Vom Weiterleben der alten Dinge


Bernhard Graf

 

«Wie bitte – diesen Teddybären wollen Sie fürs Museum? Er ist aber nicht von Steiff!» «Eben deswegen passt ‹Mutzli› in die Sammlung.» «Aber alt ist er auch nicht, höchstens vielleicht siebzig Jahre.» «Kein Problem – Alter ist relativ und im Übrigen kein Kriterium für das Museum.»


 

Dialoge wie dieser gehören zum Alltag von Sammlungsverantwortlichen in Museen. Sie ergeben sich in Wohnzimmern voller persönlicher Altertümer oder in leergeräumten Wohnungen vor dem Eintreffen der Entsorgungsfirma. Und sie entstehen zwischen zwei Personen, die sich in aller Regel vorher nie gesehen haben und die einen unterschiedlichen Zugang zu Dingen und Geschichten haben, was ihre Gesprächsmotivation prägt. Der Verlauf solcher Begegnungen ist nicht vorhersehbar, auch wenn es dafür natürlich Muster gibt. So kann der Konservator nach fünf Minuten das Gespräch mit den Worten beenden: «Den Anker-Steinbaukasten Nr. 7A haben wir bereits dreimal – danke dennoch für das Angebot!» Oder der Noch-Besitzer des Teddybären kann zwei Tage später im Museum stehen und das Lieblingstier seiner Kindheit in die Obhut des Konservators übergeben, auch wenn er sich beim Besuch des Konservators noch nicht dazu entschliessen konnte.


 

Vom Überdauern, …


Bär ‹Mutzli› wird nun also in die Sammlung des Spielzeugmuseums Riehen integriert. Sein einstiger Besitzer erzählt dem Konservator, unter welchen Umständen er ihn geschenkt bekam und wie sehr er ihn liebte, weil er ihn nachts beschützte. Der Konservator verspricht, ‹Mutzli› gut zu behandeln, gibt aber zu bedenken, dass er zunächst magaziniert und erst bei passender Gelegenheit ausgestellt werde. Und er erklärt dem Schenkenden auch, dass die emotionale Bindung des Kindes an den Bären im Museum leider – ausser bestenfalls mit Worten in der Sammlungsdatenbank – nicht für die Nachwelt konserviert werden könne. 


 

So lebt der 70-jährige Teddybär weiter als Ding – eigentlich eine unwürdige Bezeichnung für den Beschützer eines schlafenden Jungen! –, während sein einstiger Besitzer unterdessen schon gestorben ist und der Konservator nicht mehr im Museum arbeitet. ‹Mutzli› überlebt voraussichtlich auch die beiden Menschen, durch deren Hände er ging. Eines Tages wird er 100 Jahre alt sein und irgendwann vielleicht 200. Da ‹Mutzli› eher bärenhaft wortkarg ist, wird er jemanden brauchen, der dem künftigen Publikum seine Geschichte erzählt. Aber zumindest seinen guten Charakter erkennt man schon auf den ersten Blick!


 

… vom Verschwinden …


Eine weitere Bärengeschichte, die sich ebenso zugetragen hat wie die eingangs beschriebene, endete ganz anders. Dem Museumskonservator wurde telefonisch ein Teddybär angeboten, der altershalber allerdings etwas lädiert sei. Nicht, dass Dinge mit Gebrauchsspuren uninteressant wären – im Gegenteil, sie haben viel zu erzählen! –, aber der Konservator nahm den Bären vorsichtshalber bei seiner Besitzerin in Augenschein, um ihn bei ihr lassen zu können, falls er für die Sammlung nicht taugen sollte. Der Bär befand sich tatsächlich in einem bedauernswerten Zustand, den er aber mit einem gewissen Stolz vorführte. Es war unübersehbar, dass der Bär dem kleinen Mädchen in längst vergangener Kindheitszeit sehr lieb gewesen war. Ihn deshalb in die Sammlung aufzunehmen, wäre ein naheliegender Akt des Mitleids gewesen. Der Konservator aber ging einen anderen Weg: Nach einem kurzen Blick auf die Besitzerin fragte er sie, ob er einen unkonventionellen Vorschlag machen dürfe. Da sie bejahte, sagte er: «Holen Sie im Keller eine gute Flasche Rotwein. Setzen Sie Ihren Bären an den Tisch, schenken Sie Wein in zwei Gläser und verabschieden Sie sich feierlich von Ihrem Bären, indem Sie ihm sagen, dass dies jetzt ein Abschied für immer sein werde. Betten Sie ihn dann in einen Müllsack, den Sie am anderen Morgen von den Müllmännern holen lassen.» Die Frau stutzte einen Moment, bedankte sich dann aber für den Vorschlag. Drei Wochen später erhielt der Konservator eine Karte, mit der ihm die Frau mitteilte, dass sie seine Idee in die Tat umgesetzt habe und wie wunderbar das gewesen sei.


Dieser Bär erreichte sein ‹Lebensende› also vor seiner Besitzerin. Die mit ihm verbundenen Geschichten blieben der Nachwelt nicht erhalten, weil sie keinem Museumskonservator erzählt wurden, sodass sie Eingang in eine Sammlungsdatenbank hätten finden können.


 

… und vom Loslassen


Die beiden Bärenschicksale verbindet, dass ihr Besitzer und ihre Besitzerin sich zu Lebzeiten darum kümmerten, was mit ihren Lieblingen geschehen soll. Das ist der einzig richtige Weg, um sich Sorgen über das Weiterleben der Dinge nach dem eigenen Tod vom Hals zu halten. Man kann so nämlich auch allfälligen Zuwiderhandlungen der Erben gegen den eigenen Willen vorbeugen, die an den alten Dingen, die man ihnen hinterliess, kein Interesse haben. Das Ent-Sorgen von Dingen und damit das Fernhalten von Illusionen oder Enttäuschungen ist generell wohltuend, aber nicht einfach zu bewerkstelligen. Wer ein Leben lang Dinge um sich versammelte (brauchbare ebenso wie nicht wirklich nützliche), wird damit Mühe haben. Vielleicht übt man das deshalb am besten zuerst mit Dingen, die einem nicht so sehr am Herzen liegen wie ein Teddybär. Die Wirkung ist sofort spürbar!


 

Im Museumsjargon heisst die sehr gut zu überlegende und unter Berücksichtigung aller juristischen Aspekte zu erfolgende Ent-Sorgung eines Gegenstands ‹De-Akzess›. Entlassungen aus dem Inventar sind in den Museen aber tabu, und das mit gutem Grund: Sobald sich der persönliche Geschmack eines Sammlungsverantwortlichen nicht nur beim Objekterwerb, sondern eben auch in der Entlassung aus dem Inventar bemerkbar macht, wird die Sammlung instabil. Zwar hält der Internationale Museumsrat ICOM fest, dass De-Akzess dann möglich sei, wenn durch diesen Vorgang die Qualität der Sammlung nicht ab-, sondern zunehme. Aber alltäglich sind solche Vorgänge in den Museen richtigerweise nicht. Sie müssen übrigens nicht zwingend in der Vernichtung des betreffenden Gegenstands enden: Man kann ihn auch verschenken oder dauerhaft ausleihen.


 

Am einfachsten ist es aber, ein Ding gar nicht erst in die Sammlung aufzunehmen, das schlecht oder gar nicht passt. Der Entscheid, einen Gegenstand in eine Sammlung zu integrieren oder nicht, ist jedoch immer subjektiv – und deshalb schwierig für denjenigen, der ihn fällt, wie auch für diejenige, die er betrifft. In einer Zeit, in der Dinge mehr zu gelten scheinen als Immaterielles – beispielsweise das Gespräch, das Zusammensein, der Gedanke, das Gefühl –, besteht die Gefahr, das Weiterleben der Dinge zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Was aber umgekehrt nicht heisst, dass man mit Dingen achtlos umgehen und ihre Lebenszeit vorsätzlich einschränken soll. Wenn nämlich die Dinge, die uns im Alltag umgeben, jene sind, die wir wirklich brauchen, ist ihre Zahl begrenzt. Und so hat auch noch ein Ding in unserem Alltag Platz, das wir nicht mehr brauchen.


 

Das tönt nun alles einfach und kompliziert gleichzeitig. Und tatsächlich ist es einfach und kompliziert – und wenn derjenige, der diese Zeilen schreibt, als Privatmann den Museumskonservator, der er einmal war, fragt, was denn nun dereinst aus seinem Lieblingsbären werden soll, findet er die Antwort darauf nicht ohne Weiteres …


 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2014

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