Autoren aus Riehen Alain Claude Sulzer

Valentin Herzog

Vieux Ferrette ist eines jener Elsässer Dörfchen, in denen kaum je ein auswärtiger Autofahrer anhält - warum sollte er auch: Es gibt hier kein bekanntes Restaurant, keine Sehenswürdigkeiten; ein paar Fachwerkhäuser an einer viel zu breiten Hauptstrasse und ein historisierender Kirchturm des letzten Jahrhunderts machen das Dorfbild, dem man bestenfalls eine gewisse verschlafene Idyllik zusprechen kann. Die Kirche steht fast am Rand des Ortes; dahinter kommen nur noch der Friedhof und wenige Häuser. Das vorletzte - altes Gemäuer unter frisch gedecktem Dach - verschwindet fast unter den Blütendolden einer riesigen Glyzinie.

Wenn ich mein Fahrrad an den Gartenzaun lehne, tritt ein junger Mann unter die Haustür: glattes Haar, bleiches Gesicht, weisses Hemd. Begegnete ich ihm auf der Strasse, würde ich ihn für einen Kleinbauernsohn halten, der - wie so viele hier - irgendwo in Mulhouse seine Tage hinter einem Ladentisch verbringt, abends noch ein paar Kühe versorgt oder rasch mit dem Traktor aufs Feld fährt.

Richtig an dieser Vermutung wäre einzig, dass Alain Claude Sulzer tatsächlich aus einer Bauernfamilie stammt. Im übrigen aber ist er ein atypischer Bewohner von Vieux Ferrette: Seine Wiege stand (1953) in Riehen, genauer gesagt an der Schlossgasse, wo seine Eltern immer noch wohnen. Der Vater ist Lehrer, Sulzer selbst diplomierter Bibliothekar, doch schlägt er sich seit Jahren als freier Journalist und Rundfunkmitarbeiter durch, wohnt den grösseren Teil des Jahres in Westdeutschland und hat im vergangenen Herbst sein zweites Buch publiziert, die Erzählung «Bergelson», von der noch zu reden sein wird.

Aus seiner Heimatgemeinde Riehen hat Sulzer sich frühzeitig abgesetzt: Mit neunzehn ist er nach Basel gezogen, ein paar Jahre später hat er das Haus im Elsass erworben, seit 1978 lebt er in Deutschland, in Düsseldorf, Bremen, Köln, jetzt: Bochum - das hängt mit den wechselnden Engagements seines Lebenspartners zusammen.

«Im Grunde habe ich gar keine Ahnung mehr von der Schweiz.» Am liebsten würde Sulzer in Italien wohnen. Von den deutschen Städten spricht er ohne Begeisterung, räumt aber ein, dass der Aufenthalt dort seiner sprachlichen Sicherheit zugute komme. Und das Elsass? «Nun, die Elsässer sind eben auch Franzosen, und das heisst: Sie lassen einen in Frieden.»

Die Indifferenz gegenüber dem Wohnort findet eine überraschende Entsprechung in einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Biographie: Sulzer vermag sich kaum an Jahreszahlen zu erinnern und muss schliesslich seine eigenen Lebensdaten im Klappentext seines Romans nachschauen. Nur eines weiss er sehr genau: «Wieder in Riehen zu wohnen wäre für mich ein Alptraum.»

Dies dürfte freilich weniger damit zusammenhängen, dass «hier alles Schöne kaputtgemacht worden ist - besonders im Dorfkern» - Vieux Ferrette ist ja auch kein Bilderbuchdorf. Eher scheinen es Kindheitserinnerungen zu sein, die Sulzers Verhältnis zur alten Heimat getrübt haben: Von «Zolaschen Zwistigkeiten» in der väterlichen Familie ist die Rede, vom Gefühl der Isolierung (Mutter Sulzer ist eine «Welsche» und überdies Katholikin) und von traumatischen Schulerfahrungen: «Normalerweise werden Gebäude kleiner, wenn man sie als Erwachsener wiedersieht; das Schulhaus an der Burgstrasse erdrückt mich heute noch, wenn ich daran vorbeikomme.»

In seinem ersten Roman «Das Erwachsenengerüst» hat Alain Claude Sulzer sich mit seiner Riehener Vergangenheit auseinandergesetzt, freilich ohne den Namen des Dorfes zu nennen («Was ich am besten kenne, dem gebe ich keinen Namen.»). Der Ich-Erzähler dieses Buches reflektiert von seinem Elsässer Wohnsitz aus verschiedene Episodenkomplexe seiner Kindheit, wobei keineswegs die üblichen Themen (Elternhaus, Schule usw.) im Mittelpunkt stehen, sondern eher Menschen und Dinge, die man für gewöhnlich als peripher betrachtet: eine Tante, die ihr Leben im Dienst der Familie hingebracht hat; eine Kindergärtnerin, von der es einmal heisst: «Obwohl Fräulein Eiche bösartig ist, wirkt sie beim Hutabnehmen und Mantelausziehen rührend.» Ferner geht es um die «Anhimmelung» eines älteren und stärkeren Freundes, um die katholische Kirche, den Ballettunterricht am Stadttheater, einen hermetisch gegen die Aussenwelt abgeriegelten Herrensitz samt seinen rätselhaften Bewohnern. In dieses Gerüst, in diese Strukturen, Abhängigkeiten, Grausamkeiten, ist der Erzähler mittlerweile selbst hineingewachsen, und doch erlebt er es als zerbrechlich und gefährdet: Die Tante ist längst kindisch geworden. Die gemauerten Zeichen der Macht (Villa, Kirche) können einstürzen, wenn jenes Erdbeben kommt, von dem ein rätselhafter Freund (der «Erdbebenmensch») so lange phantasiert, bis er den Verstand verliert, infantile Verhaltensmuster entwickelt, stirbt. Und die Männerbeziehung zwischen dem Erzähler und einem gewissen Ulrich reproduziert letztlich nur die Frustrationen der kindlichen «Anhimmelung».

Vorangegangen waren dem «Erwachsenengerüst» zahlreiche Hörspiele - im ganzen hat Sulzer ein gutes Dutzend geschrieben, das erste bereits mit siebzehn Jahren. Als dann dem knapp Dreissigj ährigen ein erster Roman gelang, kam das einer «Befreiung» gleich: «Zum ersten Mal war ich imstande, <ich> zu sagen.»

Dem Leser des Buches teilt sich dieses Gefühl der Befreiung sehr deutlich mit, ja es macht vielleicht den hauptsächlichen Reiz des Romans aus, der auf den ersten Blick etwas chaotisch wirkt und einen dennoch nicht loslässt, da sich auf seinen 215 Seiten das sensible Sprachbewusstsein des nachdenklichen Büchermenschen mit der genauen Beobachtungsgabe des Journalisten paart - und mit der Spontaneität eines Mannes, der gewissermassen zwischen Jugend und Reife steht, der seine Vergangenheit produktiv zu verarbeiten sucht, ohne sich den Zwängen der Gesellschaft mehr als nötig zu unterwerfen.

Geschlossener, kunstvoller wirkt Alain Claude Sulzers zweites Buch, die Erzählung «Bergelson», in der es um einen alten Schauspieler geht, der weniger unter der Last seines körperlichen Zerfalls als unter dem Gewicht seiner mörderischen Biographie zusammenbricht und resigniert. Der Ich-Erzähler, der diesen Bergelson liebt oder doch sicher geliebt hat, beobachtet ihn vom Fenster seines Hotelzimmers aus; vielleicht versucht er, von seiner Bindung an den alten Mann loszukommen, doch gerät er dabei in einen neuen Gefühls-Clinch, nämlich mit dem Portier seines Hotels, der seinerseits Bergelson verehrt und Gedichte auf ihn schreibt. Im übrigen wird die Lebens- und Familiengeschichte des alten Schauspielers aus Notizen und Tonbandprotokollen rekonstruiert: Schon Bergelsons Mutter wollte zum Theater. Stattdessen aber muss sie einen ungeliebten und langweiligen Textilfabrikanten heiraten und erlebt fortan ihre einzigen Gefühlshöhepunkte, wenn sie Donizettis rührendes Grabmal im Dom zu Bergamo besuchen kann. Ihr Sohn, der eigentlich ein Mädchen hätte werden sollen, wächst in der morbiden Umgebung der langsam und theatralisch hinsterbenden Mutter auf und findet seine gefährdete Identität, indem er den häufig besoffenen Kutscher des Hauses zu ausschweifenden Liebesspielen verführt. Später entgeht er sehr knapp den Nachstellungen der österreichischen Nazis, die dem Homosexuellen ebenso wie dem Juden Bergelson gelten. Dafür darf der junge, elegante Schauspieler dann im englischen Exil Hühnerställe ausmisten, bis er endlich am Zürcher Theater unterkommt.

Einsamkeit ist das unausgesprochene Zentralthema der sorgsam komponierten Geschichte - Bergelsons Einsamkeit, aber auch die des Erzählers: «Fritz, sage ich, wo wärst du jetzt am liebsten?

In einer anderen Stadt, antwortet er.

Ich biege im letzten möglichen Augenblick zur Ausfahrt ab. [...] Ich war seit über einem Jahr nicht mehr in Basel, sagt er und lächelt. Lass uns an meiner alten Wohnung vorbeifahren, aussteigen brauchen wir nicht. Lass uns in unsere Stammkneipe gehen. Erinnerst du dich an die Wirtin, die immer betrunken war und sich darauf konzentrierte, Haltung zu bewahren? Lass uns Barbara besuchen. Lass uns einen Nachmittag lang so tun, als hätten wir uns eben erst kennengelernt.»

Auch Alain Claude Sulzer in seinem mit viel Geschick und bescheidenen Mitteln renovierten Elsässer Kleinbauernhäuschen - eine halbe Autostunde und eine leicht passierbare Grenze von seiner alten Heimat entfernt - wirkt einsam, verletzlich. Wir sitzen bei Kaffee und Gugelhopf im Garten, plaudern angeregt über Theaterereignisse und literarische Pläne, Katze Heinrich schnurrt uns um die Beine, von den Wiesen duftet das erste Heu herüber. Doch wenn er merkt, dass ich fotografieren will, schliesst der junge Schriftsteller fast zwanghaft die Augen. Ob ich nicht lieber die Glyzinie vor seinem Haus aufnehmen möchte? Er hätte gern ein Bild davon für einen Freund. Da ich keinen Farbfilm habe, muss ich ihn enttäuschen. Er zuckt die Achseln, wechselt das Thema, erklärt mir fachkundig, was da in seinem kleinen Gemüsegarten alles gedeiht...

Wenn wir uns zum Abschied die Hände reichen, blicken wir noch einmal hinunter aufs Dorf. Dunkle Dächer und der neogotische (oder neoromanische, so genau weiss ich das nicht mehr) Kirchturm ragen aus dem üppigen Frühjahrsgrün der Bäume.

«Kein grossartiger Anblick», meint Alain Claude Sulzer, als müsste er sich entschuldigen, «aber irgendwie stimmt das hier alles noch.» Wahrscheinlich hat er recht.

Von Alain Claude Sulzer sind im Münchner List Verlag erschienen: Das Erwachsenengerüst, Roman, 1983. - Bergelson, Erzählung, 1985.

 

Meine Tante auf der Strasse!

Schon von weitem erkenne ich meine Tante in der Strasse, wo früher meine Grossmutter lebte, in der Strasse, in der meine Tante geboren wurde. In dieser Strasse, dort, wo sie jetzt steht, stand früher ihr Elternhaus, das später das Elternhaus meines Vaters wurde. Wonach sucht sie? (...) Der alte Hof wurde in den sechziger Jahren abgerissen, das leere Grundstück, an das ich mich im Gegensatz zum Bauernhaus nicht erinnere, wurde betoniert, die Strasse davor erhielt eine dicke Asphaltschicht über der Kanalisation; jetzt stehen da die beiden Mietshäuser.

 

Die Erinnerungen an den Hof, auch meine, sind geblieben. Ihre sind stärker. Die Senilen haben ein Langzeitgedächtnis. Das geht aus den meisten Beobachtungen hervor. Vielleicht sieht sie jetzt, wo die davorsteht, das abgerissene Haus statt des neuen Hauses, als stünde es immer noch hier, als könnte man gleich hineingehen.

 

Sie will hineingehen, nachdem sie glaubt, angeklopft zu haben, sieht den Pferdestall rechts (ich sehe ihn auch), sieht Schwalben herausfliegen (ich sehe sie auch), sie fliegen auf sie zu (und auf mich), fliegen über ihren Kopf (und über meinen), und meine Tante denkt sich, es wird endlich Sommer, es ist schon wieder zum über achtzigsten Mal Sommer. Nein, es ist Herbst (denke ich).

 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1986

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