänner, Primarlehrerinnen und Verwaltungsmitarbeiterinnen, Rentner, Kinder und Mittelalte, kurz: eine bunt gemischte Schar, die sich jeder Kategorisierung entzieht.


Im Andreashaus werden sie von Sigrist Paul Spring mit Handschlag begrüsst – und zur Kasse gebeten. Für wenig Geld erhalten sie einen Gutschein aus farbigem Moosgummi. Im Gemeindesaal wird dieser an der Durchreiche zur Küche in ein geflochtenes Körbchen gelegt und die Leute erhalten einen gut gefüllten Teller mit manchmal exotischen Speisen. An langen Tischen sitzen die Quartierbewohnerinnen und -bewohner zusammen, schenken sich gegenseitig Tee aus Metallkrügen ein oder reichen sich die Salatschüssel. Die Kinder essen den Teller rasch leer, damit sie miteinander im Untergeschoss spielen können. Den Eltern bleibt Zeit und Musse für gemütliche Gespräche über Gott, die Welt und das Quartier.1 Viele machen sich danach auf den Heimweg, einige bleiben für das Abendlob, den anschliessenden Kurzgottesdienst mit Pfarrer Andreas Klaiber. 


Was aber ist das Andreashaus: Gotteshaus oder Quartiertreffpunkt? Kirche oder Freizeitzentrum? Beiz oder Hort? Die Frage ist falsch gestellt. Das Andreashaus vereint diese und viele weitere Funktionen. Als Kirchgemeinde-Zentrum gebaut, diente und dient es vielfältigen Zwecken. Das zeigt auch ein Blick in die Agenda, beispielsweise für diesen normalen Donnerstag: Seit Kurzem ist das Andreashaus-Café im Foyer ab 7.30 Uhr geöffnet bis um 11 Uhr, um 8 Uhr beginnt der Verkauf von Biogemüse und -früchten, um 9 Uhr öffnet die Kleiderbörse, am Mittag gibt es den Mittagstisch für Schülerinnen und Schüler, um 18 Uhr ist die Andreas-Vesper, ein Nachtessen für alle mit anschliessendem Abendlob um 19.15 Uhr. Gerade die Andreas-Vesper, die seit 1981 existiert, zieht jeweils zwischen 40 und 80 Personen an, die sich von freiwilligen Küchenteams bekochen lassen. 


Alternative zum Pietismus


Eine offene und liberale Haltung im Gegensatz zur damals pietistisch2 ausgerichteten Dorfkirche war der Anstoss für den Bau des Andreashauses.3 Robert Zinkernagel, engagiertes Gemeindemitglied, VEW4-Politiker und Biologe, strebte mit einer liberal-fortschrittlichen Gruppe ein explizit liberales Kirchgemeinde-Zentrum an. Das Motto war und ist in Paul Springs Worten: «Nicht nur glauben, sondern auch selber denken.»5 Zinkernagels Ziel war es, dass in Riehen nicht nur eine einzige theologische Richtung vertreten ist. Er wollte eine Alternative zum Pietismus, der in der Dorfkirche gepredigt wurde. 


Im April 1955 ging man von 395 000 Franken Baukosten für das Andreashaus aus. Geplant wurden ein Gemeindesaal mit angebauter Eingangshalle und einem Verbindungsbau mit Garagengebäude sowie ein Pfarrhaus mit einem privaten Garten. «Der Gemeindesaal, in der Grösse ähnlich disponiert wie in Kleinhüningen, wird ca. 230–250 Gemeindegliedern Platz bieten für Gemeindeabende, Vorträge aller Art.»6 


Die Pläne entstanden in einer Zeit, als die Bevölkerung des Niederholzquartiers stark wuchs und neue Strassen sowie Genossenschaftswohnungen gebaut wurden. Das Mitgliederpotenzial für die neue Kirchgemeinde war deshalb beträchtlich. Am Sonntag, 13. Januar 1957, wurde das Andreashaus feierlich eröffnet. «Damit hat Riehen-Süd, kirchlich gesehen, seinen baulichen Mittelpunkt erhalten», schrieb der neu gewählte Pfarrer Hans Rudolf Rothweiler in seiner Einladung zur Eröffnung.7 Das Potenzial an neuen Gemeindemitgliedern in Riehen-Süd war so gross, dass 1964 die Kornfeldkirche gebaut wurde. 


Grosser Ausbau


In den 1970er-Jahren waren die Räume im Andreashaus derart stark ausgelastet, dass Ausbau- und Renovationspläne nötig wurden. Das Umbauprojekt beinhaltete unter anderem eine «Erweiterung der Küche auf eine Kapazität zur Herrichtung einfacher Mahlzeiten für 100 Personen».8 Bislang fand die Essenszubereitung in einer Teeküche statt, wobei es immer mehr kirchliche Anlässe gab, die mit einer Mahlzeit verbunden wurden. Die Kirchensynode segnete die Umbaupläne im Mai 1980 ab. Das Andreashaus erhielt einen Erweiterungsbau mit geräumigem Foyer, Garderobe und Nebenräumen, ein grosses Sitzungszimmer, eine grössere Küche und ein rollstuhlgängiges WC.9 Im Untergeschoss wurde ein Clubraum bewilligt, der Saalbau erhielt eine Wärmeisolation. Der Umbau wurde auf 688 000 Franken veranschlagt, Mitte 1980 begannen die Arbeiten. Bereits am Sonntag, 1. Februar 1981, feierte die Gemeinde die Wiedereröffnung.


Im Spätsommer 1998 erfolgte der neuerliche Umbau des Foyers. Innert acht Wochen wurde der Raum mit grossen Fensterflächen zur Strasse hin geöffnet und davor ein kleiner Platz gebaut. Das Andreashaus wirkt seither einladender auf Passantinnen und Passanten. Dies entspricht der menschlichen Grundhaltung und dem sozialen Zusammenhalt der Andreashaus-Gemeinde. Diese Haltung hat sich auch nicht geändert in dem grossen Umbruch, der seit ungefähr zehn Jahren im Niederholzquartier vonstatten geht. Die erste Generation der Pionierinnen und Pioniere stirbt langsam aus oder zieht fort und das Quartier erlebt eine Verjüngung durch Familien, die neu zuziehen. Im Andreashaus haben sich einerseits vielfältige Engagements entwickelt, andererseits ist es zum bedeutsamen Quartierzentrum geworden.10 Das Haus wird für unterschiedlichste Anlässe genutzt und gemietet, es vernetzt die Quartierbevölkerung. 


«An den Früchten wird man es erkennen»


Die Zukunft ist nach einer Zeit der Ungewissheit zumindest bis 2025 gesichert. Der Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt dachte 2007 erstmals darüber nach, das Andreashaus zu schliessen. Hintergrund war der Mitgliederschwund, der auch zu sinkenden Einnahmen führte. Die Überlegungen des Kirchenrats liessen aber ausser Acht, dass das 
Andreashaus eines der bestbesuchten Kirchenhäuser im Kanton ist.11 Würde das Haus abge-rissen und durch Wohnbauten ersetzt, brächte das der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt zwar Rendite, es entstünde aber eine grosse Lücke in der sozialen Verbindung für die Quartierbevölkerung, meint Spring.


Aktuell muss das Andreashaus die Gebäudemiete in der Höhe von 1000 Franken pro Woche erwirtschaften und an die Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Stadt abliefern. Diese Mittel werden über Weitervermietungen und Spenden generiert.12 Das ist nicht einfach und widerspiegelt ein Problem, von dem die ganze Kirche betroffen ist, wie Kirchenratspräsident Lukas Kundert kürzlich vorgerechnet hat: «2004 hatten wir bei 38 000 Mitgliedern eine Jahresrechnung mit 24 Millionen Franken Umsatz. Heute sind es bei 29 000 Mitgliedern immer noch 24 Millionen. Gleich viel Geld bei weniger Mitgliedern: Das geht nur dank Drittmitteln.»13 Im Gespräch warnt Paul Spring aber ganz allgemein davor, dem Generieren von Drittmitteln einen zu hohen Stellenwert einzuräumen, weil dadurch Abhängigkeiten entstünden: «Wer spendet, kann das auch mit Erwartungen verknüpfen.»


Spring hofft, dass das Andreashaus aufgrund seiner Funktion für das Quartier noch lange existieren wird. Offen ist, wie die laufenden Arbeiten und das Personal in Zukunft finanziert werden können. Hier sind neue Wege gefragt. Daran sollte das Andreashaus aber nicht scheitern, wenn die eigenen Credos gelebt werden: «Nicht nur glauben, sondern auch selber denken» und «An den Früchten wird man es erkennen».


Der Sigrist als Gastgeber: ein Porträt


Paul Spring ist mit seiner herzlichen Art die prägende Figur im Andreashaus. Den Sigristen kennen wohl mehr Quartierbewohnerinnen und -bewohner als Pfarrer Andreas Klaiber. 1982 wurde Spring direkt nach dem Umbau des Andreashauses zum Sigristen gewählt. Ursprünglich hatte er Spengler-Sanitär gelernt und vier Jahre auf dem Beruf gearbeitet. Der Umgang mit Metall gefiel ihm sehr, der Austausch mit Menschen fehlte ihm jedoch zunehmend. Als Sigrist kann er beide Seiten zusammenführen: Einerseits gilt es, das Haus instand zu halten, andererseits geht es in der Kirche um den Menschen. «Die ideale Kombination», sagt Spring.


Aufgewachsen ist er im Kornfeld-Quartier, sein Vater war Sigrist der Kornfeldkirche. Wer nun meint, es sei nur logisch, dass auch Paul Spring Sigrist wurde, liegt falsch. «Ich war stolz, auf etwas Eigenes hinzuwirken, das meinen innersten Werten entspricht.» So führte er neben der Arbeit als Sigrist auch weiterhin noch Reparaturen als Selbstständiger aus. Erst mit der Übernahme der Jugendarbeit 1999 konzentrierte er sich völlig auf das Kirchenamt.


Paul Spring lebt die liberale Grundhaltung des Andreashauses. Entsprechend offen ist er für Neues. Als Sigrist muss er nicht in die weite Welt hinaus, sondern die Welt kommt zu ihm ins Andreashaus. «Ich habe meinen Weg im Andreashaus gemacht, während andere hinaus müssen, um ihren Weg zu finden.»


Er entstammt einem pietistischen Elternhaus und wusste schon früh, dass diese eng gefasste und eher konservative Glaubensrichtung nicht seine Welt ist. Nach der Konfirmation suchte er neue und andere Wege im Umgang mit dem Glauben. Die Auseinandersetzung mit der Anthroposophie half ihm, die vielfältigen Facetten und Dimensionen zu erkennen, die im Christentum enthalten sind, und die Bedeutung der christlichen Botschaft. «Das gab mir einen guten Boden, um weiterzugehen.»


Auch seine Position am Andreashaus hat Spring immer wieder hinterfragt. Er kam aber jeweils zum Schluss, dass er am richtigen Ort ist. Mit Pfarrer Andreas Klaiber ergänze er sich bestens. 


Neben der Arbeit war Paul Spring langjähriger Präsident des neutralen Quartiervereins Niederholz, den er stark mitgeprägt hat. Früher war er während 12 Jahren im Einwohnerrat politisch aktiv. Als Parteiloser schloss er sich der Fraktion der Progressiven Organisationen Basel (POB) an. «Ich leide an den sozialen Ungerechtigkeiten und an der Zerstörung der Natur.» Spring findet die Abzockerei mit Millionensalären in höchstem Masse unchristlich und unsolidarisch und zitiert dazu den Theologen Hans Küng: «Wer sich nur um sich selbst kümmert, verkümmert.» Auch wenn er omnipräsent wirkt, hat Paul Spring dennoch Freizeit. Er kocht oft und würde gern mehr in seinem Gärtchen arbeiten. Wenn die Zeit es zulässt, geht er auch wandern. Seit ein paar Jahren lebt er mit seiner Partnerin zusammen und ist so zu seiner Rolle als Grossvater gekommen.


Mittlerweile ist Paul Spring 60 Jahre alt und hat die Jugendarbeit am Andreashaus abgegeben. Er kümmert sich nun vor allem um die Gäste und das Gebäude. Wann er sich pensionieren lässt, hat er noch nicht entschieden. Unabhängig davon, was er danach tun wird: Er wird es mit grossem Engagement tun.


1 Gespräche mit Besucherinnen und Besuchern am 16.06.2016.


2 Theologisch und sozial konservative  Reform-bewegung des Protestantismus.


3 Zur Geschichte des Andreashauses vgl. Arlette Schnyder: Kirchen im Dorf, in: Arlette Schnyder et al. (Hg.): Riehen – ein Portrait, Basel 2010, 
S. 327–358, insbesondere S. 339–341.


4 Vereinigung evangelischer Wählerinnen und Wähler, heute Evangelische Volkspartei EVP.


5 Gespräch mit Sigrist Paul Spring am 09.06.2016.


6 Ratschlag 332 der evangelisch-reformierten Synode, 18.04.1955.


7 Brief vom 05.01.1957.


8 Aktennotiz der Besprechung und des  Augen-scheins im Andreashaus vom 16.11.1978.


9 Vgl. Riehener Zeitung, 06.06.1980.


10 Gespräch mit Sigrist Paul Spring am 09.06.2016.


11 Pfarrer Andreas Klaiber in der Riehener Zeitung, 23.03.2012, S. 2.


12 Vgl. www.erk-bs.ch/kg/riehen-bettingen/kornfeld-andreas, Zugriff: 09.08.2016.


13 «Wir werden keine Kirchengebäude verkaufen», Rettung durch Spenden, Legate und Stiftungsgelder, in: Basellandschaftliche Zeitung Basel, 22.06.2016, S. 27.


 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

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