Aus Kriegs- und Nachkriegszeit im Grenzbezirk

Erinnerungen zweier Riehenerinnen

Die Geschichte mit dem Freipaß
Von E.L.-K.

Als 1914 der Rummel an der Grenze losging, war ich ein elfjähriges Mädchen. Meine Eltern besaßen einen Hof an der badisch-schweizerischen Grenze, weshalb ich zu jener Kategorie von Staatsbürgern gehörte, die im Besitze eines Freipasses zu sein hatten, wenn sie ihrer Arbeit auf dem Felde nachgingen. Man schickte mich zum Photographen, denn ohne Photographie war kein Paß zu bekommen. Da saß ich nun also im Atelier und ließ mich von einer hochfrisierten Dame bitten, «freundlich zu lächeln». Ich fand aber, daß ich keinen Anlaß habe, freundlich zu lächeln, denn ich brauchte Paß und Photographie doch bloß, um bei der Heimschaffung des Heues zu helfen. So machte ich denn durchaus kein vergnügtes Gesicht; aber es wurde noch länger, als ich erfuhr, daß ich die Photos erst nach zwei Tagen werde abholen können.

Richtig mußte ich schon am Nachmittag zum Heuwenden in die Aumatten. Zwar erhob ich eine schüchterne Einwendung des Passes wegen, fand aber kein Gehör, denn es war prächtiges Heuwetter und die Arbeit drängte. So machte ich mich denn mit meinem Bruder an die Arbeit. Da unser Land auf Schweizer Boden lag, dachte ich übrigens nichts Böses, trotzdem in unserer Gegend Soldaten und Grenzwächter ziemlich fleißig patrouillierten. Anderthalb Stunden dauerte die Arbeit. Dann machten wir uns auf den Heimweg. Unglücklicherweise leuchteten mir unterwegs einige Erdbeeren aus dem dunklen Laubwerk entgegen. Während mein Bruder seines Weges weiterzog, tat ich mich an den Beeren gütlich. Plötzlich war der Bruder meinen Blicken entschwunden. Nun dachte auch ich ans Heimgehen. Aber die Sache war komplizierter, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich stieß nämlich bald auf einen patrouillierenden Soldaten, der mich ins Verhör nahm und mir auf den Kopf zu sagte, mein Bruder habe in einem Korb allerhand Dinge über die Grenze geschmuggelt, und im übrigen sei ich sowieso verdächtig, weil ich keinen Paß habe. Da ich ein gutes Gewissen hatte, antwortete ich sehr selbstsicher und verwahrte mich energisch gegen den Vorwurf, mit meinen Aussagen der Wahrheit widersprochen zu haben. Das brachte den Soldaten in Harnisch. Er führte mich mit aufgepflanztem Bajonett ab, zuerst ins Büro des Grenzwachtmeisters, wo das gleiche Verhör mit dem gleich negativen Erfolg mit mir angestellt wurde. Dann ging's ins Dorf aufs Paßbüro. Wohl 30 Personen drängten sich vor dem Büro, als der Soldat mit geschultertem Gewehr und ich mit meiner Heugabel anrückten.

Mich begann es nun eigenartig im Halse zu würgen; nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten, denn ich glaubte bestimmt, daß man mich auf den Lohnhof nach Basel abführen werde. Bange Minuten des Wartens verstrichen. Die Umstehenden begafften mich neugierig und tuschelten erregt miteinander. Endlich erschien der «Paßgewaltige», und der Soldat sagte sein Verslein zum x-ten Male auf. Ich fürchtete das Schlimmste. Da herrschte mich der Vorsteher des Paßbüros an, ob ich nicht wisse, daß ich einen Paß haben müsse, und dann — schob er mich energisch zur Türe hinaus. Ich war entlassen und tat einen tiefen Schnaufer, so wohlfeilen Kaufes davongekommen zu sein. Von da ab hätten mich aber keine zehn Pferde mehr ohne Paß in die Aumatten gebracht...

 

«Riehener» Kirschen 1945

Von E. St.-K.

Man schreibt das Jahr 1945. Es ist Kirschenzeit. Kanonen sind in unserer Ecke nicht mehr zu hören; französische Truppen halten die badische Grenze besetzt. Einige unserer Bäume stehen an einem gottverlassenen Fleck— auf deutschem Boden. Das «Günnen» ist so mit Umtrieben verbunden. Man braucht eine Feldkarte. Wer drüben Land und Obst besitzt, bekommt sie verhältnismäßig leicht. Für andere ist der offizielle Grenzübertritt kaum möglich, selbst Pässe werden nicht ausgestellt.

Mein Bruder und ich, beide glückliche Inhaber der erforderlichen Ausweise, hatten eine gute Kirschenpflückerin engagieren können. Leider besaß Frau R. von Basel weder Feldkarte noch Paß, noch bestand Aussicht auf entsprechende Papiere. Da der fragliche Baum nur knappe zwei Meter von der Grenze entfernt stand, riskierten wir es, mit ihr zusammen die Kirschen zu pflücken. Auch mein sechsjähriges Söhnchen nahm ich mit, damit es unter Aufsicht war. Nach einer halben Stunde Arbeit sahen wir in der Ferne zwei französische Patrouillen. Das störte uns nicht weiter, wir wußten aus Erfahrung, daß sie nicht in unsere Ecke zu kommen pflegten. Aber oh Schreck! Ein Schweizer Zöllner hatte uns entdeckt; er wechselte einige Worte mit den Franzosen und zeigte in unsere Richtung. Der Erfolg blieb nicht aus, einige Minuten später wollten die Soldaten unsere Ausweise sehen. Da war nun guter Rat teuer. Ich allein trug die Feldkarte auf mir; die des Bruders steckte daheim im Kittel, Frau R. hatte nichts Schriftliches bei sich, wie wir ja im voraus wußten, und was meinen Kleinen anging, hätten wir selbst beim besten Willen keinen Ausweis vorzeigen können, Kinderkarten wurden nicht ausgegeben. Da ich französisch spreche, versuchte ich, die Situation zu erklären. Ich bat die Franzosen, doch ein Auge zuzudrücken. Aber nichts da. Mich ließen sie laufen, der Rest der Gesellschaft mußte mit auf den Posten. Man kann sich denken, mit welch ängstlichen Gefühlen ich nach Hause eilte, vor mir die paar Kilo Kirschen auf dem «Märtwägeli» als karges Ergebnis unserer kaum begonnenen Arbeit. Wie würde es den anderen ergehen, die sich ja nicht einmal mit den Fremden verständigen konnten, wie vor allem meinem Söhnchen in dieser ungewohnten Lage. Zu Hause angekommen, war mein erster Gedanke, die Feldkarte des Bruders zum Grenzposten zu bringen. Vielleicht würden sie dann ihn und auch meinen Fritzli springen lassen. Während ich noch beim überlegen und Suchen war, stand plötzlich der Kleine vor mir, verängstigt und weinend. «Ja, woher kommst denn du?» fragte ich erstaunt und erleichtert. Da erfuhr ich nun, daß die Soldaten so schnell den Grenzweg entlang gegangen seien, daß er kaum noch hätte nachkommen können. Als er dann von weitem unser Haus erblickte, sei er einfach über die Grenze gesprungen und im Schutze eines Weizenackers ungesehen hierher gerannt. Natürlich freute ich mich über mein kluges Büblein; einer Sorge war ich nun ledig, dafür mußte ich jetzt fürchten, selbst festgehalten zu werden, wenn ich mich für meinen Bruder auf den Grenzposten wagte. Tatsächlich kam es dort auch zu großen Diskussionen. In dem Lokal saßen Frau R. und mein Bruder wie arme Sünder, bewacht von einem halben Dutzend Franzosen, die sich kaum darüber beruhigen konnten, daß ihnen mein Kleiner durchgebrannt war. Als sie es schließlich überwunden hatten, sollten wenigstens die restlichen Häftlinge nach Lörrach gebracht werden. Erst nach vielen Vorstellungen war man bereit, die Vergeßlichkeit meines Bruders als solche anzuerkennnen und ihn freizulassen. Die arme Frau R. behielt man in Haft und überstellte sie nach unserer Nachbarstadt. Mir fiel die unangenehme Aufgabe zu, nach Basel zu telefonieren und ihrem Mann zu berichten. Er war ganz verzweifelt; auch ihm fehlte der Paß, um sich jenseits der Grenze um seine Frau kümmern zu können. Zum Glück gab es in seinem Bekanntenkreis einen Polizisten, der nahm sich der Sache an und besorgte für sich und Herrn R. Bewilligungen für einen einmaligen Grenzübertritt. Inzwischen vergingen Tage, in denen Frau R. eine Gerichtsverhandlung und den Aufenthalt im Lörracher Gefängnis über sich ergehenlassen mußte. Erst nach einer Woche konnten sie die beiden Basler abholen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1968

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