Neues, Neuerungen, Neuigkeiten

Christian Schmid

Ein neues Jahrbuch ist erschienen - wie gewohnt. Neues kann gewohnt sein. Doch diesmal ist das Gewohnte anders: neu. Gedankensplitter zum Jahrbuch-Thema «Neues».


Ein neuer Hut ist nicht alt. Ein neuer Wind weht anders als früher oder bisher. Neue Besen kehren gut, weil sie noch nicht abgenutzt sind. Eine neue Flasche Wein kann älter sein als jene, die schon leer getrunken ist. Neuentdecktes wurde eben erst entdeckt, kann aber so alt sein wie die Erde. Wer sich neu beseelt an die Arbeit macht, hat nur den Zustand ursprünglicherer Beseeltheit wieder aufgefrischt. Neues steht also nicht immer Altem gegenüber, oft löst es nur das Gewohnte ab, ersetzt Benutztes und Abgenutztes, Gebrauchtes oder Verbrauchtes, betrifft in jüngster Zeit Geschehenes, bezeichnet Wiederhergestelltes oder, aufs Neue, einfach eine Wiederholung.


Das spektakulärste Neue ist das noch nicht oder nie Dagewesene. Es verursacht eine Störung, eine Irritation, eine änderung im Lauf des Gewohnten, weil es uns als Unerfahrene, zuweilen auch als Unvorbereitete trifft. Sind wir selbst das Neue, als Neugeborene, neu in einem Bereich Auftretende bzw. Handelnde oder auf neue Art uns Verhaltende, sind wir sowohl Betroffene als auch Verursacher der von uns erzeugten Turbulenz.


Wäre für uns immer alles neu, existierten wir in einem Zustand immerwährender Unerfahrenheit, den wir kaum als Leben in einem für Menschen üblichen Sinn bezeichnen könnten. Wir wüssten am Morgen nicht, wie den

Wecker abstellen, die Zähne putzen, uns ankleiden und frühstücken. Wir wüssten nicht, wofür die Räume unserer Wohnung und die Geräte darin sind. Gelänge es uns, die Tür aufzuschliessen und hinauszufinden, wüssten wir nicht wohin, verstünden auch nicht zu fragen, weil wir uns kaum verständigen könnten, verlören uns daher im Dickicht existierender Betriebsamkeit, vielleicht nur noch geleitet von Instinkten.


Die Grundlage einer menschenwürdigen Existenz kann deshalb nicht das Neue sein. Es ist das Gelernte, das auf unterschiedliche Art und Weise Angeeignete und Eingeübte, das Gewohnte. Aus Gewohnheit tun wir so viel in unserem Alltag, dass ein lückenloses Aufzählen vom Schlafen im Bett über das Zähneputzen, das Anziehen, das Benutzen eines Taschentuchs beim Schnäuzen, das Essen am Tisch mit dem Messer in der Rechten und der Gabel in der Linken, das Abwischen des Mundes mit der Serviette, das Nichtherumrennen im Tram, das Händeschütteln bei Begrüssungen, das Gehen auf Trottoirs, das Betreten von Häusern durch Türen bis zum Ausziehen vor dem Schlafengehen nicht möglich ist, weil es Hunderte von Seiten füllte. Die grosse Gemeinschaft der guten Gewohnheiten ist uns so selbstverständlich, dass wir uns ganz unserem ärger über die Kleinfamilie der schlechten Gewohnheiten widmen können, wo man in der Nase bohrt, die Socken nicht häufig genug wechselt, schmatzt und schlürft beim Essen, den Teller ausleckt, zu spät kommt, rotzt und spuckt, schmutzige Fingernägel hat, in Gesellschaft furzt und bis in alle Nacht bechert und lärmt.


Allerdings schätzen wir die Gewohnheit an sich, die den Tag zum grauen Alltag werden lässt, nicht hoch. Obwohl uns alle in hohem Mass jene Handlungen, Haltungen und Eigenheiten prägen, die durch häufige oder stete Wiederholung selbstverständlich geworden sind, behaupten wir nie selbstbewusst, wir seien Gewohnheitsmenschen. Aus gutem Grund, denn die Gewohnheit hat grosse Schwächen. Sie fragt nie, sondern handelt immer nach demselben Muster. Fragt man sie nach dem Grund ihres Tuns, weist sie gern auf ihr hohes Alter, dem sie blind vertraut und das sie nicht selten gegen jede Vernunft verteidigt. So sei es immer gewesen und so solle es auch in Zukunft bleiben, ist einer ihrer Lieblingssprüche. Sie ist selbstzufrieden und bequem. Sie ist nicht neugierig. Was ausser ihr liegt, scheint für sie nicht zu existieren. Sie hasst Unvorhergesehenes und überraschungen. Sie ist dem Neuen Feind.


Obwohl der ganz im Gewohnten ruhende Mensch im Gegensatz zu jenem, der immer nur Neuem begegnete, lebensfähig wäre, erschiene uns sein Leben als wenig verlockend. Es erschöpfte sich in der Wiederkehr des immer Gleichen, wäre bar jeder Neugier und verschlösse sich, weder lernnoch anpassungsfähig, allem Neuen. Das Neue ist also sozusagen das Salz in der Suppe des Lebens. Oder, um es weniger küchendeutsch zu sagen: Das Neue weckt uns aus dem Schlafwandel des Gewohnten zum Lernen, zum Denken, zum Entwickeln neuen Wissens, Könnens und Tuns, befriedigt aber auch eine triviale Alltagslust nach Abwechslung, für welche die Mode ein gutes Beispiel ist. Neues prägt also unser Leben nicht nur im Grossen, wenn es als Reiz für neue Erfahrungen oder als Impuls der Wissenschaften unsere Existenz beeinflusst oder verändert. Es befriedigt im Kleinen auch die Lust an purer Unterhaltung. Diese Lust reicht vom privaten Klatsch und Tratsch bis zum Interesse an jenen Medienerzeugnissen, welche die Neugier der öffentlichkeit mit allerlei Geschichten bedienen, bei denen weniger die Wahrheit als der Zeitvertreib und das Erregen von Gefühlen und Emotionen die Hauptrolle spielen. Wir mögen diese Lust nach Kurzweil und Unterhaltung, wir mögen das Neue, das sie befriedigt, tadeln. Aber geben nicht sie jenem Alltag Farbe, von dem wir so gern behaupten, er sei grau?


Ob Nachrichten wert sind, erwähnt zu werden, bestimmt, wie das neudeutsche Wort «News» verrät, ihr Neuigkeitsgehalt. Was sich nicht verändert, nicht von der Norm abweicht, was gewöhnlich ist oder sich gleich bleibt, ist nicht erwähnenswert. Obwohl sich das meiste gleich bleibt und in gewohnten Bahnen verläuft, scheint sich die Welt im Spiegel der Medien deshalb rastlos zu verändern und nur Kuriositäten scheinen von Belang zu sein. Dazu kommt, nach dem Motto «only bad news are good news», dass wir der schlechten Neuigkeit viel mehr Aufmerksamkeit schenken als der guten. Tagesschauen und Nachrichten sind veritable Hiobsbotschaftenschleudern, weil es ja schliess

lieh nicht um das rechte Mass geht, sondern um hohe Quoten. Das Bild, das wir von der Welt haben, ist deshalb nicht nur künstlich dynamisiert, sondern auch künstlich skandalisiert und dämonisiert. Wir betrachten es ängstlich mit dem dumpfen Gefühl, altmodisch, überholt und überfordert zu sein. Die Werbung, in welche diese Nachrichten eingebettet sind, kleistert die Abgründe immer neuer Schrecken zu mit Wunschtraumbildern, welche das Schöne, das Angenehme und das Zuverlässige versprechen.


Nicht immer wurde das Neue so positiv, das Hergebrachte und Gewohnte so negativ beurteilt wie heute. Der Reformator Johann Calvin behauptete, Gott habe die Hölle für Neugierige geschaffen, und der Philosoph Michel de Montaigne schrieb, er habe zu Neuerungen, wie sie auch aussähen, kein Zutrauen mehr, weil sie schweres Unheil anrichteten. Für Calvin war die Gier nach Neuem ein auf Weltliches gerichtetes Verlangen, das die Menschen für die ewigen Wahrheiten der göttlichen Heilsordnung blind machte. Michel de Montaigne hingegen misstraute Neuerungen, weil sie Veränderungen herbeiführen, welche zu Beginn nicht beurteilbar sind, sondern sich erst viel später als gut oder schlecht erweisen. Wir mögen über Montaigne lachen, aber vergessen wir nicht allzu gern, dass der Erfinder des Autos auch den Autounfall erfand, der Erfinder des Grossraumschiffes den Untergang der Titanic und die Tankerhavarie, der Erfinder der modernen Masttierzucht BSE? Sind wir, auf der Jagd nach schnellem Gewinn, überhaupt noch bereit, das Gute und das Schlechte einer Neuerung ernsthaft gegeneinander abzuwägen?


Fast wichtiger noch: Sind wir fähig, Neuerungen rückgängig zu machen, die grosses Unheil anrichten? Vieles spricht dagegen, zum Beispiel auch die Tatsache, dass das Auto bis heute weltweit mehr Tote und Verletzte gefordert hat als jeder einzelne Krieg, von der von ihm ausgehenden Umweltzerstörung und Luftverschmutzung ganz zu schweigen.


Wir sind in unserer postmodernen Welt auf so extreme Weise neugierig, neuerungssüchtig und versessen auf Neues geworden, dass wir uns damit abfinden, als permanent Adoleszente durchs Leben zu gehen und, scheinbar leichter Dinge, auf den Stand erfahrungsgesättigten Erwachsenseins und weisen Alters verzichten. Wir geben Erfahrung und Weisheit preis auf dem Altar irrlichternden Fortschritts, nie erlahmenden Lernwillen, Lernfähigkeit und Flexibilität beschwörend. Es lebe die Jugend und das jung sich gebende Alter, verachtet und vergessen sei, wer nach tätigem Leben alt und müde sich zur Ruhe setzen möchte.


Wer meint, ich beriefe mich auf alte Zeiten und wünschte sie zurück, täuscht sich. Ich weiss, dass sie nicht gut waren und dass der eingeschlagene Weg unumkehrbar ist. Ich erlaube mir nur, angesichts der Tatsache, dass mit dieser radikalen Umdeutung von Lebenskunst und Lebenssinn unsere ganze Kultur neu gedeutet werden muss, verwirrt zu sein. Ich erlaube mir zuzugeben, dass mich der Abschied von der unter einem Wust von Neuem, Neuerungen und Neuigkeiten versinkenden Vergangenheit, der Verlust von überblick

baren Ordnungen in der Gegenwart und der Ausblick auf eine immer kontur- und ziellosere Zukunft verunsichern.


Ist die Antwort darauf Orientierungslosigkeit, die Bastelbiographie, das «muddling through», das Surfen auf den Oberflächen der realen Welt und des Cyberspace? Sind die Tugenden des 21. Jahrhunderts Egozentrik und Ignoranz, weil Bindungen an Menschen und Orte die pausenlos geforderte Anpassungsfähigkeit nur behindern und das Wissen in den Cyberspace ausgelagert ist, von wo man es nach Bedarf sampeln kann? Ja, sagen die einen, denn im Taumel des Wandels gebe es kein Halten mehr. Aus ihrer Sicht ist das ständige Bemühen des Einzelnen, die Dinge unter Kontrolle zu bekommen, letztendlich nutzlos, ist fatalistischer Aktivismus.


Meine Sichtweise ist das nicht, denn sie begreift den Menschen als Spielball steten Wandels, als amöbenartiges Wesen, das nur noch auf Reize reagiert. Sicher, die Zeit, in der die Menschen zueinander, zu den Dingen, zur Welt und zu Gott eine ruhige und statische Beziehung hatten in einer zyklischen Zeitkultur, ist vorbei. Vorbei ist auch die Kultur der säkularen, linearen Zeit, in der zwar eine dynamische Entwicklung einsetzte, welche die Menschen zum Teil entwurzelte, in der aber alles mess- und abschätzbar war und zuverlässig von einem Anfang zu einem Ende zu führen schien, bis in der Moderne der Mensch, fortgerissen von Veränderungen, verschlungen von der Beschleunigung, vereinzelt, beziehungslos und zerstört zum beliebigen

Objekt ökonomischer, politischer oder ideologischer Interessen wurde, die sich seiner bedenkenlos bemächtigten.


Statt in das grosse Gelächter der Postmoderne einzustimmen und seinen Lifestyletanz mitzutanzen, könnten wir in einer neu verstandenen Moderne die Probleme doch einfach wieder ernst und wahrnehmen, jeder und jede für sich. Wir könnten uns von der Idee leiten lassen, dem eigenen Leben Form zu geben, auch wenn die Form nur noch eine Mischform sein kann aus gegebenen, gewählten und selbstgestalteten Bestandteilen, vielleicht in sich widersprüchlich und prekär und nicht frei von bösen Versuchungen. Entscheidend ist, dass die Wahl auf überlegte Weise geschieht. Es geht darum, auf die Fragen, weshalb lebe ich so, wie ich lebe, und weshalb handle ich so, wie ich handle, überlegt antworten zu können. Dazu bedarf es der Kenntnis der Bestandteile der Form, die man dem eigenen Leben gibt. Man muss wissen, woher sie kommen, weshalb man sie gewählt hat und auf welche Art und Weise sie in einem historischen und kulturellen Kontext realisiert werden können. So kann es gelingen, über eine zwar flexible, aber bewusst aufgebaute und verantwortete Individualität sich im Dschungel des Neuen nicht zu verlieren, sondern seinen selbst gewählten Weg zu finden, manchmal rasch, manchmal auch in Ruhe und Gelassenheit. Es kann für den Einzelnen nicht darum gehen, im Taumel des Wandels die Dinge unter Kontrolle zu bringen, sondern seinem Leben Form zu geben und auf dieser Basis allein und mit andern zu handeln.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2001

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