Riehen und Tüllingen

Stefan Suter

Zahlreiche Künstler haben als Motiv für ihre Werke die Riehener Landschaft vor dem Hintergrund des Tüllinger Hügels gewählt. Tatsächlich stellt der Tüllinger Hügel mit seinem Bergkirchlein geradezu ein Riehener Wahrzeichen dar - allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass sich dieses Gebiet hauptsächlich jenseits der Grenze befindet. Hinzu kommt, dass die einstige Gemeinde Tüllingen gar nie direkte Nachbargemeinde Riehens war. Interessanterweise ist der Schlipf auf deutscher Seite von einem wenige hundert Meter breiten Gürtel des Weiler Bannes umgeben. Erst oberhalb dieses Streifens beginnt das Gebiet Tiillingens, wobei diese Gemeinde 1935 in die Stadt Lörrach eingemeindet worden ist. Trotz oder vielleicht auch wegen des Verlustes der Selbständigkeit hat Tüllingen seinen historischen Dorfcharakter bis zum heutigen Tag erhalten.

Obwohl der Tüllinger Hügel nicht im Riehener Bann liegt, entfaltet dessen Bild einzig von der Schweizer Seite her den typischen Hügelcharakter mit dem Kirchlein auf der Spitze. Aus Lörracher oder auch aus Weiler Optik liegt nämlich die Kirche nicht mehr auf dem höchsten Punkt, und überdies handelt es sich von diesen Gebieten aus gesehen jeweils um einen langen Höhenzug. Bezeichnenderweise wird deswegen in Lörrach und Weil eher der Begriff Tüllinger Berg oder Tüllinger Höhe verwendet.

Der Tüllinger Hügel - oft auch einfach Tüllinger genannt - gehört übrigens in geologischer Hinsicht nicht zum Schwarzwald, sondern zum Rheingraben. Dieser ist vor etwa 40 bis 20 Millionen Jahren zwischen dem Schwarzwald und den Vogesen eingesunken. Zu den jüngsten im Graben noch vorhandenen Tertiärgesteinen gehören die Tüllinger Schichten, die den Tüllinger Hügel aufbauen und nach ihm benannt sind.

Aus Riehener Sicht steht vom Tüllinger Dorf hauptsächlich die weit herum sichtbare Kirche im Vordergrund.

Dabei ist jedoch nicht ausser acht zu lassen, dass Tüllingen über zwei Ortsteile verfügt: Obertüllingen rund um das Kirchlein und Untertüllingen. Beide Ortsteile sind mit Beschluss vom 15. November 1961 unter Denkmalschutz gestellt worden. Dieser weitsichtige Entscheid hat dazu geführt, dass sich das Ortsbild Untertüllingens noch heute weitgehend wie im 18. und 19. Jahrhundert präsentiert. Die entlang der Hauptstrasse aneinandergereihten Bauernhöfe sind aus Stein und teilweise in Fachwerk erbaut, und vor allem ist der historische Kern nicht durch Neubauten zersiedelt. Trotz seines historischen Reizes steht für viele Riehener jedoch Obertüllingen mit dem Aussichtspunkt bei der Kirche und dem direkten optischen Bezug im Vordergrund.

Wurzeln im Mittelalter

Als die Tüllinger Kirche in den Jahren 1953 bis 1955 umfassend renoviert wurde, kamen im Chor interessante Fresken zum Vorschein. Die Fachleute gehen davon aus, dass diese Wandbilder im frühen 15. Jahrhundert fertiggestellt worden sind. Die Kirche selbst ist jedoch älter. Sie wurde in einem Schutzbrief zu Gunsten des Klosters St. Blasien im Jahre 1173 erstmals erwähnt. über den Grundbesitz des Klosters St. Blasien geben sich sodann gewisse Parallelen zu Riehen, aber auch zu vielen weiteren Gebieten, die zugunsten des Schwarzwaldklosters zinspflichtigen Lehenbesitz auswiesen.

Basler Pfarrherren

Tüllingen gehörte im Gegensatz etwa zu Inzlingen und Stetten unumstritten stets zur Markgrafschaft Baden, und dessen Bevölkerung ist deswegen im Jahre 1556 zum evangelischen Glauben übergetreten. Infolgedessen bestand - trotz des für den normalen Bürger allerdings marginalen Unterschiedes zwischen Badischen Lutheranern und Schweizer Reformierten - keine eigentliche Religionsgrenze. Eine solche hat bekanntlich Heiraten zwischen Personen aus Riehen einerseits und Inzlingen und Stetten andererseits über Jahrhunderte sehr erschwert. Interessanterweise gab es jedoch trotz der konfessionellen Nähe zwischen Riehenern und Tüllingern praktisch keine Mischehen. In den Riehener Kirchenbüchern finden sich zwar viele Taufeintragungen, Eheschliessungen sind hingegen fast keine zu finden. Die häufigen Taufeintragungen gehen in die Zeit des Dreissigjährigen Krieges zurück. Insbesondere im Jahr 1643 - oft aber auch 1632 - wurden in Riehen Kinder von Tüllingern getauft, die des Krieges wegen nach Riehen flüchten mussten. Bei diesen Taufeintragungen finden sich die häufigen Tüllinger Geschlechter wie Göltzlin, Heitz, Heimgartner, Rupp und Herbster. Die beigezogenen Paten stammten in der Regel ebenfalls aus Tüllingen oder Otlingen, gelegentlich treffen wir in den Taufbüchern jedoch auch auf Riehener, welche die Taufe bezeugten.

1834 liess sich der aus Tüllingen stammende Stephan Heimgartner-Gasser (1795-1837) in Riehen nieder. Er arbeitete als Gärtner im La Roche-Gut und hatte drei Kinder, die in Riehen aufwuchsen. Aus dem späten 19. Jahrhundert ist sodann die Witwe Elisabeth Rupp-Spohn (1828-1905) bezeugt, die zuerst an der Rössligasse 15 und dann an der Oberdorfstrasse 41 lebte.

Die kirchlichen Beziehungen Tüllingens waren gegenüber Basel sehr eng. Immer wieder wirkten aus Basel stammende Pfarrherren als Dorfpfarrer im Tüllinger Kirchlein wie zum Beispiel der nachmalige Münsterpfarrer Johann Jakob Gugger (1540-1619) von 1561 bis 1566. Andere Pfarrherren sind direkte Ahnen eingesessener Riehener Geschlechter wie zum Beispiel Pfarrer Ludwig Adolf Cron (1632-1681), der in Tüllingen von 1657 bis 1662 wirkte.

Während es aufgrund der mittelalterlichen Lehensverhältnisse bis weit in die Neuzeit zinspflichtige Grundstücke in Tüllingen wie in Riehen zugunsten der gleichen Lehensberechtigten wie etwa des Basler Domstiftes oder der Basler Kartause gab, blieb wechselseitiger Grundbesitz der Bauern zwischen diesen beiden Gemeinden die Ausnahme. Eine Stichprobe für das Jahr 1825 bei sämtlichen im Gebiet des Schlipfs und des oberen rechten Wieseufers gelegenen Parzellen hat ergeben, dass kein einziger Tüllinger Bauer dort ein Grundstück besass. Ganz anders verhielt es sich damals mit Grundeigentum von Weilern, Stettenern und Inzlingern, die im jeweiligen Grenzgebiet die Eigentumsverhältnisse oft dominierten. Hier mag eine Rolle spielen, dass Tüllingen doch nicht ganz direkt an Riehen grenzt, viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die relativ kleine Gemeinde im eigenen Bann genug anbaubare Fläche vorfand. Die Bevölkerung Tüllingens war denn auch stets viel kleiner als diejenige Riehens.

 

Krieg und Frieden

Eigentliche Auseinandersetzungen zwischen Riehen und Tüllingen sind nicht bezeugt. Vermutlich sind richtige Dorfrivalitäten zwischen diesen Gemeinden gar nie aufgekommen. Das idyllische Kirchlein auf dem Tüllinger Hügel darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Jahre 1702 anlässlich der Schlacht bei Friedlingen der französische General Villars mit seinen Truppen die Tüllinger Höhe erklomm und das Käferholz - ein Waldgebiet Tüllingens - besetzte. Mit Kavallerieunterstützung wurden die französischen Soldaten vom Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden-Baden aus dem Käferholz wieder nach Weil zurückgeworfen. Hierbei sind auf Tüllinger Gebiet Soldaten gefallen, offenbar jedoch keine Tüllinger Einwohner wirklich zu Schaden gekommen.

Die gutnachbarschaftlichen Beziehungen wurden zu Beginn unseres Jahrhunderts auf Regierungsebene teilweise leicht getrübt, als der Regierungsrat von Basel-Stadt vernahm, man wolle auf dem Tüllinger Hügel eine Befestigung errichten. Am 21. Februar 1902 wurde deswegen beim Bundesrat interveniert. Dieser konnte der Basler Regierung jedoch mitteilen, dass ein solches Projekt aufgegeben worden sei und die offenbar festgestellten Ausmessungen im Rahmen normaler Vermessungsarbeiten durchgeführt worden seien. Der Bundesrat ermahnte die Basler Regierung, die Angelegenheit nicht an die öffentlichkeit zu bringen. Trotz eines weiteren Schreibens des Bundesrates liess die Basler Regierung durch Professor Fritz Fleiner ein umfangreiches Rechtsgutachten ausarbeiten mit der Frage, ob der Schweiz das Recht zustehe, gegen eine Befestigung auf der Tüllinger Höhe Einsprache zu erheben. Der Gutachter verneinte dies.

Manchem Spaziergänger ist in Obertüllingen auf dem Lindenplatz vielleicht schon das Hindenburg-Denkmal (Deutscher Heerführer im Ersten Weltkrieg, später Präsident des Deutschen Reiches) aufgefallen. Dieses Denkmal steht jedoch in keinem direkten Zusammenhang zu Hindenburg. Das Denkmal weckt zu grosse Erwartungen: Hindenburg war nie auf dem Tüllinger. Die bronzene Reliefplatte mit Porträt ist von ehemaligen Offizieren nach dem Ersten Weltkrieg in einem Felsblock aus Tüllinger Kalk angebracht worden.

Kinder, Drachen und Wirtschaften

Im Jahre 1852 erhielt der Basler Johann Friedrich Tripet die Berechtigung, in Obertüllingen eine Gastwirtschaft mit dem Namen «schöne Aussicht» zu eröffnen. Diese Gastwirtschaft war bis 1959 auch für Riehener stets ein lohnendes Ausflugsziel. Dann hat das sich auf dem Tüllinger Hügel befindliche Kinderheim die Gebäulichkeiten gekauft. In dieses Kinderheim sind übrigens zu Beginn unseres Jahrhunderts immer wieder straffällig gewordene Knaben aus Basel eingewiesen worden.

Kinder spielen auch eine Rolle, wenn im Herbst an schönen Tagen vom Tüllinger Lindenplatz aus zahlreiche Drachen dank der über die Höhe blasenden Winde in die Luft gelassen werden können. Diese sind weit herum sichtbar und mögen mit Phantasie Erinnerungen an die mittelalterliche Legende erwecken, wonach die Heilige Ottilia vom Tüllinger Hügel aus ihren frommen Mitschwestern auf St. Chrischona (Chrischona) und auf dem Margarethenhügel (Margaretha) Feuerzeichen gegeben haben soll. Wenngleich diese Legende mit der historischen Wirklichkeit nur am Rande etwas gemein hat, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass man vom Tüllinger Hügel nicht nur über Riehen hinweg zur St. Chrischona und über den Margarethenhügel, sondern bis weit in den Jura und in den Sundgau blicken kann.

 

Quellen StABS Deutschland A4 StABS Grundbuch J1 (Kataster von Riehen 1825, Sektion B)

Unser Lörrach - eine Grenzstadt im Spiegel der Zeit, Band 3, 1972, mit Beiträgen von Annemarie Heimann, Gerhard Moering, Albert Vögtlin, Walter Jung, Otto Wittmann, Inge Gula etc.

GKR

Rudolf Moosbrugger-Leu, Die Chrischona-Kirche von Bettingen, Materialheft zur Archäologie in Basel 1, Basel 1985

HGR

 

Auskünfte erteilten

Stadt Lörrach, Bürgermeisteramt, Friedrich Gnädinger/Danuta Meierski Dr. Lukas Hauber, Kantonsgeologe Basel-Stadt

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1995

zum Jahrbuch 1995