Niederholzquartier – wo ist das?


Arlette Schnyder


Auf einem Sonntagsspaziergang denken Kinder und Erwachsene aus der Arnikastrasse laut darüber nach, was das Quartier ausmacht: Gehört diese Strasse, dieser Platz für mich zum Quartier? Weshalb? Die quartierfremde Autorin geht mit, fragt nach, zeichnet auf. 


Mit Trottinett, Inlineskates und Kinderwagen ausgerüstet, macht sich eine kleine Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern der Arnikastrasse auf die Suche danach, bis wo für sie das Quartier reicht. Nach kurzer Diskussion, wo der Rundgang starten soll, entscheidet man sich für den direkten Weg zur Rainallee. Das ‹Niederholz-Lied› singend, ziehen die beiden grossen Schulmädchen aus der Genossenschaftssiedlung los und biegen in den Niederholzboden ein. Hier ist das Quartier ganz vertraut. Während die Kinder auf der rechten Strassenseite Spielsachen entdecken, die jemand «gratis zum Mitnehmen» vor den weissen Zaun gestellt hat, blicken die Erwachsenen links ins Grün, das entlang der Geländekante ansteigt. Diese verläuft bogenförmig und trennt die Quartiere Kornfeld und Niederholz. Hohe Bäume lassen grosse Gärten erahnen mit einem Weitblick auf die Stadt, der hier unten, wo die kleine Gruppe steht, nicht gegeben ist. Jetzt passieren wir die Eisenbahnlinie, die das gesamte Quartier durchschneidet. Sie ist prägend, ein Schnitt, ein Hindernis, aber keine Grenze. Denn auf der anderen Seite der Eisenbahn liegt das Wasserstelzenschulhaus. «Ds Niderholz isch genial», schmettern die beiden grossen Mädchen auf dem Weg – das Lied haben sie in der Schule gelernt, allerdings nicht im Wasserstelzenschulhaus, sondern im Niederholzschulhaus, dem ersten Quartierschulhaus Riehens, das 1948 im Zuge des Baubooms nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Wie stark das Quartier in den zwanzig Jahren nach dem Krieg wuchs, lässt sich einfach anhand der Schulhäuser zeigen. Bereits 1951 folgte ein dringend notwendiger Erweiterungsbau, 1953 entstand das Hebelschulhaus und 1964 wurde das Wasserstelzenschulhaus eröffnet.1


Von der Rainallee zum Kohlistieg


Der kleine Trupp steht nun an der Kreuzung von Rainallee und Wasserstelzenweg. Letzterer führt in einer steilen Kurve Richtung Morystrasse hoch. Alle sind sich einig: Die Strasse führt aus dem Quartier raus. Eines der Mädchen saust mit seiner blauen Kreide bis zur Biegung, wo die Strasse nach oben verschwindet, und malt einen dicken blauen Strich auf den Boden. Die junge Mutter mit Kleinkind überlegt, ob sie nicht zurückkehren möchte, denn hier endet für sie das Quartier eigentlich. Mit dem kleinen Mädchen ist ihr Radius eingeschränkt. «Beim ‹Wassi› ist für mich die Grenze», meint sie.


Derweil streben die beiden Männer auf die andere Seite der Rainallee. Hier ändert sich die Bauart. Sind im ersten Teil der Rainallee die Häuser noch individueller gebaut, erblickt man nun immer gleiche Blöcke entlang der gebogenen Strasse. Betrachtet man einen Bebauungsplan von Riehen, wird schnell klar, dass die Häuser an der Rainallee direkt unterhalb der Geländekante erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Oberhalb wurden an der Morystrasse und am Vierjuchartenweg in den 1920er-Jahren Genossenschaftswohnungen mit dem Konzept von günstigen und gesunden Wohnhäusern mit grossen Gärten gebaut.2 Nicht, dass dies die ersten solchen Genossenschaften im Süden Riehens gewesen wären. Die ‹Heimstätte-Genossenschaft Niederholz› wurde 1921 nach dem Ersten Weltkrieg mit der Idee der Selbstversorgung aus eigenen Gärten gegründet und erstellte Häuser an der Schäferstrasse, an der Römerfeldstrasse und am Bluttrainweg.3 


Die Rainallee, in der wir, den Wasserstelzenweg hinter uns lassend, Richtung Kohlistieg weitergehen, unterscheidet sich deutlich von den frühen Wohngenossenschaften. Hinter den Wohnblocks, die 1947 entstanden4 und an sozialen Wohnungsbau erinnern, erheben sich in unterschiedlichsten Grüntönen mächtige Baumwipfel. Hier fällt die Geländekante stärker auf. Zwischen zwei Blocks taucht plötzlich, weit oben, wie eine Erscheinung, ein grosses modernes Wohnhaus mit asymmetrischen Fenstern auf, das weit über das Land blickt. Aus der Froschperspektive fragen wir uns, bis wo wohl die Gärten der angrenzenden Häuser reichen und von wem die Verbindungsweglein angelegt wurden, die selten zwischen den enggestellten Häusern in das grüne Dickicht hochführen. Die Strasse ist breit und freundlich im Sonnenlicht, Kinder spielen an diesem Sonntagabend, Eltern plaudern miteinander. Auch wenn an der Kreuzung zum Wasserstelzenweg ein kurzes Zögern entstand, die Rainallee ist ein wichtiger Teil des Quartiers. Beim Kohlistieg angelangt, gehen wir entlang des Friedhofs bis zum Otto Wenk-Platz, einem eigenartig gestaltlosen Platz, auf dem es zu einer weiteren Richtungsdiskussion kommt. Es wird schnell klar, dass niemand plant, bis zum Rhein zu wandern, selbst wenn auch dieser Teil offiziell zum Niederholz zählt. Zwar fügt ein Kind an, dass ein ‹Gspänli› von dort mit ihm zur Schule gehe – dennoch scheint dieser Teil irgendwie niemandem recht vertraut zu sein.


Was ist ein Quartier?


Offiziell sind die Grenzen des Quartiers klar: Markant ist die Geländekante, die in einem Bogen vom Norden Richtung Westen bis zum Friedhof das Quartier abschliesst, danach verläuft die Grenze dem Friedhof, der Hörnliallee und dem Hirtenweg entlang bis zum südlichsten Zipfel im Rhein. Im Süden fällt die offizielle Quartiergrenze mit der Gemeindegrenze zusammen, bis sie im Osten, an der Wiese, auf der Höhe des Breitmattwegs, zurück zum Beginn der Geländekante beim Niederholzbodenwegli führt. Aber bezeichnet das wirklich das Quartier? Ist das nicht eine festgelegte Fläche auf der Karte, die nicht zwingend als Quartier wahrgenommen wird? Grenzen werden oftmals vom Zentrum her definiert und im Alltag ganz anders wahrgenommen.5 Dies trifft nicht nur für Landesgrenzen zu, sondern auch für die Grenzen eines Quartiers. Ist ein Feld Quartier? Kann ein Bauernhof Teil eines Quartiers sein? Was macht eigentlich das Quartier aus, was wird als Quartier empfunden? Eine mögliche Definition eines Quartiers oder Wohnviertels nennt die Überschaubarkeit und die Wohnfunktion eines begrenzten Teils einer Stadt oder Gemeinde.6 Inwiefern ist dann der Rheinanstoss Teil des Niederholzquartiers? 


Von der Rauracherstrasse durch die Niederholzstrasse 


Die Gruppe von der Arnikastrasse entscheidet sich, dem Kohlistieg entlang Richtung Rauracherstrasse zu gehen. Wir lassen die Wohngenossenschaften ‹Im Höfli› und ‹Rieba›, die in den Jahren des grossen Quartierwachstums entstanden sind, links liegen und sehen rechts eine sehr grosse Baustelle. Hier entstehen 8 Mehrfamilienhäuser mit unterirdischer Einstellhalle, insgesamt 98 Wohnungen für Singles, Paare sowie kleine und grössere Familien, wie die Wohngenossenschaft ‹Am Kohlistieg› verspricht.7 Auf dem westlichen Parzellenteil entsteht der neue Standort des Alters- und Pflegeheims der Stiftung Humanitas. Wo einst die Notwohnungen von Basel-Stadt standen, sollen nun junge Familien und ältere Menschen attraktiven Wohnraum finden. Ob nun viele Kinder kommen? Ob die Wohnungen wirklich auch Familien anziehen? Und ob der Raum im Schulhaus noch reiche? So fragt sich die Gruppe, während sie dem Bauzaun entlang in die Rauracherstrasse einbiegt. Erst beim Rüchligweg endet die Baustelle und wir passieren die Bahnlinie mit dem 2009 eingeweihten Bahnhof, der das Quartier so direkt mit der Stadt und mit Deutschland verbindet, und stehen bald bei einem schief stehenden Wegweiser. Hier hält die Gruppe wieder an. Entlang der Rauracherstrasse mit dem Rauracherzentrum, dem 1978 eröffneten und bis heute einzigen wirklichen Einkaufszentrum Riehens, ginge es jetzt zur Tramlinie und zur Wohnbaugenossenschaft ‹In den Habermatten›. Nach Süden blickt man über Felder und über den Bahndamm ins Weite bis zum Roche-Turm. Wie steht es eigentlich mit den Häusern Im Hirshalm und an der Gotenstrasse? Für die kleine Gruppe der Arnika-strasse sind diese recht weit weg. Aber eigentlich gehören sie auch zum Quartier, so diskutiert man. Und es wird einmal mehr klar, dass die Verwendung des Begriffs ‹Quartier› emotional vor allem Nachbarschaft und Überschaubarkeit bedeutet. Deshalb entscheidet sich die Gruppe dafür, nicht diesen äussersten Quartierstrassen entlangzugehen, sondern gewissermassen auf der Mittelachse zum Herz zu gelangen, oder anders ausgedrückt, durch die Niederholzstrasse zum Coop Pronto, wo unser Rundgang enden soll. Wir gehen auf dem sehr breiten Gehsteig an der grossen Schulanlage des Niederholzschulhauses vorbei. Hier können vier Kinder nebeneinander spazieren, die Grünflächen zwischen den Schulhäusern sehen sonntäglich verlassen aus. Die Schulanlagen sind gross und lassen ahnen, wie kinderreich das Quartier ist. Danach folgt eine Spielstrasse, auf der Kinder mit ihren Fahrrädern um die Verkehrsentschleuniger sausen, grosszügige Einfamilienhäuser mit Gärten, in denen Sträucher geschnitten werden. Wir sind nicht die Einzigen auf dem Weg zum Coop Pronto, der an diesem Sonntagabend vor allem diejenigen anzieht, die sich für ein spontanes Grillfestlein entschieden haben. Am Ende der Niederholzstrasse wird das Trottoir breiter, hier ist ‹Downtown› Niederholz. Eine Apotheke, ein Sanitärinstallateur, ein Coiffeur und etwas weiter hinten ein Imbissrestaurant – und natürlich der Coop Pronto mit den langen Öffnungszeiten. Alles, was ein Quartier braucht. Die Gruppe ist sich einig: Das ist das Herz des Quartiers. 


Das Mädchen mit der blauen Kreide und dem Sommerkleidchen fragt, wo denn nun das Quartier aufhöre. Die Häuser auf der anderen Seite der Tramlinie gehören ja sicher noch dazu, da gibt es auch Kinder, die ins Niederholzschulhaus gehen. Aber dahinter? Da kommen die Felder, da geht es zur Wiese. Das Mädchen schwingt sein Trottinett einmal im Kreis und saust dann los – geübt und vorsichtig über die Tramgeleise auf die andere Seite. Und da, wo der Weg zwischen den Häusern Richtung Wiese führt, gibt es noch einmal einen grossen blauen Grenzstrich. Zufrieden kehrt es zurück. Das Quartier ist da, wo man wohnt, wo die Schulfreundinnen und -freunde zu Hause sind, wo eingekauft und gespielt wird, wo sich Nachbarinnen und Nachbarn treffen und gemeinsam über mögliche Folgen von Bauprojekten oder über die letzte Grippewelle sprechen. 


Der Spaziergang hat viele Bezüge hergestellt. Beim Bahnhof Niederholz erzählten die Väter von Reisen ins Wiesental, beim Schulhaus berichteten die Kinder von den verschiedenen Klassenzimmer-Containern, je nachdem, wie viele Kinder eingeschult wurden, beim Friedhof dachte man über den Tod und andere Grenzüberschreitungen nach, beim Rauracherzentrum wurde klar, dass auch dies ein Treffpunkt ist, aber nicht für die Gruppe aus der Arnikastrasse, und beim Blick auf den Roche-Turm wurde das Verhältnis zu Basel spürbar. Aber Riehen-Dorf? An diesem Sonntagnachmittag wurde der alte Ortskern nicht einmal erwähnt.


1 Vgl. Arlette Schnyder: Bildungswandel, in: Arlette Schnyder et al. (Hg.): Riehen – ein Portrait, Basel 2010, S. 308f.


2 Vgl. Die Siedlung der Heimstätte-Genossenschaft ‹Gartenfreund› Riehen. Nach den Plänen der Architekten Bercher & Tamm in Basel, Basel 1923, S. 15f. 


3 Vgl. Gerhard Kaufmann: Die Heimstätte-Genossenschaft Niederholz 1921–1933, in: z’Rieche 1980, S. 89f.


4 Vgl. Christel Sitzler: Wandlungen im Riehener Dorfbild, in: z’Rieche 1986, S. 98.


5 Vgl. Etienne François / Jörg Seifarth / Bernhard Struck: Grenzen und Grenzräume. Erfahrungen und Konstruktionen, Frankfurt a. M. 2007, S. 13.


6 Vgl. Arbeitskreis Quartiersforschung, www.quartiersforschung.de/index.php/seite/newsblog/definition_quartier/, Zugriff: 02.08.16.


7 Vgl. Wohnbau-Genossenschaftsverband Nordwest, www.wgn.ch/fileadmin/work/pdf_Dateien/Kohlistieg_Homepage.pdf, Zugriff: 02.08.16.


 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

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