Von der Kaffeebohne bis zur Radarwarnung

Nicolas Jaquet-Anderfuhren

«Als eines der letzten Häuser vor dem Grenzübergang von Inzlingen erstreckt sich auf der linken Seite der Inzlingerstrasse ein breit hingelagertes Wohnhaus mit ökonomiegebäude. Es handelt sich dabei um einen der wenigen Bauernhöfe in der Umgebung Riehens, die auch durch ihre malerische Lage den Blick auf sich ziehen.» So heisst es im Bericht der öffentlichen Denkmalpflege zur am 23. Januar 1973 erfolgten Aufnahme dieser Liegenschaft in das Verzeichnis der geschützten Bauwerke.

Die Inzlingerstrasse weitet sich an dieser höchsten Stelle nach einem längeren Anstieg zu einem Vorplatz aus und biegt anschliessend im Schutz eines Akazienwäldchens in einem leichten Knick nach Inzlingen ab. Das Gebäude ist in den Abhang des Aubachtals hineingebaut, das sich hier gegen Riehen öffnet.

«Das Haus ist noch aus einem andern Grund erhaltenswert. Als es 1893 errichtet wurde, war es das einzige Gebäude zwischen dem Oberdorf und der Grenze», ist weiter im erwähnten Bericht zu lesen. Das Gehöft besticht auch durch seine qualitätvolle architektonische Ausgestaltung. Wohnhaus, ökonomiegebäude und Schopf sind mit einer durchgehenden Firstlinie in einem geschlossenen Baukörper zusammengefasst. Die aussergewöhnliche Situation wird durch zwei Linden betont, die vor der Vor treppe des Wohnhauses emporragen. Ihre hohen Silhouetten heben das eher gedrungene, in den Hang eingebettete Gebäude hervor.

Erbauer dieses 1893 errichteten Anwesens auf dem «Hinterengeli», wie das auch heute noch grösstenteils landwirtschaftlich genutzte Gebiet heisst, war der aus einer angesehenen Inzlinger Bauernfamilie stammende Adolf Karth. Der Vater Ludwig Karth, Landwirt, starb früh, und seine Frau musste allein die vier Kinder aufziehen und das Geschäft mit den Steingruben und der Landwirtschaft weiterführen.

Der Umzug von Adolf Karth nach Riehen hatte religiöse Hintergründe. Zu jener Zeit kamen die Brüder der Pilgermission St. Chrischona an Sonntagnachmittagen vom «Berg» durch das Chrischonatäli nach dem katholischen Inzlingen, um dort Versammlungen abzuhalten. Um für das Singen ihrer Lieder eine Begleitung zu haben, suchten sie ein Harmonium. Ein solches Instrument stand im Elternhaus von Adolf Karth in Unter-Inzlingen. So entwickelten sich mit der Zeit engere Kontakte zu dieser Familie mit der Folge, dass Karth und seine beiden Schwestern zum evangelischen Glauben übertraten, während die Mutter und der älteste Sohn Peter der katholischen Kirche treu blieben.

Der Schritt der Kinder Karth zum Glaubenswechsel wurde vom grossen Teil der örtlichen Bevölkerung nicht gerne gesehen. So sahen die Betroffenen in einem Wegzug vom Dorf die beste Lösung. Die eine Schwester, Anna Maria, heiratete einen Evangelischen aus Hüsingen und wanderte nach Amerika aus, die andere, Lina, verheirate te sich mit einem Chrischonaprediger und nahm in der Nähe von Karlsruhe Wohnsitz.

Adolf Karth fand seine neue Heimat wenige Meter von der Inzlinger Landesgrenze entfernt auf Riehener Boden und errichtete hier sein neues Anwesen. Manche Inzlinger betrachteten Adolf Karth weiterhin als Abtrünnigen und gaben ihrem Unmut dadurch Ausdruck, dass sie beim Vorbeigehen an seinem Haus kräftig ausspuckten.

1893 heiratete Adolf Karth Emma Walter aus Weil. Am 25. Februar 1893 erhielt das Paar die Niederlassungsbewilligung in Riehen und am 10. Februar 1909 wurden die beiden ins Riehener Bürgerrecht aufgenommen. Adolf Karth war nicht nur Landwirt, sondern auch Spezierer, besass er doch als Nebenbetrieb einen kleinen Spezereiladen, der bis zu seiner Schliessung Ende 1993 nach lOOjährigem Bestehen vorwiegend von den Inzlinger Grenzgängern aufgesucht wurde. Solche Grenzläden gab es bei jedem Grenzübergang in Riehen. Daneben war Adolf Karth, der Familientradition folgend, ebenfalls Steinlieferant. Zu diesem Zweck hatte er 1892 von der Gemeinde Riehen einen Teil des nahe gelegenen Steinbruchs im Maienbühl erworben.

Auf seinem Hof hielt Adolf Karth unter anderem Kühe, Pferde, Schweine, und da er Selbstversorger war, befanden sich im Keller ein Backofen und eine Weintrotte. Als Gehilfen hatte er Knechte aus Inzlingen.

Der Laden in der Anfangszeit

In den Laden kamen in der Anfangszeit vor allem Inzlinger. Das Gebiet war ja auf Schweizer Seite um die Jahrhundertwende bis etwa in die zwanziger Jahre noch kaum besiedelt. Ein grosser Renner im Sortiment scheint am Anfang Petrol in Kännchen gewesen zu sein, das die Inzlinger besonders oft verlangten. Das schweizerische Zollamt befand sich damals noch nicht an der Landesgrenze wie heute, sondern viel weiter unten an der Verzweigung Lörracherstrasse/Weilstrasse/Inzlingerstrasse. So lebte die Familie Karth in ihrem Haus in einer Art «Niemandsland». 1913 wurde der Zollposten dann ins Privathaus des Zollamtvorstehers an der Inzlingerstrasse 204 verlegt, nahe bei der Verzweigung mit dem Hohlweg. Am 9. Dezember 1940 wurde das neue Zollgebäude an der Inzlingerstrasse 333 direkt an der Landesgrenze bezogen.

Während sich Adolf Karth vorwiegend um die Landwirtschaft und den Steinbruch kümmerte, war die Arbeit in Haus, Hof und Laden Sache der Ehefrau und Mutter von acht Kindern. Als Weilerin war Emma KarthWalter eng mit dem Rebbau verbunden. So war es nicht verwunderlich, dass sie sich persönlich um die Reben kümmerte, die am steilen, zum Autäli abfallenden Hang gediehen. Die «Hinterengeli-Reben» gehörten in Riehen seit altersher zu den angestammten Weinanbaugebieten.

Emma Karth versorgte auch die Hühner. Oft machte sie sich in den Anfangsjahren in ihrer Markgräfler-Tracht, den Eierkorb auf dem Kopf tragend, zu Fuss auf den Weg in die Stadt Basel.

Der Laden wird zum Schlaflokal

Beim Ausbruch des 1. Weltkrieges zog die Armee die Pferde der Landwirte ein, so auch diejenigen von Adolf Karth. Die Feldarbeit musste dann auf mühsame Weise unter der Zuhilfenahme von Kühen geleistet werden. Da die Grenze gesperrt war, wurde der Laden geschlossen. Auf dem freien Platz gegenüber dem Haus von Adolf Karth wurde eine Baracke aufgestellt für die Unterkunft und den Aufenthalt der zum Grenzbewachungsdienst eingesetzten Soldaten, während das Ladenlokal den Offizieren als Schlafraum diente. Zu jener Zeit wurde im Haus auch das Telefon eingerichtet.

Eher ungemütliche Momente hatte die Familie Karth in einer Samstagnacht durchzustehen, als ein Unteroffizier plötzlich ins Haus stürmte und schrie, die ganze Liegenschaft müsse durchsucht werden, da ein Familienangehöriger Schmuggelgut ins Haus geschafft habe. Alle Erwachsenen und die grösseren Kinder wurden aus dem Schlaf gerissen und verhört. Die jüngeren Kinder liessen die Soldaten zwar in Ruhe. Diese waren aber durch den Lärm aufgewacht und fürchteten sich sehr. Die Hausdurchsuchung hatte schliesslich nichts zutage gefördert. Durch den Zwischenfall fühlte sich die Familie verständlicherweise gekränkt, und die Verbundenheit zwischen ihr und der einquartierten Truppe war von nun an getrübt.

Als sich zu jener Zeit in der Bauwirtschaft ein Trend zu andern Materialien und neuen Techniken bemerkbar machte und Natursteine nicht mehr so gefragt waren, gab Adolf Karth seine Tätigkeit als Steinlieferant auf und stellte die Arbeit im Steinbruch im Maienbühl ein.

Zwischen zwei Weltkriegen

Der Existenzkampf eines kleineren selbständigen Betriebes, den die Kinder von früher Jugend an im Elternhaus kennenlernten, war schwer. Als sie erwachsen waren und teils zu Hause mitarbeiteten oder von ausserhalb den Verdienst heimbrachten, waren die Sorgen etwas kleiner. Doch an Schicksalsschlägen fehlte es nicht. Im Jahre 1931 starb die Mutter im 60. Lebensjahr. Bald darauf brach bei den Kühen im Stall die Tuberkulose aus. Der Sohn Gustav, der auf dem Hof noch eine Fuhrhalterei und eine fahrbare Obstbrennerei betrieben hatte, starb 1932 an Tuberkulose.

Nach dessen Tod gab der Vater die Landwirtschaft auf. Ein Jahr darauf raffte die gleiche Krankheit die jüngste Tochter Magdalena hinweg. Drei Geschwister führten nach dem Tod der Mutter, sich gegenseitig ablösend, den Laden weiter und begannen auf einem Teil des Landes mit dem Obst- und Gemüseanbau, während die restlichen Acker und Felder verpachtet wurden.

Schwierige Zeit im 2. Weltkrieg

Am Tag der Generalmobilmachung zu Beginn des 2. Weltkrieges, am 2. September 1939, starb Adolf Karth. Die Enkelin Jeanette Müller-Karth erinnert sich noch, wie ihre Mutter den Anbau von Gemüse, Salat, Rhabarber und Cornichons vorantrieb und die Ware auf dem Markt in der Stadt verkaufte. Gleichzeitig baute sie sich, um eine regelmässige Abnahme sicherzustellen, im Kleinbasel einen festen Kundenkreis auf.

Während der Kriegszeit lag der Laden der Geschwister Karth in der militärischen Sperrzone, und die Bewohner des Hofes und Grenzladens im Hinterengeli lebten recht einsam. Zeitweise durften sie nicht einmal Besuche empfangen. Gelegentliche Kunden waren die wenigen Inzlinger, die damals die Grenze überschreiten durften. Einige von ihnen hatten manchmal das Bedürfnis, sich etwas umfassender über die Weltlage zu informieren, und hörten im Hinterzimmer des Ladens die Radionachrichten des schweizerischen Landessenders. Zu jener Zeit wollten die drei im Hause gebliebenen Geschwister das Anwesen verkaufen, doch die Preise waren schlecht. Die Tochter Emma SturmKarth war mit diesem Vorgehen aber nicht einverstanden und führte von 1943 bis 1965 den Laden selber.

Hektische Nachkriegszeit

Nach dem Krieg bahnte sich langsam wieder ein normaler Grenzverkehr an. In der Anfangszeit war die Mitnahme von Waren nach Deutschland aber noch sehr beschränkt. So durften zum Beispiel nur ein Päcklein Zigaretten und nur 49 Gramm Kaffee pro Monat mitgenommen werden. Für die Ladeninhaberin bedeutete dies ein beschwerliches Abfüllen und Abwägen von Kleinpackungen mit 49 Gramm Tee oder Kaffee, 499 Gramm Zucker usw. über die von den einzelnen Kunden über die Grenze gebrachten Waren führte der deutsche Zoll genau Buch.

Viel zu tun im Lädeli gaben die Liebesgabenpakete, die von Schweizern an Bekannte in Deutschland gesandt wurden zu einer Zeit, in der in der Schweiz die Lebensmittel noch rationiert waren. Zuerst musste der Inhalt der Pakete zusammengestellt werden. Dann wurde jedes einzelne Paket einem Gewährsmann anvertraut. Dieser brachte die verschiedenen Waren in den kleinen erlaubten Mengen in mehreren Gängen sukzessive über die Grenze. Wenn einer den ganzen Paketinhalt nach Inzlingen geschafft hatte, verpackte er die Ware und übergab das Paket der dortigen Post zur Spedition an den Empfänger in Deutschland.

Das Zusammenstellen der Pakete, der komplizierte Lransport über die Grenze in vielen Einzelpartien und die Weiterleitung an die Empfänger brachte gross und klein im Lädeli viel Arbeit, wobei für den reibungslosen Ablauf viele Kontrollen nötig waren. Im weitern sammelte Emma Sturm bei Bekannten in der Schweiz Brotrationierungsmarken und gab an hungrige Inzlinger für 10 Rappen ein Stück Brot ab. Ob die Grenzgänger damals immer alle Waren, die sie bei sich hatten, deklarierten oder ob nicht einige hin und wieder etwas in ihren Schuhen oder Knickerbockerhosen versteckten, entzieht sich der Kenntnis des heutigen Chronisten.

Nach dem Tod ihrer ältesten Schwester im Jahre 1955 und des Bruders im Jahr darauf übernahm Emma SturmKarth das Haus. Im Rahmen eines Umbaus gliederte sie 1962 den nur über die Vortreppe zu erreichenden Laden aus dem Wohnhausteil aus und verlegte ihn ebenerdig in die ehemalige Scheune.

Warnung vor der «Schwobefalle»

Nicht immer hielten sich die Inzlinger Automobilisten auf ihrer Fahrt zur Arbeit die Inzlingerstrasse abwärts an die (damals) erlaubten 60 Kilometer. So musste die Basler Polizei bei ihren Radarkontrollen jeweils etliche Bussenzettel ausstellen. Bei einer Kontrolle am frühen Morgen des 20. Juni 1963 fuhren die Inzlinger jedoch äusserst diszi pliniert, was die Polizisten stutzig machte. Der zur Erkundung ausgesandte Kollege konnte zwar nirgends eine Tafel entdecken, die vor der Radarkontrolle gewarnt hätte, er sah aber die Inhaberin des Grenzlädeiis, wie sie eifrig mit dem Besen den Vorplatz kehrte und gleichzeitig den Automobilisten seltsame Zeichen gab. Der Beamte betrachtete dieses Verhalten als Diensterschwerung und sprach eine Busse von 20 Franken aus.

Dies liess sich die wackere Ladeninhaberin nicht gefallen und erhob Einspruch. Der Gerichtspräsident betrachtete die Warnung eines Freundes vor einer Radarkontrolle als einen durchaus erlaubten Freundschaftsdienst. Im besagten Fall ging es zwar nicht um eigentliche Freunde, doch Emma Sturm handelte im Rahmen des Kundschaftsverhältnisses. Sie habe die Autofahrer gewissermassen als Dienst am Kunden nur zur Gesetzestreue auffordern wollen, meinte sie. Denn Kunden waren diese Automobilisten allemal, wenn sie abends auf der Heimfahrt von ihrem Laden Kaffee, Schokolade, Zucker und Rauchwaren mitnahmen. Dieser Argumentation wusste das Gericht nichts entgegenzuhalten.

Die Familie zieht sich zurück

Im Jahre 1965 zog sich Emma Sturm 62jährig vom Ladengeschäft zurück. Da sich in der Familie keine Nachfolger fanden, wurde das Geschäft vermietet. Zuerst waren es verschiedene Schweizer Pächter und dann eine italienische Familie, die den Laden betrieben. Die letzten Jahre bis zur endgültigen Schliessung führte die aus Slowenien stammende Frida Kreitner den Laden. Da sie früher in einem Riehener Restaurant im Service tätig war, hatte sie einen grossen Bekanntenkreis, und so gelang es ihr, den Laden zu einem gemütlichen Treffpunkt ihrer Bekannten zu machen, was sicher auch dem Umsatz förderlich war.

Nun ist das Gränzlädeli seit bald zwei Jahren verschwunden. Das Haus befindet sich zurzeit im Umbau. Von der Besitzerfamilie der vierten Generation werden drei Wohnungen für den Eigenbedarf eingebaut.

Quellen

Schriftliche und mündliche Angaben von Magdalena Hürlimann-Sturm und Jeanette Müller-Karth, beide Riehen, Grosskinder von Adolf Karth Walter (3. Generation)

RRJ

Iselin

RGD

GKR

Gemeindearchiv Riehen

HGR

öffentliche Denkmalpflege Basel

«Die Geschichte der <Schwobefalle>», auf Wunsch von Emma Sturm-Karth erst nach ihrem Tod im Mitteilungsblatt der Gemeinde Inzlingen veröffentlicht (am 26. Oktober 1963 erschienen in: «Badische Zeitung»)

Personen

Ludwig Karth (1827-1882)

Adolf Karth-Walter (1867-1939)

Emma Karth-Walter (1870-1931)

Gustav Adolf Karth (1897-1932)

Albert Karth (1894-1956)

Olga Karth (1895-1955)

Johanna Karth (1900-1989)

Elsa Karth (1905-1977)

Magdalena Karth (1910-1933)

Emma Hulda Sturm-Karth (1903-1988)

Jeanette Müller-Karth (*1931)

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1995

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